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Zwei Sektionen, die zur Freudschen Psychoanalyse führen, blieben bisher
offen: erstens die genauere Beachtung eines Vorbewußten, und zweitens
die Beziehung des formal wahrgenommenen Signifikationscodes zum affektiven
Bewußtsein. Zunächst spreche ich den ersten Zusammenhang an.
Überträgt man die bisherigen Ausführungen auf die Freudsche
Psychoanalyse, ist die temporäre Unbewußtheit des erläuterten
Signifikationscodes ins Vorbewußte der Kommunikation zu setzen, um
die Kompatibilität zu wahren. Konsequenterweise konzeptualisieren Individuuen
mitunter kritisch, daß sie hinsichtlich des kulturellen Codes eine
gewohnheitsmäßige Haltung einnehmen. Der kulturelle Signifikationscode
ist demzufolge keineswegs so überaus unbewußt, daß er bewußtseinsunfähig
wäre, weshalb ihm der exaktere Status eines Vorbewußten zugeschrieben
werden müßte. Gerade seine unablässige Repetition verführt
Individuen dazu, ihn in vorbewußter Erinnerungsspur zu habitualisieren.
Vorbewußt ist daher die visuelle Gewohnheit, die aufgrund des individuellen
Gedächtnisses dazu tendiert, in sensomotorischer Funktion sowohl zensierenden
Reizschutz als auch assoziative Wiedererkennungsmerkmale zu erzeugen [vgl.
Freud 1991/532; 1961/546; 1994/368; Roth 1994/125] Um aber die weitere Erläuterung,
die sich mit Empfindungen und Gefühlen befaßt, nicht unnötig
zu erschweren, halte ich mich an die binäre Differenzierung, die auch
Freud [vgl. 1994/291] bei jenem Thema anwendet, da das Konzept des Vorbewußten
bei Empfindungen keine Anwendung findet.
Zum Unbewußten ist noch zu sagen, daß Freund [vgl. 1994/135, 145]
den Kern des Unbewußten nicht als einen versteht, der zum Objekt des
Bewußten gemacht werden könnte, da dem Bewußten lediglich
die Vorstellungen und Affektzustände, die den Trieb repräsentieren,
zugänglich sind. Die Spekulation läge allerdings nahe, daß
Triebrepräsentanzen partiell aus dem kulturellen Code herrühren,
weil dieser vorrangig die formale Funktion innehat, dem Individuum seine
Wunschinhalte kommunikativ nahezulegen. Das artikulierte Begehren nach Lusterfüllung
geht nicht nur aus der Sprache des anderen hervor, wie Lacan [vgl. 1986/189ff.]
analysierte, sondern, wenn man die televisionären Massenmedien betrachtet,
ebenfalls aus dem kulturellen Code, der vorsprachlich, und dennoch emotional
bewußt, ikonische Objektrepräsentanzen als Oberflächenattribute
von z.B. Menschen als augenscheinliche Lustobjekte begehrenswert macht.
Symbolischem gelingt nämlich nicht die organisatorische Fernsynchronisation,
die optische Massenmedien modellieren, indem diese die appellative Anziehungskraft
von kulturellen Modeidealen als sinnlich nachahmbare Form vorahmen. Die
weiteren Passagen sprechen jedoch lediglich Affekte bezüglich der kulturellen
Codierung an, Triebenergien und den Drang nach Kommunikation setze ich dabei
unanalysiert voraus.
Die Unterscheidung zwischen Unbewußtem und Bewußtem setzte ich
bisher in Relation zum Kognitiven. Piagets Theorie bot dafür die theoretischen
Bezugspunkte. Diese ließen mit meinem Akzent auf Kultur und formale
Strukturen allerdings meist unberücksichtigt, welche Bedeutungen angesichts
von Bildern bewußt oder unbewußt aktualisiert werden. Wenn auch
die untrennbare Polarität von affektiven und kognitiven Funktionen
eine ist, die zwischen Fühlen und Denken kontrastiert, so korrelieren
trotzdem beide darin, daß sie sich durch Bedeutung im Bewußtsein
aktualisieren. Kognitives ohne Bedeutung ist ebensowenig denkbar, wie affektive
Regung ohne Bedeutung nicht bemerkbar ist. Das Besondere, was ich aufzeigen
möchte, ist, wie es Bilder bewirken, kognitiv weitgehend unbewußt
eine bewußtwerdende Emotion zu erwecken, die nicht den Umweg über
sprachliche Konzeptualisierungen nimmt, sondern präsentativ mit der
Bildwahrnehmung aufglimmt, sofern das institutionalisierte Medium seine
gedankliche Attraktion für Bewußtseinssysteme verliert. Es ist
also die vorkommunikative Bildstruktur gemeint, die Bewußtseinssysteme
emotional bindet, obwohl das Repräsentative des Bildes parallel dazu
zeitweise kognitiv unbewußt mitläuft. Warum müssen also
Bildbetrachter hinsichtlich Bildern nicht denken, wenn sie ihren ikonischen
Objektbezug emotional interpretieren, nachvollziehen oder "verstehen"?
Diese Frage betont den Unterschied zur begrifflichen Sprache, weil diese
ohne Denken ihren Objektbezug nicht preisgibt. Bilder und Emotionen sind
indessen in einem entscheidenden Ereignis gleichgesinnt: ihr sinnlicher
Auftakt erregt bewußtwerdende "Einsicht" vorbegrifflich.
Wie ist die Relation von affektivem Bewußtsein und Bildern genauer
aufzugreifen? Die aktuelle Diskussion um den epistemologischen Status von
Emotionen gibt nicht wesentlich mehr her, als bereits Freud beschrieb. Affekt-
und Gefühlsregungen scheinen Bedeutungsenergien zu sein, die vor Wortvorstellungen
das Bewußtsein affizieren, indem sie in diesem irreduzibel zur Präsenz
kommen [hierzu Freud 1994/291]. Sie gehen daher nicht in dem auf, was wir
von ihnen begrifflich beschreiben. Genausowenig wissen wir, warum sie sich
so ausformen, wie sie sich ausformen. Im Ergebnis scheinen sie jedoch relativ
bewußt, wenngleich ihr evozierender Mechanismus dem Individuum unbewußt
ist [hierzu Piaget 1976/64]. Unbewußt ist daher der Anfang emotionaler
Differenzen. Doch heißt bewußt nicht, wir könnten Gefühle
immer sprachlich formulieren, vielmehr bietet uns deren Erregung eine Orientierung,
die bei starken Affekten noch dazu sprachlos macht. Die Situation läuft
darauf hinaus, daß man mit Florey und dem heiligen Augustinus "fast
... versucht [ist], zu sagen: Gefühlsmäßig wissen wir,
was ein Gefühl ist", ... "wenn ich es aber jemandem erklären
möchte, dann weiß ich es nicht" [Florey 1994/93].
Diese Erklärungsschwierigkeiten eröffnen die eigentliche, soziologische
Problematik. Denn Gefühle verwirklichen zwar soziale Orientierung,
aber sie erhalten in unserer ratiozentrischen Verstandeswelt keine Geltung,
die innerhalb eines Kommunikationscodes als argumentatives Wissen generalisiert
oder als dauerhafter Bestand aufgezeichnet werden kann. Wenn nämlich
»Wissen« seine gesellschaftliche Geltung erlangt, indem es in
interpersonalen Kommunikationscodes eine allgemein nachvollziehbare Interpretation
erhält, dann bemerkt man schnell, daß interpretierende Gefühle
keiner Bedeutung entsprechen, die als interpretiertes Wissen in der Gesellschaft
allgemeingültig, d.h. argumentisch oder dicentisch, relevant wird.
Gefühle lassen die Anforderung einer interpersonalen Wissensgeltung
unerfüllt. In bezug auf die Kunst kommt Arnold Gehlen [vgl. 1986/14]
dann auch zur wissensverkürzten Festschreibung, das Wort "Emotion"
sei so leer, daß es niemals falsch oder falsifizierbar sein kann.
Welche Kunst ist aber falsifizierbar? Unzweifelhaft ist das Wort "Emotion"
nicht so leer, sondern nur so interpretativ offen oder eben rhematisch,
daß es für die Ausbildung eines präformierten Kunst- oder
Wissenssystems, aber nicht für Bilder und deren Betrachter insgesamt
ungenügend auftritt. Die zurückgewiesene Legitimation von privaten
Emotionen hat zwei Ursachen:
Erstens empfindet jedes Individuum Emotionen. Sobald ihm jedoch deren Formen
einer kultur- oder kunstgemäßen Darstellungscodierung zweiter
Ordnung unbekannt sind, stoßen seine emotionalen Expressionen schwerlich
auf anerkennendes Verständnis. Diese unkonventionellen Expressionen
werden dann oft als die unkultivierten Gefühle der Barbaren, Banausen,
Naiven, Narren, Verrückten oder der sonstigen von kulturellen Teilsystemen
Ausgeschlossenen beschrieben, deren unwissentliche oder gewollt lustvolle
Dispensierung die Weisung Adornos verpaßt: "Kunst existiert nur
innerhalb einer bereits entwickelten Kunstsprache ..." [Adorno
1973/524]. Mit gleicher Insistenz auf kulturellen Codierung, da uncodierte
Emotionen charakter-mangelndes "Ausspeien" [Dewey 1988/76] seien,
konkretisiert Dewey: "Gefühlsentladung ist eine notwendige, aber
keine hinreichende Bedingung für [kommunikativen und künstlerischen]
Ausdruck" [Dewey 1988/76].
Der zweite Geltungsmangel hat seine Ursache darin, daß ein Individuum
zwar seine subjektiven Gefühle mittels Zeichen externalisiert, so daß
andere von seinen Emotionen wissen, es aber die anderen nicht von seinen
Emotionen überzeugen kann, wenn sie diese nicht selbst kennenlernen
oder innenorientiert wahrnehmen. Oft fällt die Jugend sowie deren Musik-
und Bildkultur dieser mangelnden Überzeugungskraft zum Opfer, da ihr
heutzutage meist ein verständnisverlorenes Los gegenüber etablierten
Weltkonstruktionen beschieden ist. Wenn Individuen auch Emotionen externalisieren,
indem sie etwas mittels Bildern exemplifizieren, so können sie Emotionen
im Unterschied zum Wissen dennoch nicht internalisieren, sofern sie sie
nicht selbst innerlich erfahren. Deshalb ist es "unmöglich, Amusischen
zu erklären, was Kunst sei, die intellektuelle Einsicht könnten
sie nicht in ihre lebendige Erfahrung einbringen" [Adorno 1973/183].
Diese beiden Ursachen verdeutlichen, warum Emotionen sich mit erlebten Bedeutungswirkungen
aktualisieren, die in erster Ordnung mit der kognitiven Wahrnehmung von
etwas zeitlich zusammenfließen, und die erst später in zweiter,
kommunikativer Ordnung formuliert werden, wenn sie denn kulturell formuliert
werden können. Allerdings kann man sich in kommunikativer Ordnung nicht
mehr selbst von den Gefühlen eines anderen sinnlich überzeugen,
man erlebt dessen Gefühle nicht telepathisch mit, weshalb man ihm glauben
muß, daß er das fühlt, was er zu fühlen meint. Auf
Luhmanns [vgl. 1992/122-147] krasse, doch zutreffende Wissensdefinition
bezogen, nach der nur soziale Kommunikation etwas wissen kann, aber nicht
erlebende Individuen, heißt dies: (visuelle) Kommunikation kann zwar
etwas über Gefühle wissen, aber sie überzeugt erst dann,
wenn ihr die Reduktion auf allgemeines Erleben von Individuen glückt.
Gelingt ihr die Reduktion auf affektives Erleben jedoch, dann widerspricht
dies wiederum dem Wissensbegriff, der auch in dieser Arbeit [s.S. 138, 191]
darauf angelegt ist, daß die Neutralisierung des Eigenbeitrags von
psychischen Systemen möglich sein müsse, damit sich prinzipiell
jeder von der Wissensgeltung wiederholbar überzeugen kann. Wahrheitsfähiges
Wissen erhält deshalb - in unserer Gesellschaft - seine interpersonale
Geltung, sobald sich zumindest einige nach kognitiven Wahrnehmungen und
Denkvorgängen vergewissern, ob das Behauptete plausibel anmutet, also
zumindest als Dicent interpretiert werden kann.
Die Anonymisierung von subjektiven Eigenbeiträgen machen jedoch allenfalls
»idealisierte« Bewußtseinsvorgänge mit, die gemeinhin
als kognitiv attributiert und im Handeln bzw. kommunikativen Handeln als
Wissen generalisiert werden. Subjektives Erleben findet deshalb keine Geltung
als Wissen. Denn es korrespondiert mit einer innenorientierten Bedeutungsgebung,
die verallgemeinerter Kommunikation, welche auf Außenorientierung
und Verstand angelegt ist, als diffuse, da private Umweltvoraussetzung vorkommt.
Der Wissensbegriff, der auf generalisierte und anonymisierte Plausibilität
setzt, bröckelt folglich genau an der Stelle ab, wo sich das unentbehrliche
Konstituens von Bildern aufbaut, nämlich im privaten Erlebnis von subjektiv
motivierten Eigenbeiträgen. Diese wissensunterlaufende Intrige spielen
Bilder nicht aus, indem sie ein Gefühl in symbolischen und intellektuellen
Begriffen zu beschreiben oder als Wissen zu kommunizieren suchen. Sie unterlaufen
symbolisches Wissen, indem sie ikonisch dramatisierte Thematisierungsformen
tragen, die das Gefühl im Erlebnis einer anwesenden Umwelt direkt erzeugen,
allerdings nur, sofern Bildner auf die Gegenstandsbedeutung und den kognitiv
unbewußten Signifikationscode der Kultur setzen [hierzu Dewey 1988/82].
Die vermeintliche Paradoxie einer "sprachlosen Sprache" brauchen
Bilder nicht zu fürchten, sie ist eine, welche von unverstandener Sprache
und nicht von Bildern spricht. Ikonisches Wissen zeigt sich mit sprachloser
Nichtsprache, die sich selbst im Bild als anwesende Umweltvoraussetzung
eines Nichtwissens gefühlsmäßig erlebbar machen kann. Mit
emotionalen Bedeutungskriterien immunisieren sich Bildbetrachter deshalb
nicht gegen die kognitive Wahrnehmung von ikonischem Wissen, sondern gegen
die Kommunikation eines sozial kontrollierbaren, "objektiven"
bzw. symbolischen Wissens und dessen "allgemeinem", sprachbezogenen
Bedeutungsanspruch.
Die emotionalisierende Intensität des ikonischen Wissens entfaltet
zwei Tendenzen: einerseits erweckt es bei besonderer Dramatik ein Interesse,
das die emotionalisierte Öffentlichkeit manchmal dorthin lenkt, wo
sich symbolisch verallgemeinertes Wissen anbahnen soll. Und andererseits
bewirkt es, daß die Öffentlichkeit sich in emotionaler Orientierung
privatisiert, sofern jedes Individuum es vorzieht, in der Reduktion auf
subjektives Erleben seiner eigenen Alltagsrationalität zu entfliehen,
zeitweise die Reflexion einzustellen und mundvolles Schweigen herauszukehren.
Denn "der peinliche Mythos von der Isoliertheit der ästhetischen
Erfahrung kann [ausschließlich dort] zum alten Eisen geworfen werden"
[Goodman 1973/261], wo ihm kulturelle Kognition demonstriert, daß
visuell kommunikative Abduktion der Kulturmitglieder überwiegend monosemantisch
erwartbar ist. Wer will aber meinen, Emotionen wären derart an kognitiven
Bedeutungsstrategien beteiligt, daß sie zur monoteleologischen Handlungsmacht
ausflocken, um eine symbolisch dominante Bedeutung als generalisierbares
Wissen durchzupeitschen? Emotionen immunisieren sich gegen solche entprivatisierenden
Machtansprüche, die dem Individuum den privilegierten Zugang zu seinen
unübertragbaren Emotionen und ästhetischen Erfahrungen versperren
wollen.
Aus dem Versuch mancher, den Wissensbegriff von emotionalen Eigenbeiträgen
des Subjekts freizuhalten - was die Bedeutung von ikonischem Wissen
umfangreicher als die von anderem Wissen ausdünnt - ergibt sich
ein weiteres Problem. Denn außenorientierte Kommunikation ist ohne
subjektive Innenorientierung genauso schwer zu erreichen, wie kognitives
ohne affektives Bewußtsein zu verwirklichen ist. Bilder, ikonisches
und anderes Wissen ließen einen erkalten, sobald man damit auskäme,
es rein kognitiv zu beobachten, um es zu verstehen; vermutlich vergäße
man Wissen ohne irgendein bindendes Gefühl wie Lust, Neugier, Angst,
Ärger usw. sofort wieder, wie Roth [vgl. 1994/125] bemerkt. Er, Ciompi
[vgl. 1992/398] und sogar Goodman [vgl. 1973/249] weisen darauf hin, daß
kognitive Prozesse, d.h. Wahrnehmung, Erkennen, Denken, Handlungsplanungen,
ohne emotionale Prozesse unmöglich sind; denn jene bilden mit diesen
eine untrennbare Konföderation, die alle Erkenntnis- und Aufmerksamkeitsweisen
in unterschiedlichen Bewertungsskalen begleitet.
Jede kommunikative Vermittlung von Wissen, sei es ikonisches, indexikalisches
oder symbolisches, evoziert Emotionen. Diese müssen im kommunikativen
Beziehungsaspekt der subjektiven Bedeutungsorientierung bewußt oder
unbewußt wahrgenommen werden, damit Kommunikation, wie gemeint, in
"richtiger" Beziehung "verstanden" werden kann. Verlöre
ein Individuum seine Innenorientierung an Emotionen und Affekten, verschwände
ihm das Erleben, was in Beziehung zu seinem Subjekt-Sein und seinem Körper
an affektiven Relevanzen erweckt wird. Es müßte diese Beziehung
ausschließlich von außen aufnehmen, sich also quasi als black
box im ("kognitiv") kommunikativen Hohlspiegel konstruieren, ohne
innere, private Erlebnisse zu empfinden. Allerdings ist Meads [vgl. 1988/270]
Hinweis zu beachten, daß ein Individuum seine privaten und subjektiven
Gefühlsorientierungen nicht zu sich in Beziehung setzen könnte,
sich also nicht zum "Objekt" seiner Konzeptualisierungen machen
würde, wäre es vom "konkaven Hohlspiegel" (112) der Kommunikation
isoliert. Wäre es aber umgekehrt von allen inneren, emotionalen Erfahrungen
getrennt, könnte es ebensowenig sich selbst und die anderen so verstehen,
wie die anderen, die innenorientiert sind, sich in ihren subjektiven Beziehungen
verstehen. Ohne selbst ein Mensch zu sein, wird man nicht erfahren können,
wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein.
An diesem inneren Abgrund der Emotionen, der unausleuchtbar scheint, sehen
die "intelligenten" Computer und die sonstigen lustlosen black
boxes [s.S. 63 Fußn. 20] schwarz, solange sie den "blinden
Fleck in Luhmanns Systemtheorie" [vgl. Schulte 1993/99ff.] nachahmen,
indem sie die subjektive und affektive Introspektion für intern isolierte
Problemlagen halten und daher annehmen, daß Kommunikation und kognitives
Verstehen auf eine unvermischte (konföderationslose) Extrospektion
reduzierbar wäre. Für diese black boxes wären soziale Systeme
nur eine Folge von soziohormonalen Lockstoffen, wie sie beispielsweise Insekten
nach außen abgeben. Infolge menschlicher Innenorientierung partizipieren
Bilder jedoch am Begriff des "dramaturgischen Handelns". Mit diesem
Begriff beschreibt Habermas [vgl. 1988a/135ff.], wie ein Akteur ["Aktor"]
seine innenweltliche Subjektivität so in der Außenwelt zur expressiven
Äußerung formiert, daß diese anderen indiziert, wie ihm
wiederum etwas subjektiv Emotionales zugerechnet werden kann. Die internen
korrelieren deshalb mit den externen Problemlagen der visuellen Kommunikation,
wie sich am Schluß dieser Arbeit zeigen wird.
Jenes Außen und Innen in den Überlegungen zu verbinden, wirft
zwar mehr Fragen als Antworten auf, aber was die Konsequenzen anbelangt,
wird wohl kaum ein Bildbetrachter abstreiten wollen, daß er neben
dem, was er kognitiv wahrnimmt, ebenfalls Emotionen bemerkt, die ihn aus
manchmal unerfindlichen Gründen anrühren. Solche Emotionen sind
privat. Sie lassen sich durch keine öffentliche Sprache oder Institution
in der Weise sozialisieren, daß konventionell dirigierbar wäre,
wann, wie und welche Emotionen zur pragmatischen Bedeutung, d.h. Erlebnisverwirklichung,
bei einem Individuum kommen sollen. Emotionen sind zwar öffentlich
kommunizierbar, dies heißt aber nicht, daß die Zeichen, die
ihre Vorhandenheit anzeigen, auch so nachvollzogen werden, wie sie subjektiv
motiviert sind. Beispielsweise versteht man selten, warum sich zwei Personen
lieben, obwohl man von ihrem Präferenzcode, der Liebe anzeigt, weiß.
Der Begriff der Liebe versteht die Liebe nicht.
Im Gegensatz zu äußeren, optischen Ereignissen, die in Bildern
ikonisch und damit kognitiv wahrnehmbar codiert werden, verhindert die innere
Erlebnishaftigkeit von Emotionen direkte, dem Ereignis ähnliche, Darstellbarkeit.
Dies begründet sich damit, daß kognitive Wahrnehmbarkeit von
Bildern den kulturellen Signifikationscode betrifft, beispielsweise die
Codierung von Liebe, während emotionale Erlebnisse eine individuelle
Bedeutungsaktualisierung (Pragmatik) einbeziehen. Unter Auslassung der Bedeutung
ließe sich dies auf die vereinfachte Formel bringen: "Die Außenwelt
ist schon optisch differenziert, die Emotion nicht" [Gehlen 1986/149].
Folglich benötigt der Beobachter neben kognitiven Fähigkeiten
der Außenwahrnehmung ebenso Erfahrungen mit seinen Emotionen, damit
er gemeinte Regungen sowohl projektiv als auch stimulativ involviert deuten
kann. Ohne ein Training von Gefühlsdifferenzierungen, mit denen er
die ihm dargebotenen Kulturcodierungen affiziert, werden ihm Bilder ausschließlich
eine kognitiv äußere Wahrnehmungserfahrung, aber kein inneres
Erlebnis sein können, das ihm die dramatisierte Bandbreite emotionaler
Orientierung verständlich macht. Wissen kann er zwar etwas von syntaktisch-semantischen
Kulturcodes und deren pragmatischen Bedeutungsaspekten, sobald ihm jedoch
innenorientierte Erlebnisse unbekannt bleiben, wird er sein Wissen nicht
zu dem Kennen parallelisieren können, dem ein Bild seine ganze Bedeutung
in den Augen des Produzenten verdankt. Es bedarf deshalb der "Klebrigkeit
der Libido" [Fetscher 1985/702], die aus der innerlichen, emotionalen
Unsagbarkeit aufglimmt, um eine erste, emotionale "Richtung der kognitiven
Bewegung" [Fetscher 1985/702] vorzugeben. Die Emotionalität bindet
kognitiv gewonnene Strukturelemente, so denn welche konstruiert werden,
auf einem minimalen Niveau, auf dem Bedeutungsaktualisierungen eine private
Richtung nehmen, die im interpersonalen Konsens selten allgemein verfolgbar,
geschweige denn voraussagbar wäre. Welche Strukturelemente bindet aber
Emotionalität an sich?
Ohne Frage besetzt Emotionalität in bezug auf Bilder kognitive Strukturelemente,
die sich sowohl an kulturell allgemeinen als auch an individuellen Signifikationsstilen
ausformen. Emotionen sind daher selten ohne kognitive Differenzierung zu
haben, vielmehr färben sie die kognitive Erfahrung in subjektive Bedeutungen
ein. Abgesehen von Sonderfällen, "... sind Gefühle [daher]
in ihrem Ausdruck an [kognitiv wahrgenommene] Vorgänge und Objekte
gebunden" [Dewey 1988/54]. An welche Vorgänge und Objekte können
sie jedoch andocken? Doch wohl nur an denen, die sich in kognitiver Wahrnehmung
ereignen. Was ereignet sich aber? Doch wohl hinsichtlich Bildern das, was
der zweifache Sinn der Form zu einer Legierung amalgamiert, die ikonisch
indiziert, wie sich individuell oder kulturell etwas anderes als das Präsente
eignen kann. Zunächst zum kulturellen Ereignis, das Individuen hinsichtlich
Bildern kognitiv akkommodieren und möglicherweise mit bewußten
und unbewußten Affekten besetzen.
Davon ausgegangen, Bildbetrachtern ist es ermöglicht, den kulturellen
Darstellungsstil eines Bildes kognitiv unbewußt wahrzunehmen, um sich
auf den ikonischen Objektbezug zu konzentrieren, kann daraus folgen, daß
regelhaft wiederholte Kulturformen kaum bewußtwerdende Affekte erwecken
und von einmütiger Sympathie begleitet werden. Zu dieser Schlußfolgerung
neigt zumindest Richard Kuhns, wenn er schreibt: "Kultur ist eine Tradition
von verpflichtenden Darstellungen", da diese "... eine affektive
Macht besitzen und auslösen, auf die ein in die jeweilige Tradition
eingeübtes Publikum mit großer Sympathie reagiert" [Kuhns
1986/68]. Kuhns [vgl. 1982/191] verweist allerdings darauf, daß Freud
seine psychoanalytische Kunsttheorie auf die symbolischen Inhalte einschränkte,
mit denen er sich in der Traumanalyse beschäftigte. Die formalen Aspekte
der Kultur ließ Freud dabei unberücksichtigt. Jedoch verlaufen,
wenn überhaupt etwas kulturell allgemein hinsichtlich ikonischen Bildern
mit Affekten besetzt wird, hauptsächlich formale Aspekte kulturell
konvergent, da diese im Darstellungscode den kommunikativen Beziehungsaspekt
emotional festigen. Im Ikon entziehen sich Bilder deshalb der affektiven
Macht einer kulturell verpflichtenden Darstellung, wie ich zunächst
begründen möchte.
Ikonische Objektbesetzungen facettieren sich in individuierten Motiven und
diversen Affektausrichtungen, weshalb es unmöglich ist, ihnen in den
dearbitrarisierenden Bildern kollektiv unbewußte Merkmale nachzusagen.
Dies liegt nicht nur daran, daß Affekte kaum sprach-symbolische Orientierung
in Bildern finden, sondern vor allem daran, daß Bilder trotz ihres
symbolischen Charakters ikonisch ein emotionales Erlebnis verwirklichen,
das kaum einer erwartbaren Regelhaftigkeit oder Konvention nachkommt. Die
verallgemeinernde Bezugscodierung Sprache versinkt deshalb in Bodenlosigkeit,
wenn sie Emotionen aus deren subjektiven Tiefe heben möchte. Denn tausend
Bilder eines Apfels beschreiben nicht den gleichen symbolischen Apfel, sondern
tausend verschiedene, kommunikative Formulierungen über ihn, die von
einem sensiblen Bildner problemlos in emotionaler und ästhetischer
Resonanz differenziert werden. Die affektiven Besetzungen, die hinsichtlich
ikonischer Objektbezüge erfahren werden, sind von der kulturell allgemeinen
und symbolischen Sozialisation eines Individuums her überaus unbestimmt.
Deshalb stellen die Individualbilder, wie sie z.B. in Fotoalben vom Urlaub
gesammelt werden, subjektiv erlebter Geschichte einen Freibrief aus, mit
dem anonyme Symbolisierungen gesellschaftlicher Sprache niemals signifikant
- im Sinne Meads - gleichziehen. Denn öffentliche Symbole,
deren Verfasser meist anonym bleiben, erlangen selten die Zeitsensibilität
und Eigenständigkeit, über die ikonische Bilder verfügen.
In ikonischen Bildern dokumentieren nämlich Individuen affektiv die
emotionale Drift ihrer eigenen Lebensgeschichte, die sie keineswegs nur
symbolisch besetzen - was den großen Erfolg von Videokameras
und Fotoapparaten verstehen hilft. Die Metapsychologie, welche von allgemein
symbolischen Regeln bei affektiven Besetzungen ausging, ist infolgedessen
gescheitert, wie Habermas [vgl. 1973/322f.] begründet. Er stellt sogar
für die symbolisch orientierte Psychoanalyse fest, daß sich ad
hoc ein interner Symbolgebrauch zwischen Patient und Analytiker konstituiert.
Dem vergleichbar kann der Betrachter von Bildern ebenfalls die ikonische
Bewegkraft "vor-sprachlich privat", aber emotional bewußt
nachvollziehen, sobald er seine subjektiven Emotionen auf ikonische Ereignisse
projiziert, die entweder er oder andere individuell konzeptualisiert haben.
Gilt dies jedoch gleichfalls für den formalen Aspekt der Kultur, d.h.
für den kulturellen Darstellungscode?
Sobald man mit Kuhns von "kulturell verpflichtenden Darstellungen"
ausgeht, die eine "hochgradige Besetzung auf bestimmte Objekte"
[Kuhns 1986/72] konzentrieren, muß der Aspekt betrachtet werden, den
Bilder mit einer gewissen Konstanz replizieren. Eine solche Regelmäßigkeit
ist hauptsächlich im kulturellen Beziehungsaspekt der Kommunikation
zu erkennen. Selbstverständlich sind in Bildern symbolische Besetzungen
anzutreffen, die aus einer kulturellen Tradition herrühren. Das spezifisch
Bildhafte ist jedoch nicht die symbolische Tradition, sondern die ikonische
Reformulierung dieser in immer wieder neuen, ungesehenen Objektbezügen
des Ikons. Denn deren innovative Reformulierungen evozieren emotionale Bewertungskriterien,
die offen und sozial undeterminiert sind, obwohl die Symboltradition gewahrt
bleiben kann. Im Ikon widersprechen Bilder deshalb gewollt erwartbaren Übereinkünften,
um subjektiven Präferenzen eines Bildners den vorkommunikativen Raum
zu geben, den Interessierte kommunikativ auszufüllen haben. Ganz im
Gegenteil dazu knüpfen Legizeichen einen erwartbaren Beziehungsaspekt,
der jenem individuierten Ausdrucksakt als kulturell anschlußfähigen
Rahmen und Kontext genügt. Eine zum Kontext relational verpflichtende
Darstellung wäre darin zu erkennen, wenn individuell kreierte Ikons
sich in immer wieder vergleichbarer Beziehung an ihre Kulturmitglieder wenden.
Eine solche Beziehung evoziert vorwiegend die kulturelle Syntaktik des Darstellungscodes,
deren emotionalisierende Vertrautheit überwiegend dann abbricht, wenn
Verfremdungen am integrativ Gewohnten rütteln. Emotionalisierende Vertrautheit,
der sich das kurzweilige »Was« des Ikons als Medium bedient,
knüpft sich daran, wie das Bild etwas stilistisch darstellt. Für
die vokale Geste hat Mead [vgl. 1988/190f.] festgestellt, daß sie
im Tonfall emotionale Situationen begleitet, die zu unbewußten Sympathiegefühlen
führen können. Und dem vergleichbar bewirkt die bildnerische Geste
eine Emotionalität, die im kommunikativen Beziehungsaspekt kulturell
und subkulturell zur ausdifferenzierten Geltung kommt. Von einer »kulturell
verpflichtenden Darstellung«, die unbewußt verwendet wird, ist
demzufolge zu sprechen, wenn emotionale Differenzierungskriterien unbewußt
auf kulturelle Integration zielen. Individuen verstehen sich insofern kulturell,
aber nicht notwendigerweise sozial in ihren emotionalen Beziehungen, wenn
sie ihre Wirklichkeit in verwandten Stilisierungen thematisieren, um ihrem
Bedürfnis nach kultureller Integration und sozialer Individualität
gleichermaßen nachzukommen, obgleich letzteres Anliegen derzeit Bild
für Bild in soziale Isolation abrutscht.
Allerdings laufen emotionale, rein kulturell begründete Beziehungen
auf einem riskanten Niveau. Der kulturelle Stil gibt zwar Identifikationsmöglichkeiten
vor, aber einzusehen ist, daß es (z.B. bei Moden, Avantgardismus)
abrupt umstritten sein kann, "... was genau durch die Anerkennung
konstanter Stilmuster kommuniziert wird" [Kuhns 1986/89]. Als emotionale
Identifikation ließe sich beispielsweise die kulturelle Wertvorstellung
beschreiben, der Realitätskonstruktionen allein im zentralperspektivischen
Stil gefällt, oder der Realitätskonstruktionen im malerischen
Stil der "jungen Wilden" in den 80er Jahren besonders nahe geht.
Solche Identifikationen konterkariert heutzutage deutlichst die Musikvideokultur.
Deren dringlichstes Anliegen läuft darauf hinaus, eine emotionsmotivierte
Beziehung bei ihren Betrachtern zu erwecken, indem sie herkömmliche
Stilmuster dekomponiert oder neu komponiert, um emotionale Abgrenzung zum
Vergangenen herzustellen und selbstkreierte Identitätskonstruktionen
als immer wieder letzten Schrei anzubieten. Wie mit dem emotionsmotivierten
Sinnkonsens [s.S. 186] beschrieben, bieten einzelne Stile kaum verpflichtende,
sondern eher vage Zugehörigkeitsverhältnisse an, die am bildlichen
Katalysator getestet werden. So gewendet sind Beobachter, je nach kultureller
Imprägnation, ein Lackmuspapier, das die emotionale Intensität
von Bildern in den subjektiven "Farbsymptomen" bestenfalls derart
anzeigt, daß man bei der Unterstellung von gleichen Ausgangsvoraussetzungen
auf sinnverwandte Emotionalität rückschließen kann.
Der kulturelle Darstellungscode übt nicht die unwiderstehliche Macht
aus, die emotionale Pragmatiken gegenüber dem kulturellen Code in ein
gemeinsames "Zwischen", ein "Inter" der Subjektivität
manövrieren kann, weil ein emotional deutender und subjektiver Perspektivenaustausch (113)
in die Position des anderen unmöglich ist. Eine universale Ästhetisierung,
der "perfektionierte" Schönheit als kollektiv identische
Anschlußbedingung gelten soll, ist somit trotz aller medientheoretischen
Befürchtungen und Schönfärbereien unwahrscheinlich. Die unmögliche
Substitution von subjektiven Perspektiven verhindert, daß affektive
und emotionale Bewertungsstrategien jemals als kollektiv erwartbare Bewußtseinsstrukturen
existieren, die kulturelle Darstellungsstrukturen mit wiederkehrend konformer
Subjektivität nachvollziehen. Demgegenüber ist jedoch bei großer
Nähe der Lebensbereiche und -zeiten zumindest die Chance gegeben, daß
emotionale Differenzierungskriterien in einer Erwartungsstruktur verlaufen,
die Kommunikationspartner vor allem im unbefragten Beziehungsaspekt als
subjektiven Konsens empfinden, sobald sie sinnverwandte Darstellungscodes
unbewußt bzw. bewußt zur Mitteilung verwenden oder einfach nur
zeitgemäß schön finden. Solange Emotionen aber kein generalisierbares
Wissen repräsentieren, und dazu können sie sich nicht entwickeln,
wird ihnen Kultur und deren Ästhetisierung lediglich ein anschlußfähiges
Ausdrucksmittel sein, das subjektive Beziehungen knüpft, in die sich
Außenstehende mit ihren Eigenbeiträgen ausschließlich in
einer Approximationshoffnung einfühlen können. Der rasende Kulturwandel,
insbesondere bei künstlerischen Bildern unseres Jahrhunderts, schmälert
allerdings die Aussicht auf einen bedeutungsverwandten Eigenbeitrag erheblich,
was die Codierung von emotionaler Soziabilität hemmt. Eine solche Behauptung
ist zwar kulturgemäß nicht verifizierbar, doch antiquieren subkulturelle
Darstellungscodes schneller, als daß sie sich in emotionalen Bedeutungsverwandtschaften
langfristig institutionalisieren [hierzu Lincke 1981/137].
----Fußnoten----
(112) Der konkave Hohlspiegel, der infolge der Krümmung sein Objekt
an lügnerischer Stelle vortäuscht, spielt auf das von Lacan
[vgl. 1991/63ff.; 1986/194] benannte Spiegelstadium an, in dem sich das
Ich vom symbolischen Ort des andern zu sehen meint.
(113) Selbst Mead [vgl. 1969/145; 1988/191] nimmt trotz kognitiver Wahrnehmungsperspektiven
des generalisierten Anderen an, daß der emotionale Teil unseres
Handelns nicht notwendigerweise in uns die gleichen Gefühle auslöst
wie bei jemand anderem. Vielmehr dominiert für ihn ein ästhetischer
Wert von Bildern darin, daß diese eine Fluchtchance vom Sozialen
bieten, um die emotionale Isolation und Privatheit des Menschen in der
Gesellschaft wenigstens zu markieren, "... weil die Organisation
des gesellschaftlichen Lebens unvollkommen ist" [Mead 1980/359].
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Die folgende Erörterung erfolgt aus drei Gründen. Der erste besteht
darin, daß Goodman [vgl. 1973/16ff.] und Scholz [vgl. 1991/155] Kunsttheoretikern
empfehlen, Mimesis als symbolische Darstellung zu übersetzen. Parallel
dazu wollen sie auf semantische Überschneidungen von Mimesis und Ähnlichkeit
verzichten, obwohl gerade gut vertraute Darstellungscodes eine Welt so feinsinnig
vorspielen, als ob diese irgendeiner divinatorischen Welt ähnlich sei.
Vom Hier und Jetzt gefangengenommen, berufen sie sich auf faktische bzw.
objektivistische Falsifizierbarkeit einer Punkt-für-Punkt-Korrelation
zwischen Bild und abwesendem Gegenstand, um individuierter Schöpfungskraft
den "utopischen" Kurs zu blockieren, auf dem ihr mögliche
Formen eine Ähnlichkeit mit möglichen Objekten zu haben scheinen.
Doch ohne Ähnlichkeit, und das ist der zweite Grund, verlöre Mimesis
die Eigenschaft der Nach- und Vorahmung, mit der sie anwesende Bildumwelten
gleichzeitig präsentativ und repräsentativ vorspielt. Ein Bild
hat man nie und nimmer verstanden, wie Scholz [vgl. 1991/132] meint, wenn
ihm einzig als symbolisches Zeichen Sinn zukommt. Das ikonisch Ähnliche,
welches Ähnliches erzeugt, ist als unsinnliches Zeichen nicht zu verspüren,
es muß direkt in Begleitung einer Gegenstandsbedeutung visuell erlebt
werden, um "verstanden" zu werden. Ausnahmsloses Symbol-Verstehen
kokettiert deshalb stets mit ungleichwertigem Wissen gegenüber regressivem
Erleben. Denn dieses Verstehen sucht das mimetische Erleben zu liquidieren,
da es ihr andernfalls in Bereiche desertiert, die den symbolischen Zeichen
unzugänglich sind [vgl. Adorno 1973/190]. Der dritte Leitgedanke für
diesen Exkurs hat zum Inhalt, daß bildliche Mimesis visuell kommunikative
Verbindungen zwischen Personen derart evoziert, daß indexikalische
und symbolische Kontextbezüge vernachlässigbar werden. Andererseits
ist die de-arbitrarisierende Wirkung von Mimesis aber erst sozial-kommunikativ,
wenn Aufmerksamkeit hinsichtlich (bildlicher) Ähnlichkeit von Bedeutungskriterien
gelenkt wird, die aus indexikalischen und überwiegend verbal-symbolischen
Kommunikationscodes herrühren. Eine Person interpretiert deshalb erst
dasjenige als Zeichen, was sie in Verhaltensweisen und Begriffen zu einer
thematisierbaren Zeichenbedeutung bringen kann. Das Unthematisierbare entschwindet
indessen im emotionalen Überhang, der sich in seiner erlebten Wirkung
von allen sozialen Normerwartungen dispensieren kann.
Um den kurzen Problemaufriß für Bilder zu spezifizieren, ist
zunächst Mimesis zu konkretisieren. Deren historische Rekonstruktion
entfaltet ein Bedeutungsspektrum, das mit folgenden Bezeichnungen aufwartet:
"... sich ähnlich machen, zur Darstellung bringen, ausdrücken;
aber auch: Mimikry, imitatio, Repräsentation, unsinnliche Ähnlichkeit"
[Gebauer u. Wulf 1992/9]. Um Bilder zu untersuchen, reicht es aus, den Begriff
der Mimesis auf Nach- bzw. Vorahmung einer Ähnlichkeit einzugrenzen,
die das partiell unähnliche Bildzeichen inszeniert. Wie an anderer
Stelle [s.S. 178] dargelegt, ist Ähnlichkeitsbezug die mögliche
Wirkung eines kulturellen Kommunikationscodes, der Mimesis, also Nachahmung,
von optischen Informationen eines potentiellen Gegenstandes bewirken kann.
Symbole und Indizes verwirklichen keine optischen Informationen, die selbst
schon die mitgeteilte Nachricht sowohl präsentieren als auch repräsentieren.
Das Kommunikationsprinzip von Mimesis involviert, daß es seine sinnliche
Gegenwart als eine Nachricht erfahren haben möchte, die in erster Ordnung
wahrgenommen und erst in zweiter Ordnung als Zeichen einer Ähnlichkeit
zu etwas anderem verstanden wird. Ähnlichkeit als Bezeichnung ist also
eine mögliche, eine kreative Konsequenz von Mimesis, sobald diese als
solche auffällt. Zwar kennt auch die tierische Interaktion Mimikry,
jedoch liegt die enorme Steigerung menschlich kreierter Mimesis darin, daß
sie Nichtanwesendes als ein Anwesendes thematisiert, welches sich per Ähnlichkeit
auf Zeithorizonte der Zukunft und Vergangenheit erstrecken kann. Dies begründet
sich im folgenden. Noch hinzuzufügen ist, daß sowohl Platon als
auch Adorno mimetische Ähnlichkeit nicht nur auf den sichtbaren Bereich
bezogen.
Um die Anschaulichkeit zu stärken, arbeitet folgende Problematisierung
mit zwei Synonymen, deren unzulängliche Übereinstimmung wohlwollend
zu betrachten ist. Und zwar möchte ich die Existenz von Frau Norma
Jeane Baker als Synonym für Wirklichkeit [Zweitheit] verstanden wissen,
während ich ihre Marilyn-Monroe-Schauspielrolle als Synonym für
Bildumwelt [s.S. 246ff.] verwende, der sowohl Gegenstands- als auch
Zeichenbedeutung zukommt, die also sowohl Zweit- als auch Drittheit impliziert.
Die Synonymie ist selbstverständlich unzulänglich, da die private
Norma Jean Baker und die öffentlich bekannte Schauspielerin Marilyn
Monroe in einer Verkörperung existierten, wenngleich die Wirklichkeit
der Umwelt keinesfalls mit der Wirklichkeit der Bildumwelt in einer Verkörperung
existiert, sondern dies allenfalls manchmal simuliert. Mir kommt es darauf
an, daß Marilyn und Bildumwelt sowohl Zeichen- als auch Gegenstandsbedeutung
zukommen, demgegenüber Norma und erfahrene Wirklichkeit ohne kommunikativen
Zeichenstatus ausschließlich auf Wahrnehmung erster Ordnung basieren
sollen, also ausschließlich als Gegenstandsbedeutung erlebt werden.
Für die zweimal zu lesende Problematisierung stelle man sich vor, wir
würden Marilyn Monroe [Bildumwelt] persönlich kennenlernen, wüßten
allerdings nicht, daß sie Frau Norma Jeane Baker [eine Wirklichkeit]
(114) zum Spaß pausenlos nachahmt. Wir würden Marilyn [Bildumwelt]
zwar am Auftreten und Gesicht wiedererkennen [s.S. 148], wir würden
also unsere visuellen Schemata als Index für die Identität jener
Person [Existenz] nehmen, aber ohne Kenntnis von Norma [der Wirklichkeit]
kämen wir kaum auf die Idee, daß Marilyn [Bildumwelt] mit ihrem
Schauspiel einer Wirklichkeit ikonisch ähnlich sein möchte. In
einer solchen Situation verlöre Mimesis, obwohl sie als Nachahmung
existent wäre, mit ihrer Bezeichnungsfunktion auch ihre kommunikative
Relevanz. Marilyn fiele mit Norma [Bildumwelt mit der Wirklichkeit] zur
ununterscheidbaren Ähnlichkeit in eins. Um als Mimesis bewußt
zu werden, muß an deren Ähnlichkeit ein Unähnliches, ein
Unterschiedliches indexikalisch auffallen [vgl. Gebauer u. Wulf 1992/399].
Bemerken wir in der mimetischen Situation nichts Unähnliches, dann
übersehen wir, daß Marilyn [Bildumwelt] Norma [Wirklichkeit]
nachahmt. Auf diese Weise retransformiert sich das Schauspiel Marilyns [der
Bildumwelt] zum unbemerkten Trompe-l’œil, das daher unmimetische
Wirklichkeit zu sein scheint [s.S. 77 u. 157]. Man würde somit
vermuten, Marilyn [Bildumwelt] wäre mit Norma [Wirklichkeit] identisch.
Denn Ähnliches, dessen Ähnlichkeit jede Differenzierung vereitelt,
stellt nicht etwas anderes dar, sondern dupliziert es, um beispielsweise
eine Selbstähnlichkeit von selbstreferenten (Bild-)Encodierungen nachzuahmen,
vorzuahmen, zu replizieren.
Eine kulturelle Selbstähnlichkeit von Marilyn [Bildumwelt] gehört
zwar zur Mimesis, sie ist jedoch keine des Inhaltsaspekts, sondern eine
des kommunikativen Beziehungsaspekts, der interpersonale Anschlußwahrscheinlichkeit
von kulturellen Darstellungscodes wahrt. Allerdings agiert Mimesis als Selbstähnlichkeit
desto mehr vorkommunikativ, je vollständiger und je kontinuierlicher
sie sich in die Kultur integriert. Das heißt, wo der Schönheitscode
von Marilyn [Bildumwelt] weiterhin mit demjenigen übereinstimmt, den
sie auch am Vortage besaß, wird er sich zum konventionellen Beziehungscode
etablieren. So wie nämlich Marilyn [Bildumwelt] laufend das Vorbild
von Marilyn [Bildumwelt] nachahmt, fungiert deren Selbstähnlichkeit
als tautologische Sinncodierung, in der Sinn Sinn findet. Diese Tautologie
an Marilyn fundiert sich beispielsweise durch allgemein erlebte Schönheit.
Ihre kulturelle Identität, die an Marilyn [Bildumwelt] tautologisch
- in der Vorstellung von sie ist sie - bewahrt wird, institutionalisiert
sich daher zum Medium [s.S. 302ff.]. Um als solches zu fungieren und
gleichfalls eine inhaltliche Botschaft in Formen zu kommunizieren, darf
am institutionalisierten Medium von Marilyn [Bildumwelt] nichts auffallen,
was an ihr entähnlichend, entpersönlichend oder kulturell entfremdend
wirkt. Diese Selbstähnlichkeit des Mediums ist die Voraussetzung für
personalisierte und kommunikativ anschlußfähige Identität.
Wie Norma [Wirklichkeit] existiert und wie diese aussieht, ist für
die kommunikative Funktionstüchtigkeit und kulturelle Merkmalsidentität
von Marilyn [Bildumwelt] vollständig bedeutungslos. Fällt Marilyns
[Bildumwelt] indessen auf Normas [Wirklichkeits-]Identität zurück,
zieht sie ihr kulturelles Image derart in den Zweifel, daß es für
sie problematisch werden wird, kulturell Integratives zu kommunizieren.
Sie wäre dann vielleicht nicht schön, nicht attraktiv genug bzw.
zu alltäglich, um noch geliebt zu werden. Folglich ist unbemerkte Mimesis
einer konstruierten Selbstähnlichkeit zwar kulturell hochintegrativ,
da niemand kommunikative Hinweise auf mögliches Anderssein bemerkt,
sozial jedoch nur bedingt kommunikativ.
Wenn nun Marilyn [Bildumwelt] in einem Film vorkäme, könnten wir
sie zwar wiedererkennen und bemerken, daß die laufenden Bilder sie
ikonisch bezeichnen, aber die Ähnlichkeit zu Norma [zur Wirklichkeit]
bliebe unanschaulich. Man müßte darüber phantasieren, daß
Marilyn [Bildumwelt] etwas so ähnlich nach- oder vorahmt, wie es ihrer
Wirklichkeit entsprechen könnte. Vergessen wäre allerdings der
Gedanke an Norma [Wirklichkeit], denn sie wäre von der Fiktion ersetzt,
daß das zeichenhafte Schauspiel Marilyns [der Bildumwelt] der Wirklichkeit
ähnlich wäre, die sie in bildlicher Anschaulichkeit präsentiert.
Mit dieser Fiktion ließe sich die Anschaulichkeit von Marilyn [Bildumwelt]
zum Fetisch machen, bei dem es weder darauf ankommt, wie Norma [Wirklichkeit]
tatsächlich existiert, noch darauf, daß Marilyn [Bildumwelt]
anfangs ein Zeichen für mehr als das Gegenwärtige ist, sondern
darauf, daß die gegenständliche Präsenz von Marilyn [Bildumwelt]
die volle Verzauberungskraft des Nicht-Gegenwärtigen veranschaulicht.
Adornos Unerbittlichkeit hätte die unzulängliche Übertragung
seines Kunstanspruchs auf profane Bilder untersagt. Und dennoch ist in bezug
auf Bilder erkennbar, daß die Intensität ihrer Zeichenhaftigkeit
nicht identisch ist mit der ihrer Gegenständlichkeit; denn diese ist
so wenig Zeichen an den Bildgegenständen, wie deren Anschauung der
Trennung von Zeichen und Gegenstand bzw. Repräsentation und Präsentation
widerspricht.
Mimesis widersetzt sich der harten Zeichen-Gegenstands-Spaltung solange,
wie sie im Bild die Anschauung eines Unanschaulichen zeichenvergessen zum
Zeichen macht [hierzu Adorno 1973/148]. Dies kann dann der Fall sein, sobald
Marilyn [Bildumwelt] derart zum Fetisch gemacht wird, daß ihr zeichenhaftes
Schauspiel sich dem Merkmal eines Zeichens entzieht. Ihre Unanschaulichkeit,
kaum jemand hat sie nämlich wirklich kennengelernt, degeneriert im
Bild zur präsenten Anschaulichkeit, die alle Fiktionen über ihre
wirkliche Gegenwärtigkeit glaubhaft oder zumindest partiell substituiert.
Daß Marilyn [Bildumwelt] manche Eigenschaften von Norma [Wirklichkeit]
mimt, wäre im Fall des Fetischismus verdrängt und vergessen. Mit
dessen Auftreten käme es nämlich zur deckungsgleichen Zeichen-
und Gegenstandsbedeutung, die Wunsch-Ansprüche an wirkliches Erleben
partiell erfüllt. An diesem möglichen Fetischismus ist zu erkennen,
daß Mimesis verkannt wird, wenn man ihre Anschmiegsamkeit an gleichartige
Wirklichkeit auf Darstellung reduziert. Darstellung impliziert immer den
symbolischen Charakter einer Paradoxie, indem Darstellung von Marilyn (Bildumwelt)
dem ähnelt, dem sie nicht ähnelt. Darstellung trennt also zwischen
Zeichen und bezeichnetem Gegenstand. Allenfalls ähnelt Darstellung
deshalb etwas anderem; sie gleicht nie ihrer eigenen Leibhaftigkeit, die
das, was sie ikonisch darstellt, selbst verkörpert und selbst ist,
wie eine Skulptur beispielsweise [s.S. 61]. Aus diesem Grund fällt
Fetischismus hinsichtlich ikonischer Mimesis so leicht. Denn das Ikon ist
der einzige zeichenhafte Objektbezug, der als vorzeichenhafter Gegenstand,
also vor allen kommunikativen Unterscheidungen von Zeichen und Bezeichnetem,
genau das preisgibt, was auch beim Zeichenverstehen des Ikons als Bezeichnetes
verstanden sein wird.
Die partielle Wunscherfüllung am fetischisierten Ersatzobjekt beschrieb
Morris als "pathisches Zeichen", das sich abgemilderter als »falsche
Vorstellung« beim Fernsehkonsumenten studieren läßt. Denn
pathisch wäre es nicht, die Mimesis von Marilyn [Bildumwelt] zu lieben;
pathisch wäre es, sobald Marilyn [Bildumwelt] "... eine befriedigende
Interaktion mit der betreffenden ... [Norma/Wirklichkeit] verhindert"
[Morris 1973/304]. Für die Kunst bemerkte Adorno [vgl. 1973/148], daß
sie das Dogma mimetischer Anschaulichkeit durchlöcherte, um sich möglichem
Fetischismus, aber nicht mimetischer Vorstellungskraft zu entziehen. Um
diesen Anspruch der Kunst kann es bezüglich profaner Bildumwelt nicht
gehen, sondern hauptsächlich darum, wie Anschaulichkeit von profaner
Mimesis eine Kulturkolportage der Ähnlichkeit bewirkt, die Betrachter
dazu verleitet, beispielsweise angenommene Oberflächenattribute des
industriell produzierten Marilyn-Image [der Bildumwelt] nachzuahmen. Musik,
Sprache und beliebig andere Symbolcodes hätten diese soziokulturelle
Mimesis niemals mit äquivalenter Schlagwirkung ertrotzt, weil die Anschaulichkeit
von Marilyn [Bildumwelt] ohne ikonische Maskierungen (Personalisierungen)
unanschaulich wäre. Denn außer Marilyn Monroe selbst wünschte
sich vermutlich niemand, jemals Norma Jeane Backers Sosein ähnlich
zu werden. Dessen einmalige Wirklichkeit war eher zum "nichts-sagenden",
"beziehungslosen" und "vorkommunikativen" Dasein verdammt,
dem es im überzogenen Sinne an personalisierender Einkleidung und Anerkennung
fehlen sollte. In solch umgekehrter Mimesis stilisiert sich Marilyn [die
Bildumwelt] zum Vorbild, dessen vorahmende Darstellung eine befriedigende
Interaktion mit Norma [Wirklichkeit] zumindest erschweren kann, sofern die
kommunizierte Ähnlichkeit in der Wirklichkeitskomplexität uneinholbar
ist und überdies auch uneinholbar sein soll, wenn Negativ-Vorbilder
zur Abschreckung vor einer Wirklichkeit kommuniziert werden, wie z.B. schlechte
Nachrichten über Katastrophen.
Daß vorzeichenhaftes Dasein [Zweitheit] unkommunikativ wirkt, veranschaulicht
übrigens die Künstlerin Cindy Sherman mit ihren mimetischen Rollen-Fiktionen
möglichen Soseins [Drittheit] nachdrücklich. Die Nachahmung von
mimetischer Sinntautologie, d.h. von konstruierter Selbstähnlichkeit,
ist eine, die die Merkmalsidentität von kommunikativen Differenzierungskriterien
verteidigt, um korrespondierende Beziehungsaspekte aufzubauen, die nicht
Norma [Wirklichkeit], sondern ausschließlich Marilyn [Bildumwelt]
kommunikativ in das soziale Zeichen-Spiel hineintragen, welches nicht allein
in seriellen Mode- oder Schmuckwelten sozial-ästhetische Integration
per stilisierter Maskierung anzeigt. Die Korrespondenz subjektiver Erlebenswahl
bestätigt sich daher nicht gegenüber Norma [Wirklichkeit], sondern
im emotionsmotivierten Sinnkonsens gegenüber der zeichenhaften Marilyn
[Bildumwelt], die man, wenn man es böswillig will, als "pathische",
da kulturgemäße, seriell produzierte und erlogene Schönheit
erlebt. Ob aber umgekehrt natürliche Schönheit, die in einer hypothetischen
Norma-Welt [Wirklichkeitswelt/Zweitheit] ganz ohne kulturabhängige
Einflüsse und Kriterien erlebt wird, zur emotionalisierenden Ausdifferenzierung
und kommunikativen Anschlußfähigkeit kommt, ist mehr als fraglich.
Denn selbst bei Frühmenschen mag man einen Ansatz zur imitatorischen
Mode darin erkennen, daß bei ihnen tierische Vorbilder mimetische
Nachahmung fanden [hierzu Loschek 1991/19].
Im Normalfall enträtselt sich allerdings pathische Mimesis. Daß
nämlich Marilyn [Bildumwelt] nie im Leben der alltäglichen Norma
[Wirklichkeit] ähnlich ist, vermutet jeder, sobald zwischen beiden
Unähnlichkeiten auffallen. Ansonsten wäre Marilyn [Bildumwelt]
nämlich eine "schlechte" Schauspielerin, die nichts anderes
als das darstellen kann, was mit ihr selbst identisch ist. Die mimetisch
kreative Rolle erfüllt sie, indem wir an ihr bemerken, daß sie
etwas so darstellt, als ob etwas so möglich sei, wie sie es ikonisch
vorspielt. Die kulturelle Schauthematisierung von Phantombildern, Phantasmagorien,
Trugbildern, Göttern, historischen Gestalten, Nachbarn, Freunden und
uns selbst gibt sich mit dem Darstellungscode zu erkennen. Mit dessen ungewöhnlichem
Auftreten, wenn es einem denn ungewöhnlich vorkommt, indiziert sich
bereits, daß eine inszenierte Ähnlichkeitsbeziehung zwischen
Marilyn und Norma [Bildumwelt und Wirklichkeit] oder zwischen Marilyn [Bildumwelt]
und imaginären Personen [Wirklichkeiten] vorliegt. Vergleichbare Wirkung
erhalten auch verbal-symbolische Mitteilungen, die zu verstehen geben: Norma
ist und spielt Marilyn [die gegenständliche Wirklichkeit des Bildes
ist und spielt Bildumwelt]. Und genau dies stellt klar, daß es mimetischen
Ähnlichkeitsbezeichnungen ausschließlich aufgrund indexikalischer
und symbolischer Hinweise ermöglicht ist, uns auf ihre besondere Relevanz
aufmerksam werden zu lassen [s.S. 254ff.]. Zweifellos erkennen wir
Ähnlichkeiten des einen im anderem auch kulturunabhängig wieder;
sobald sie allerdings in sozialer Relevanz einen kommunikativen Ort haben
sollen, müssen ihnen indexikalische oder symbolische Zeicheninterpretationen
beigeordnet werden können. Bleiben diese Hinweise aus, dann präsentieren
sich Selbstähnlichkeiten "ausdruckslos" und "nichtssagend"
als eine anwesende Umwelt, also als Vorkommunikatives und rein Wahrnehmbares.
Kurz: die mimetische Simulation, die visuell kommunikativ wirkt, erhält
soziale Kommunikativität mit der Dissimilation, die unähnliche
Merkmale am Ähnlichen indexikalisch oder symbolisch bewußt werden
läßt. Dabei erzielen zweifellos auch Legizeichen dissimilierende,
also entähnlichende Wirkung als Index, wie z.B. erlernte Bild- bzw.
Kulturperspektiven, deren ikonische Meisterschaft als mimetische Verstellung
bekannt ist.
Da nun, wie oben gesagt, die individuelle von der kulturellen Relevanz weitgehend
beeinflußt wird, stellen wir ikonische Bezeichnungsfunktionen meist
derart her, daß der kulturelle Darstellungscode dissimilierend indiziert,
wie Ähnlichkeitsreferenzen kommunikativ relevant werden sollen. Das
Marilyn-Image von Norma [die Bildumwelt im Bild von einer Wirklichkeit]
stellt sich beispielsweise auffallend "unnatürlich", erotisch
affektiert und theatralisch kichernd dar, wodurch zumindest der dramatisierte
Index (Hinweis) hervortritt, daß sie vermutlich irgendeine fiktive
Frau [fiktive Wirklichkeit] in ikonischer Bezeichnungsfunktion vortäuscht.
Bleibt diese Täuschung zeitweise vergessen oder ist es gar keine, dann
scheint uns Norma [Wirklichkeit] mit Marilyn [Bildumwelt] identisch. Diese
simulierte oder tatsächliche Identität besäße zwar
keine sozial kommunikative Relevanz mehr, da sie auf unterschiedslose Wirklichkeit
zurückfallen würde, aber ihr käme visuell kommunikative Relevanz
zu, da man ja Marilyn [Bildumwelt] wirklich sehen und kennenlernen kann.
Und nicht zu vergessen ist, wenn Norma [der Wirklichkeitsfluß] längst
vergangen ist bzw. erst wirklich werden wird, wird sie [er] trotzdem von
Marilyn [Bildumwelt] nach bzw. vorgeahmt. Natürlich stellt Marilyn
[Bildumwelt] die ikonischen Merkmale von Norma [der Wirklichkeit] dar, die
für sie selbst bedeutungsrelevant sind und ihrer Darstellungsfähigkeit
entsprechen. Denn die optisch erfahrbaren Eigenschaften, die nicht Norma
[Wirklichkeit] bezeichnen, gehören zur Wirklichkeit von Marilyn [Bildumwelt].
So ist die erfahrbare Ausdruckskraft, Mimik, Bewegung, Schönheit und
Natur nie die von Norma [einer Wirklichkeit], sondern die von Marilyn [Bildumwelt],
da sie sich schließlich selbst als gegenständlich Wirkliche anwesend
präsentiert. Mimesis verdoppelt demnach keine Wirklichkeit, Natur oder
irgend etwas anderes, sondern ist die kommunikationsnotwendige »Lüge-Möglichkeit«
[s.S. 27], die im kulturellen Darstellungscode ihren Mobiliarkredit (115)
aufnimmt, den sie bezüglich dem ihr ähnlich Werdenden tilgt oder
schuldet. Das heißt, der kulturell verfestigte Darstellungscode ist
ein Mobiliarkredit, den die Mimesis von Marilyn [Bildumwelt] gegen einen
Teil ihrer individuierten Mobilität verpfändet, um diese bei Wiedereintritt
in eine möglicherweise ähnelnde Wirklichkeit (Norma) wiederum
einzulösen.
Ob wir zwischen Norma und Marilyn [zwischen Wirklichkeit und Bildumwelt]
eine Ähnlichkeit vermuten, ist eine Folge davon, ob wir zwischen beiden
Parallelen sehen, die die personalisierende Maskierung von Marilyn [Bildumwelt]
als mögliche Norma [Wirklichkeit] demaskieren. Mißglückt
einem diese Demaskierung, so lüftet man gleichfalls das "Geheimnis
des Andren" [Simmel 1992/396], der möglichen Norma [Wirklichkeit],
nicht, womit der dramatisierte Zeichenstatus von Marilyn [Bildumwelt] zur
geglaubten Illustration einer erlogenen Wirklichkeit degeneriert. Derart
demobilisiert verlöre Marilyn [Bildumwelt] ihre Beziehung zum Lebensfluß
des Norma-Daseins [der Wirklichkeit] und würde in ihrer kulturellen
Illustrationsrolle unter Verlust von möglich werdender Ähnlichkeit
erstarren. Denn in der konsumierten Bild-Rolle, die Marilyn [Bildumwelt]
im Film einnimmt, tauscht sich die Sphäre des Privaten von Norma [Wirklichkeit]
gegen die aus, die die öffentliche Marilyn [Bildumwelt] als televisionär
verstetigte Privatheit suggeriert. Insofern überzeugt die mimetische
Illusion eher als deren genuine Wirklichkeit, die sie zwecks dramaturgischen
Handelns verhüllt, verbirgt, dissimuliert. Wer die betreffende Norma
[gemeinte Wirklichkeit] nie erlebt hat, kann allerdings trotz ihrer Unerreichbarkeit
zumindest per Introspektion ahnen, daß Marilyn [der Bildumwelt] eine
Ähnlichkeit mit Norma [Wirklichkeit] zuzutrauen ist und wahrscheinlich
niemals durchgängig mimetische Show-Rollen vorlügt. Im übrigen
ist deshalb kaum anzunehmen, daß die Mimesis Marilyns [der Bildumwelt]
ausschließlich ein kulturelles Rollenspiel ist, schließlich
ist ihre Haut eine, die aus dieser und nicht aus irgendeiner anderen Welt
stammt. Um aber dies einzusehen, muß Adornos Ästhetik-Theorie,
wenn auch nicht eingeholt, so doch aufgeholt werden. Daher ist hinsichtlich
Mimesis ein wenig kryptisch anzumerken: "Nichts in der Kunst [der mimetischen
Marilyn/ der Bildumwelt], auch nicht der sublimiertesten, was nicht aus
der Welt [der Norma/ der Wirklichkeit] stammte; nichts daraus unverwandelt"
[Adorno 1973/209].
----Fußnoten----
(114) Ich spreche hier von irgendeiner nach- oder vorgeahmten Wirklichkeit,
die fiktional, vergangen oder gegenwärtig sein kann.
(115) Kredit gegen Verpfändung beweglicher Sachen.
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