Teil III. Die kulturelle Bedeutung von Bildern Inhaltsverzeichnis   Home
 
Der Titel "Die kulturelle Bedeutung von Bildern" suggeriert eigenständige Bedeutungssphären, die gegenüber sozialer Pragmatik unabhängig wären. Warum eine solche Bedeutungssouveränität der Bildkultur unmöglich ist, zeigte die Auseinandersetzung mit den Kulturdefinitionen von Eco, Simmel, Weber, Parsons, Geertz und Luhmann [s.S. 237ff., 132]. Das Kulturelle von Bildern verschiebt sich auf syntaktisch-semantische Signifikationscodes, also auf die kulturelle Semantik. Diese kulturelle Semantik basiert auf der Bezeichnungsfunktion ikonischer Bilder [s.S. 240ff.]. Kultur als Semantik ist deshalb mit der Funktion eines ausdifferenzierten Handlungssystems überfordert. Bildkultur, die im syntaktisch-semantischen Code zu verorten ist, beinhaltet bei Kommunikation fortwährend irgendeine Pragmatik. Erst während einer solchen erlangt Kultur das, was Individuen als Bedeutung bei Verständigungshandlungen interpretieren.

Ist die Pragmatik allerdings ihrerseits von kulturellen Wertpräferenzen begleitet, ist sie z.B. in den Bezugskontext der Kunst gestellt, dann verändert sich ihre Bedeutungsinterpretation. Interaktionistischer Pragmatik gelingt daher Verständigung; sie übernimmt sich aber, wenn sie die kulturelle Wertpräferenz ihres Verstehensanspruchs in jedem Zeichen mitkommunizieren soll. Für das Gelingen von Kommunikation, die über Verständigung hinaus auch interpersonales Verstehen nach sich zieht, ist Bildkultur neben interaktionistischer Pragmatik oftmals mit kulturellen Wertpräferenzen verkoppelt. Nur auf diese Weise steigern sich die pragmatischen Erwartungserwartungen hinsichtlich Bildkultur auf die Wertpräferenz von beispielsweise Kunst. Fielen diese kulturellen Wertpräferenzen fort, sähe man Bildern selten an, ob sie in der Kunst, Kindermalerei, im Fernsehen oder für einen Kult verwendet werden. Somit ermöglicht die Konzeptualisierung von Bewußtseinsleistungen zwar Verständigung, aber ohne kulturelle Kontexte bleibt unverbürgt, wie die Verständigungsabsicht zu verstehen sein soll.

Folgt man mir in der Auffassung, daß Bildkultur sich aus einem syntaktisch-semantischen Signifikationscode zusammensetzt, so ist deutlich zu erkennen, wie spezifische Pragmatiken in interaktionistischer Nahorientierung und systemischer Fernorientierung unterschiedliche Bildformen stabilisieren, bearbeiten, thematisieren, pflegen und eben kultivieren. Mit einer solchen Betrachtungsweise stellt sich beispielsweise heraus, daß das soziale System Kunst in seiner kulturellen Wertpräferenz immer weniger Bildkultur erweitert, erinnert und verwendet; eventuell wird es in ihm sogar aufgegeben, die Bedeutung von Bildkultur zu stabilisieren. Kontrastierend dazu setzen heutzutage viele Wissenschaftsdisziplinen zunehmend auf eine Bildkultur der Zentralperspektive und des Diagramms, wenn sie Anschauungsmaterial eines indexikalischen Sachverhalts kommunizieren wollen. Ebenso kultivieren die sozialen Systeme der Politik, Tagesnachrichten, Werbung, Unterhaltung sowie Religion dann intensiviert Bildkultur, wenn sie das Tempo der Popularität ihrer Themen forcieren wollen. Die Bedeutung einer Bildkultur hängt somit nicht von der Kultur selbst ab, sondern von sozialen Systemen, deren kulturellen Wertpräferenzen und interaktionistischen Handlungsorientierungen für Bedeutungen sorgen.
Wie begründet [s.S. 238], ist der verwendete Kulturbegriff ambivalent. Wenn nämlich syntaktisch-semantische Codes als Kultur bezeichnet werden, so bleiben darin kulturelle Wertpräferenzen, wie etwa Wahrheit, Schönheit, Realismus, Religiosität oder Erotik unberücksichtigt. Wertpräferenzen müssen demnach eigens in spezifischen Verwendungszusammenhängen als kulturelle Orientierung erwartbar sein. Hinsichtlich der Kunst darf man beispielsweise die kulturelle Wertpräferenz erwarten, daß schöne oder unkonventionelle Bilder gezeigt werden; im Zusammenhang mit Wissenschaft steht zu erwarten, daß sie Wahrheit mit realistischen Bildern untermauert und bei Pornographie ist zu erwarten, daß sie Bilder von Menschen zeigt, um Erotik zu erzeugen. Kultur beschreibt hier neben der Semantik auch Wertpräferenzen, wie sie z.B. für Kunst, Unterhaltung, Pornographie, Ritualisierungen, Religion, Wissenschaft usw. entstehen, um in sozialen Systemen und für individuelle Handlungen eine soziale Bedeutung zu stabilisieren. Deshalb fragt derjenige, der nach der kulturellen Bedeutung von Bildern fragt, danach, für welche sozialen Systeme mit kulturellen Wertpräferenzen die ikonische Semantik eine tragende Rolle übernimmt, welche Konsequenzen jene kulturellen Wertpräferenzen in der Pragmatik von Gesellschaften provozieren und wie Bilder im Verhältnis zu anderen Thematisierungsformen der Kultur aufzufassen sind. Diesen Fragen gehe ich im folgenden nach, um im Anschluß daran die unterschiedlichen Bedeutungen von Bildern aufzugreifen, die sich mit der Unterscheidung zwischen Sozial- und Systemintegration aufhellen.

In den veränderten Kommunikationsverhältnissen, deren kulturelle Windrichtung sich Bolz als Triumph über die sogenannte "Gutenberg-Galaxis" auf die Fahne schreibt, verwirbeln ikonische Bilder einen Teil der Koordinaten, deren Navigationsleistung für kulturelle Passagen ehemals eine symbolische Semantik gewährte. Im künftigen Zuschauer vermutet Bolz [vgl. 1993/231] den 'zappenden' Pfadfinder, der sich mittels ikonischer Benutzeroberflächen seine soziokulturelle Orientierung bahnt. Unzweifelhaft bieten ikonische Kartographien Orientierung. Auf dem Bildschirm laufen allerdings die Ikons, hinter denen sich die computerisierten Programmbefehle verstecken, auf dem gleichen Niveau, wie dem des Illusionsmarketings der Werbeindustrie. Denn hinsichtlich beider Schaustellungen artikuliert sich durch bloßes Zeigen auf das Bild der dekontextualisierte Wille eines kindlichen Habenwollens, dem die binären Codierungen des Computers bzw. des Geldsystems nebulös vorkommen. Die ikonischen Benutzeroberflächen der Computer und ebenso die Werbeindustrie illustrieren eine kulturelle Wertpräferenz, in der man zu sehen bekommt, was man wird haben wollen, ohne daß man angeblich teleologisch wissen müßte, wozu und wann man das braucht, auf das man ein Auge "geworfen" hat. Auch wenn Bolz vorhersieht, daß Hypertexte die Kommunikation (z.B. auf CD-ROM) ein wenig dekontextualisieren, und sie deshalb das traditionelle Buch entmachten werden, wird diese Prophezeiung sicherlich vom Absterben der Menschheit gefährdet, sobald eine pure Bilder-Gesellschaft ihre symbolische Koordination dadurch unterschreitet, daß sie mit Euphorie ihre Fragestellungen ausschließlich in ikonisch-indexikalischen Fieberdiagrammen mißt bzw. beantwortet. Wer im vorsymbolischen Tun mißt, daß er Fieber hat, wird es nicht dadurch heilen, daß er es am nächsten Tag nochmals mißt. Kleinkinder am Beginn ihres Spracherwerbs wissen ohnehin nicht, was es bedeutet, Fieber zu haben, und wonach sie sich richten sollen, wenn sie es haben, es messen oder ein Bild davon sehen. Im Vergleich zur Gutenberg-Galaxis liegt denn auch die Attraktivität von Bildern darin, daß diese ihr Wissen zur begriffslosen Anschaulichkeit bringen können. Die Sichtbarkeit von ikonischem Wissen verführt deshalb zu einer Orientierung, bei der man sieht, was man zu wissen meint, ohne daß man begrifflich weiß, was man sieht.

Bolz irrt nicht in dem Gedanken, daß "... man Information in numerischen Bildern [d.h. Diagrammen, Kartogrammen] viel stärker verdichten [kann] als in Sprache" [Bolz 1993/228], aber er geht in der Einschätzung fehl, daß jenes ikonische Wissen den gleichen Abstraktionsgrad wie symbolisches Wissen darstellen kann. Letzteres ermöglicht schließlich Nachrichten bzw. kontextualisierte Argumente und nicht nur sichtbare Informationen bzw. dekontextualisierte Rhemata, deren Bedeutung ein soziales Gedächtnis kaum beansprucht [s.S. 279]. Das ikonische Wissensdesign von beispielsweise fraktaler Geometrie (Mandelbrotmenge) oder Wettervorhersagen kartographiert komplexe Sachverhalte derart, daß am Ende deren dekontextualisierte Schönheit, aber nicht deren Wahrheitsthematik für unmathematische Gemüter überzeugend ist. Dieses einer Wahrheitsthematik entledigte Wissensdesign wird einer ikonisch informativen Allegorie überantwortet, die sich im vermeintlichen Anderssagen ihres Sagens enthält. Denn das Sagen entschwindet mit der sprachlosen Nichtsprache eines Zeigens von behaupteter Ähnlichkeit, dem Schönheit und Sichtbarkeit als Begründungszusammenhang seiner dekontextualisierten Einsichten ausreicht. Die Wahrheitsthematik von Begründungskontexten haftet indessen an ikonischer Kartomantie, d.h. an der »Kunst des Kartenlegens«, dessen Wahrsagekraft im Vertrauen auf den subjektiven Eigenbeitrag des Zeichendeuters begründet sein muß. Denn nur dem monopolistischen Seher ist die symbolische Interpretation der Karten vorbehalten, in denen er - für Außenstehende selten überprüfbar - seine indexikalischen Meßwerte kartographierte. Die Bolzsche Begeisterung für Kartomantie verdeutlicht, wie das ästhetisierte "Software-Design" einer "... Theorie ihren Instrumentenflug beginnt ..." [Bolz 1993/233], weil es am Krisenphänomen fiebriger Überkomplexität und der symbolvertexteten Reduktion von Bild-Geschwindigkeit abzustürzen meint [s.S. 184]. In Idolatrie, also in erlebnisorientierter Bildverehrung ohne symbolische Götzen, meint man, den besänftigenderen Notausgang gefunden zu haben, obwohl gerade dieser der Eingang in die Not der sozialen Orientierungslosigkeit sein wird.

Bei aller Kritik an idolisierter Kartomantie muß man aber bei Adorno nachlesen, um nicht dem Verifikationsglauben zu verfallen, daß der kritische Rationalismus den Alleinanspruch auf symbolisierte Zusammenhänge von "Gesetzmäßigkeiten" besitzt und fürwahr unumstößliche Tatsachen in systematischen Beobachtungsresultaten konstruiert. Keineswegs muß gegessen werden, was auf dem rationalistischen Tisch zum Unionsgedeck angerichtet wurde; Bilder, Kunst und andere mimetische Formkonzepte demonstrieren ihre ureigene Plausibilität. Nur sollten diese Kartographien nicht die einzigen sein, um soziale Koordination zu verwirklichen, weil erstens privilegierte, dem Papst benachbarte Seher den immunisierten Alleinvertretungsanspruch von symbolischen Plausibilitäten hätten, sofern sie etwas aus ikonischen Konzepten herauslesen, was niemand sonst sah und deuten konnte, und weil zweitens ohne soziales Gedächtnis in vertexteten Symbolen gleichfalls kollektive Lernprozesse über mehrere Generationen hinweg ausblieben. Und drittens kommt hinzu, daß Bilder im Gegensatz zu verbalen Symbolen beliebig kombinierbar sind, wodurch sie Komplexität auf einem negationsunfähigen Niveau sowohl reduzieren als auch inszenieren.

Auch wenn sich manche eine ikonische Kartomantie wünschen, so bleiben damit Präferenzen der kulturellen Wertbestimmungen noch recht unartikuliert. Ebenfalls wäre wenig geklärt, wenn man bezüglich Bildern in geschmacksverstärkender Theoriestrategie von einer Dagurerre-Galaxis ikonischer Pertubationen sprechen will. Ersichtlich ist zumindest, daß sich mit dem partiellen Auswechseln der Gutenberg-Galaxis durch die "Bild-Galaxis" auch kulturelle Wertpräferenzen umstellen. Diese Neuorientierung erfolgt nicht gleichlaufend mit der automatisierten Reproduzierbarkeit des Bildes oder des Buches. Sie erfolgt, sobald z.B. die kulturelle Wertpräferenz "Schönheit", "Sichtbarkeit" oder "Erlebnishaftigkeit" gegenüber "Wahrheit" und "Authentizität" an Tragweite gewinnt, um motivationale Orientierung anzuleiten. Etablieren sich diese prälogischen Wertpräferenzen, dann bietet Wissen nicht Orientierung, weil es als wahres Wissen überzeugt, sondern weil es als schönes, sichtbares oder in seiner Originalität unterhaltsames Wissen imponiert. Tendenziell gliedern sich Bilder zunehmend in die letztere Wertpräferenz ein. Sie koordinieren individuelle Handlungen, indem sie hedonistische Impulse des Beobachters herausfordern. Symbolisches Wissen könnte nicht genauso schnell verständlich und unproblematisch emotionale Orientierung erzielen wie ikonisches Wissen. Denn das ikonische Wissen der Bilder gesteht motivationalen Eigenbeiträgen (z.B. Emotionen) mehr dekontextualisierten Enfaltungsraum seiner Annahme oder Ablehnung zu. Um sich an ikonischer Kartomantie zu orientieren, benötigt ein Bildbetrachter deshalb kaum anonymisierte Fremdorientierung an komplexen Gesellschaftskontexten. Ihm genügt weitgehend seine subjektive Innenorientierung als Wertpräferenz, um ikonisches Wissen als schönes Wissen zu durchschauen bzw. als permanente Non-Ego-Erfahrung zu erleben.

Die engen Kontexte von Wahrheit oder Unwahrheit sind für die individuelle Orientierung an Sichtbarkeit und Schönheit ohne jede Relevanz. Eskapismus- und Entpragmatisierungstendenzen hinsichtlich ikonischen Wissens überraschen daher kaum, weil Bildbetrachter sich nicht von kontextualisierten Wahr/Unwahr-Dichotomisierungen blockieren lassen, wenn sie sich mit der kulturellen Wertpräferenz von Sichtbarkeit und eventuell Schönheit begnügen. Mit dieser bequemlichen Aneignung des ikonischen Wissens dispensieren sich Bildbetrachter temporär von symbolischen Kontexten der Gesellschaft. Sie (oder wir) entfliehen den Rationalitätsanforderungen verbalen Verstehens, indem sie zu wissen meinen, daß etwas so sei, wie sie es im Bild sahen. Sahen sie es, bietet es Orientierung, weil es schön oder häßlich scheint, aber nicht weil es wahr oder authentisch ist. Um dem Erfahrungsverlust von orientierungsrelevanten "Welt"-Erfahrungen nachzukommen, flüchten sie sich in mimetische Surrogate von "Welt"-Erfahrungen, die keine Flucht vor der Realität bieten, sondern eine Eskapismustendenz in sich bergen, die im Gezeigten keine Frage erkennt, die beantwortet werden müßte, weil die Frage mit dem fraglosen Bild bereits beantwortet ist. So informiert das ikonische Wissen des Fernsehens über unnegierbare Realitäten, die außerhalb von normativen und objektivistischen Wahrheitsgeltungen vorkommunikative Weltpräsenz mimen.

Vielfach - sofern man Simulationen, Fiktionen, Schauspielereien, kartomantische Wahrsagereien und vergleichbare Existenzvorstellungen betrachtet - wird das mimetisch Schöne gerade vom "Unwahren" gefördert, dessen Formenreichtum den des Wahren weit überbietet. Im Unterschied zu Wahrheitswerten, die einen Allgemeinheitsanspruch hegen, motivieren Schönheitswerte zur Annahme, weil diese einen Besonderheitsanspruch zu haben scheinen. Hierfür sind Bilder im Kunstsystem ein gutes Beispiel. Sie reagieren auf die De-Individualisierung durch Wahrheitswerte überempfindlich, weil sie ausschließlich in ästhetischer Variation das erreichen können, was ihren individualisierten Schönheitswert markiert. Das Kommunikationsprinzip von Bildern, also der Aufmerksamkeitseffekt, trifft insofern mit gegenwärtigen Individualisierungstendenzen von Personen zusammen. Beide lassen sich von kollektiv geprägten Allgemeinheitsansprüchen und Wahrheitswerten nicht irritieren, wenn sie subjektive Innenorientierung (z.B. im Foto) als schönen Augenblick fixieren bzw. erleben. Um der Erlebnisorientierung gerecht zu werden, fällt die Erzeugung von täglich variierten Sichtbarkeiten bzw. Schönheiten deutlich leichter, als die von täglich variierten Wahrheiten. Wie und wann markieren Bilder ihr kommunikatives Ansinnen aber so, daß nicht ihre Wahrheit oder besser ihre Realitätsplausibilität, sondern ihre Schönheit, Sichtbarkeit und optische Erlebnishaftigkeit als kultureller Wert die größere Präferenz genießt?


   a) Bedeutung der Bildkultur für Systemintegration Inhaltsverzeichnis   Anfang
 
Der Frage nach der Bedeutung der Bildkultur für soziale Systeme begegne ich im folgenden mit Fragmenten der Systemperspektive von Luhmann. Seine Theorie baut sich nicht vom Zeichen her auf, sondern umgekehrt von einzelnen Systemen, in denen unterschiedliche Zeichentypen pragmatische Verwendung finden. Luhmanns [vgl. 1971/364] Rasterung für soziale Systeme, die sich von psychischen und maschinellen Systemen unterscheiden, sieht drei essentielle Mechanismen der Systembildung vor: nämlich Variation, Differenzierung (Selektion) (116) und Stabilisierung. Die Variation leisten weitgehend Zeichen, die Differenzierung gewähren Medien- oder Präferenz-Codes und die Stabilisierung bewältigen soziale Systeme, die sich infolge funktionaler Erwartungserwartungen entwickeln. Primär lenkt die Systemperspektive den Variationsmechanismus auf die Sprache. Deren variierende Aufgabe wird darin begriffen, wie sie ein Überangebot an auswählbaren Möglichkeiten über das Wahrnehmbare hinaus denkbar hält. Variation meint daher, daß eine Vielzahl von annehmbaren und unannehmbaren Möglichkeiten als Zeichen präsent bleiben. Ohne feste Bindung an soziale Systeme, die nach stabilisierten Präferenzen differenzieren, variieren Sprache und Bilder alles ihnen mögliche, vergleichbar einem "variety pool" [Luhmann 1971/377], der in semiotisch codierten Kontexten interaktionistisch sprudelt. Semiotische Codes sind somit kein System [s.S. 177, 301 Fußn. 111].

Allerdings bestehen Unterschiede zwischen bildlichen und sprachlichen Variationsmechanismen. Bilder konkurrieren nicht im organisierten Komplexitätsgrad mit Sprache; Sprache weist im Symbolischen und in der Leistung des Negierens einen höheren Organisationsgrad auf. Innerhalb der Bildkommunikation gibt es keine Verneinungsbilder, keine Gegenbilder und Antonyme, sondern bei nachlässiger Begriffsführung allenfalls ikonische Synonyme. Bilder konkurrieren jedoch dort mit Sprache, wo sie ein Reservoir von Sichtbarem virtualisieren, dessen auswählbare Möglichkeiten die aktualisierte Praxis sogar oft dominieren. Ein ökonomisches Beispiel hierfür ist der richtungsweisende Einfluß, den Bilder in der (Konsum-)Praxis effizieren, wenn sie infolge eines umfassenden Merchandising den Absatz von Batman-Mützen, -Tassen und -T-Shirts beschleunigen. Gleichfalls ist unübersehbar, daß Radiomoderatoren, Hörspielsprecher oder Zeitungsjournalisten weniger Bücher anbieten, vielleicht aber auch nur weniger dafür werben, als Fernsehmoderatoren, Schauspieler, telegene Politiker und Sportler. Letztere haben nämlich außer ihrem Namen weiterhin ein zeichenwirksames Gesicht, das, wenn man Luhmanns [vgl. 1987/178] heitere Wendung bemüht, als sozial identifizierbare "Erwartungskollage" in ikonischen Interaktionszusammenhängen fungiert. Allerdings wird Bildern auch in den Bereichen, in denen Unzulässiges oder Unerwünschtes kommuniziert werden soll, der Variationsmechanismus übertragen, der Tabuiertem, Abschreckendem, Unerfreulichem, Ungesetzlichem, Unmoralischem usw. im Schutz des Bildschirms vorsprachlich zur lustvollen Anschauung verhilft. Insbesondere Fernsehbilder beantworten im Übermaß die hier metaphorisch gemeinte Suggestivfrage: "Willst Du etwa das, was wir Dir darstellen, tatsächlich erleben?" Es scheint aus all den genannten Gründen zumindest fraglich, ob tatsächlich Sprache in Zukunft der vorrangige Variationsmechanismus bleibt, der für Individuen potentiell Auswählbares kartographiert. Sollte Sprache ein primärer Variationsmechanismus bleiben, dann ist abzusehen, daß sie in unserer Informationsgesellschaft vorzugsweise ursächliche Bild- und weniger ursächliche "Welt"-Erfahrung konzeptualisieren wird.

Nach welchen kulturellen Wertpräferenzen wird jedoch potentiell Auswählbares differenziert? Für diese differenzierende Funktion entfaltet Luhmann Medien-Codes, die "... regulieren, welche Reduktion des Erlebens bzw. Handelns in sozialen Systemen übertragbar gemacht werden und welche anderen, obgleich sprachlich [bildlich] möglich, an ihrer Nichtübertragbarkeit in sozialen Systemen scheitern" [Luhmann 1971/366]. Ein Beispiel hierfür ist die Malerei von "Geistesgestörten", die Art brut. Die Übertragbarkeit ihrer Konzeptualisierungen läßt das Kunstsystem daran scheitern, daß ihr der interpersonale Erfolg in prästabilisierten Sinntautologien der Kunst verweigert wird. Solche desorientierten Malereien sind praktisch ohne kommunikative Adresse, wenn sie nicht in die "charaktervolle" Kunstsprache passen, der Adorno und Dewey große Präferenz beimaßen [s.S. 307, 96]. Ebenso geht es Kunstwerken aus nichtwestlichen Ländern. Sie sortiert das Kunstsystem meist als ethnologische Zeugnisse aus. Bilder von "Verrückten" und nicht westlich orientierten Künstlern sind demzufolge - so differenziert es der binäre Code des Kunstsystems - erst dann schön, wenn sie als Kunst behauptet werden; sie sind nicht schon deshalb schön, weil es schöne Bilder sind. Kunst ist somit keine Leistung - wie von Künstlern gern versichert - die im Auge des Betrachters oder im Denken eines kreativen Menschen entsteht [s.S. 52]. Sie ist eine Leistung der ihr zugrundeliegenden Wertpräferenzen, die erst dann nicht zur Aussonderung desorientierter Bildkonzepte von kreativen Ahnungslosen führen, wenn besondere Legitimationsparolen - wie z.B. jeder Mensch ist ein Künstler - sporadisch gedeihen. Solche Widerstandsforderungen bringt das Kunstsystem aus Angst vorm Menschen rasch zu Fall, indem es Bildkonzepte, die ihm gegenüber vollständig autonom auftreten, diskriminiert. Individuelle Autonomie und Beliebigkeit grenzt das Kunstsystem infolge interner Wertpräferenzen aus. Soll diese Unfreiheit der freien Kunst bestätigt werden, sind die am Ausstellungsbetrieb beteiligten Künstler zu fragen, warum sie nicht all die Werke zeigen wollen (bzw. können), die sie zeigen können (bzw. wollen).
An der weitreichenden Diskriminierung der meisten Bildvariationen läßt sich die Kunst als System identifizieren. Wie oben gesagt, stabilisieren sich soziale Systeme infolge der Wertpräferenzen, mit denen sie Variationsmechanismen der (Bild-)Zeichen differenzieren und aussondern. Bilder dürfen beispielsweise meist dann Kunst sein, wenn sie Kommunikation über Kommunikation darstellen oder wenn sie Kommunikation stören, um Kommunikation über Bildkommunikation anzuregen. Kreativ Ahnungslose verstehen es selten, eine innovative Kommunikationsform über Kommunikation im Sinne des Kunstsystems herzustellen. Sie kommunizieren über irgend etwas Anschauliches oder "Verrücktes". Sie thematisieren oder erweitern deshalb selten die Kommunikation über Kommunikation, weil sie nicht am Kunstsystem, sondern an ihrem Gegenüber oder an sich selbst orientiert sind. Kunst schwimmt daher in der Gesellschaft wie eine fetthaltige Perücke, die sich gegen das "sozial Verwässernde" hydrophobiert, indem sie sich aus diesem an ihren eigenen Haaren herauszuziehen versucht. In dieser Orientierung an sich selbst zupft sich die Kunst zwar ein stilistisches Haar nach dem anderen aus, aber dieser Formenverschleiß [s.S. 210] hat bisher kaum merkbaren Einfluß darauf, daß sich ihr binärer Präferenz-Code als erwartbare Hydrophobie des Kommunikationssystems »l'art pour l'art« destabilisieren könnte. Am Ende aller ideenverschleißenden Frisiererei, wäre die artifizielle Zweitfrisur womöglich schmucklos, aber mitnichten in Kunstlosigkeit versunken. Käme es tatsächlich soweit, dann wäre die "freie" Kunst der Kunst ihrer menschlich subjektiven Wahlfreiheit restlos entledigt; Kunst wäre an Kunst, Kommunikation wäre an Kommunikation orientiert, aber kaum an irgendeiner Subjektivität von Individuen.

Im Sinne Luhmanns [vgl. 1975/175] sind diese am Kunstsystem aufgezeigten kulturellen Wertpräferenzen - divergierend vom semiotischen Code-Begriff - eine Folge ausdifferenzierter Medien-Codes. Deren Wert/Unwert-Dichotomisierung unterscheidet nach Präferenzen, wie z.B. schön oder häßlich für die Kunst, wahr oder unwahr für die Wissenschaft und metaphorischer (hinsichtlich der fetthaltigen Perücke) fetthaltig oder wasserhaltig. Am obigen Beispiel der Art brut war zu erkennen, daß Sprachlichkeit ebensowenig wie Bildlichkeit kulturelle Wertpräferenzen erzeugt. Semantische Sprach- und Bildleistungen sind keine Systemleistungen, vielmehr sind sie "...indifferent gegen Wahrheit und Falschheit" [Luhmann 1971/339] bzw. indifferent gegen den Medien-Code von Schönheit oder Häßlichkeit. Um Bilder in Systemleistungen zu integrieren, die sich ausschließlich durch Grenzerhaltung des Werts stabilisieren, bedarf es eines Medien-Codes, der "... zwei mögliche Ausprägungen bereitstellt" [Luhmann 1991/246], wie beispielsweise wichtig/unwichtig und schön/häßlich im Kunstsystem oder wahr/unwahr im Wissenschaftssystem. Unschwer ist zu erkennen, daß die Mehrzahl von Bildleistungen im Kunstsystem keinen Halt finden. Die wenigsten Bildkonzeptionen wollen Kunst sein, und die, die Kunst sein wollen, finden im gegenwärtigen Kunstsystem zunehmend weniger Anerkennung. Demzufolge müßten Bilder in binärer Dichotomie des avantgardistischen Kunstsystems häßlich sein oder gar als Beispiel des Unzulässigen, des Formverschlissenen gelten, wozu die gegenwärtige Auffassung von ihnen in jenem sozialen System auch tendiert. Daß diese Tendenz absolut nichts über den Wert von Bildern aussagt, versteht sich aus dem Kunstsystem selbst. Bilder grenzt das Kunstsystem zunehmend aus, weil sie seinem stilistischen Innovationsanspruch kaum standhalten können. Sie deklassiert die Kunst gegenwärtig als stilistischen Unwert, was der künstlerischen Spannung durchaus zuträglich sein kann.

Wenn Bilder im Kunstsystem kaum sinntautologische Anerkennung finden, welches soziale System hat dann aber Verwendung und einen Präferenz-Code für sie? Ob sich Bilder überhaupt in großem Maße in soziale Systeme mit fest binarisiertem Medien-Code integrieren lassen, scheint zumindest fraglich. In den meisten Fällen integrieren sich Bilder in Kontexte einfacher Interaktion, die die ikonische Fern- als mimetische Nahorientierung auf der Basis von bildlicher Anwesenheit verwirklicht. Dank dieser mimetischen Anwesenheit überlappen Grenzen der Wahrnehmung von Bildern mit denen der einfachen Interaktion. Soziale Systeme treten dabei weit in den Hintergrund. Die an ihnen ausgerichtete Fernorientierung fällt daher kaum als mediencodierte Kommunikation auf, obwohl diese vielfach unausweichlich, jedoch meist unbewußt vorhanden ist. Diese These möchte ich am Beispiel der televisionären Massenkommunikation, also an den Bildvariationen des besonders bildfürsorglichen Fernsehens erläutern, damit deutlich wird, welche Bedeutung Bildern in der Gesellschaft zukommt.

Obwohl das Fernsehen zwar viele Bilder diskriminiert, durfte es sich dennoch nicht ihre vollständige Diskriminierung leisten. Visuelle Wahrnehmbarkeit bildlicher Variation ist sein unentbehrlicher Ausgangspunkt. Das System »Fernsehen« ist daher - wie jeder weiß - das soziale System, welches dem Variationspool der Bilder die größte Bedeutung zugesteht. Damit televisionäre Massenkommunikation sich aber als System stabilisieren konnte, benötigten ihre Bilder einen binären Medien-Code. Diese Codierung übernahm ihre Realismusbehauptung, die die Zentralperspektive sinntautologisch erweckte [s.S. 176]. Kraft dieser Tautologie, in der Sinn Sinn macht, behauptet die Fernsehkommunikation etwas Sichtbares, das durch den perspektivischen Realismus der Bilder realistisch wirken soll. Der binäre Medien-Code des Systems »Fernsehen« fungiert also in der kulturellen Wertpräferenz realistisch/unrealistisch. Unrealistisches, Unperspektivisches bzw. Ungegenständliches ist demzufolge kein Fernsehen - man würde ja auch "nichts" sehen, sondern optisches Rauschen wahrnehmen oder eben Kunst und Malerei erkennen, die von anderen Medien-Codes stabilisiert werden. Beispielsweise behauptet die Wissenschaft in ihrem System, daß sie eine Wahrheit über etwas kommuniziert, obwohl sie selbst und auch jeder andere Philaleth, d.h. Wahrheitsfreund, langsam merkt, daß sie nicht Wahrheit über externes ausspricht, sondern gemäß interner Kriterien allenfalls eine Plausibilität verdeutlicht, die manchmal mit empirischen Wahrnehmungen übereinzustimmen scheint. Gleichermaßen behauptet das Fernsehen, daß es Realistisches von etwas zeigt, obwohl jeder weiß, daß in ihm nichts genauso zu erblicken ist, wie es in der Wirklichkeit erfahrbar wäre.
Dem Fernsehen als soziales System ist egal, ob die Sachverhalte, die es zeigt, tatsächlich existieren oder in der erfahrbaren Wirklichkeit inexistent sind. Die funktionale Erwartung des Betrachters beruht darauf, daß er im Fernsehen etwas zu sehen bekommt, was er auch tatsächlich als optischen Realismus wiedererkennen kann. Ob das optisch Gesehene mit etwas korrespondiert, das ein Betrachter als mögliche oder unmögliche Wirklichkeit einschätzt, knüpft sich nicht an die erwartbare Funktion des Fernseh-Systems. Gegenüber diesem erwartet der vertraute Nutzer deshalb auch nicht, daß er in das ikonische Bild wie in eine virtuelle Realität hineinklettern kann [s.S. 78]. Würden all seine Erwartungen enttäuscht, wenn sein Fernseher beispielsweise lediglich mit blauer Farbe aufwartet, würde er, sofern ihm der Film "Blue" von Derek Jarman unbekannt ist, denken: das ist keine Television, das ist unkommunikativer Nonsens, eine Sendestörung oder ein Defekt des Bildschirms. Fernsehen als funktionales System hat sich folglich in seiner Sinntautologie so weit ausdifferenziert, daß jeder die Nonsens-Phobie des Fernsehens derart erwartet, daß sie jedem als sinnreiche Realismusphilie vorkommt, wenn man das so beschreiben darf. Auf diese Weise steigerte Fernsehen die Erwartung, daß realistisch Sichtbares funktional erwartet werden kann, ohne daß es Unrealistisches oder optischen Nonsens eingrenzt, um ein grenzerhaltendes System sein zu können. Das funktionale Motiv des Fernsehens ist, daß perspektivisch Sichtbares zu sehen sein wird. Deshalb ist - im Gegensatz zum Kunstsystem - das Fernsehen als System innovationsfeindlich. Hinsichtlich seiner Kultur erwartet jeder, daß das Fernsehen an seinem perspektivischen Darstellungsstil festhält.

Wie etabliert sich eine Erwartungserwartung, die zur Ausdifferenzierung des sozialen Systems »Fernsehen« führte? Als Erwartungserwartung wird eine Situation bezeichnet, in der das handelnde Ego erwartet, "... was Alter [das andere Ich] von ihm erwartet, um sein eigenes Erwarten und Verhalten mit den Erwartungen des anderen abstimmen zu können" [Luhmann 1987/412]. In solcher Reziprozität (Wechselseitigkeit) erwartet der Fernsehmacher, daß sein Tun den funktionalen Realismus-Erwartungen des Betrachters entspricht. Und auch umgekehrt erwartet der Betrachter vom Fernsehmacher, daß dieser in seinem Handeln an der Realismusfunktion des Fernsehens orientiert ist. Beide unterstellen sich also der strukturellen Orientierung, die das System »Fernsehen« vorgibt, wenn sie in diesem ihre ikonische Kommunikation als Realismus adressieren. Realismus im Fernsehen fungiert daher als eine kommunikative Adresse, die zeitübergreifend strukturelle Orientierung am funktionalen Medien-Code realistisch/unrealistisch voraussetzt. Selbstverständlich muß die Vorbedingung der interaktionistischen Erwartungserwartungen erst gebildet werden. Diese müssen durch Reziprozität von pragmatischen Orientierungen derart angeregt werden, daß sie kommunikative Anschlußfähigkeit des Systems »Fernsehen« längerfristig stabilisieren. Ist die Erwartungserwartung halbwegs funktional stabilisiert, dann erlangen Akteure reziproke Orientierung in Form von Systemintegration, die über ihr raum-zeitliches Zusammentreffen weit hinausgeht [vgl. Giddens 1992/81; Arbeitsgruppe Bielef. 1976/65; Habermas 1988b/226; Luhmann 1990/122] Die Systemintegration macht Akteure von Kopräsenz und wechselseitigen Anerkennungsprozessen unabhängig. Darum nimmt die Fernsteuerungsfunktion des Systems »Fernsehen« auch keine Rücksicht darauf, wie Betrachter das Gesehene verarbeiten werden und welche Konsequenzen sie daraus ziehen. Für den Fernsehmacher genügt die funktionale Erwartung, daß seine Orientierung am System den Erwartungen der Fernsehbetrachter entsprechen wird. Er orientiert sich daher am kulturellen Legizeichen »stabile Zentralperspektive bei bewegten Ikons«, wodurch er die pragmatische Funktionsbedeutung »Fernsehen« indiziert und den Wertkonsens »realistische Sichtbarkeit« erfüllt. Systemintegration berücksichtigt deshalb ausschließlich die Funktion der visuell kommunikativen Adresse, damit die Zuschauer etwas Realistisches weltweit zu sehen bekommen. Was die Zuschauer im weiteren innerhalb ihrer landeseigenen oder gruppenspezifischen Orientierung interpretieren mögen, gehört zur späteren Erläuterung der Sozialintegration und ist der "Technizität" [Luhmann 1991/246] der Systemintegration gleichgültig.

Zumindest für das Fernsehen zielt Systemintegration auf Technizität oder höhere Spezifikation, die die Sichtbarkeit des Realistischen als erwartbares Ereignis sichert. Insofern berücksichtigt der Fernsehmacher bei Systemintegration funktionale Beziehungsaspekte, die erfolgsorientiert für die Vermittelbarkeit der ikonischen Bilder sorgen. Würde der Fernsehmacher den binären Code verlassen, also Unrealistisches zeigen, wäre der Betrachter in seiner Erwartung enttäuscht und würde meinen, daß das Gesehene kein Fernsehen, keine visuelle Kommunikation ist. Bei Nichterfüllung des binären Medien-Codes auf der ausdifferenzierten Seite »Realismus« scheitert das kommunikative Ansinnen. Individuelle Systemignoranz grenzt das soziale System »Fernsehen« als Vertrauensbruch aus. Sie muß durch andere Systeme, wie etwa Kunst, unangreifbar gemacht werden. Realismus im binären Medien-Code kommuniziert somit einen operationalen Konsens, den Fernseh-Macher und Betrachter voneinander erwarten, damit Fernseh-Kommunikation als solche verstanden wird. Was im Fernsehen an Menschen, Gegenständen usw. gesehen wird, ist deshalb keine Frage, die die Systemintegration und den binären Medien-Code realistisch/unrealistisch betrifft. Das System »Fernsehen« fixiert sich lediglich auf funktionale Integration, indem es seine funktionalen Beziehungsgrenzen gegen Erweiterung, Aufweichung und Selbstthematisierung resistent werden läßt. In dieser rigorosen Ausgrenzung von allem, was auf der Phantasie systemunabhängiger Individuen [s.S. 218 (Genies)] basiert, ist der Grund zu erkennen, warum das Fernsehen im Gegensatz zur Kunst erstens fortwährend Bilder mitteilt und zweitens welche organisiert, die dem restringierten Code »Realismus« gehorsam sind. Bildsendungen im restringierten Code »Realismus« sind also die funktionale Erwartungserwartung des Systems »Fernsehen«.
Soziale Systeme, in denen operationale Strukturen reproduziert werden, umfassen unumgänglich Aktivitäten handelnder Menschen. So unlebendig soziale Systeme auch funktionieren, so sind sie doch ohne menschliches Leben inexistent. Die Strukturierung von Systemen muß deshalb in verschiedenen Handlungskontexten von Akteuren produziert und reproduziert werden, obwohl Systeme über die Kopräsenz von Akteuren hinausgehen [vgl. Giddens 1992/77f.]. Wer handelt aber im funktionalen System »Fernsehen«? Im Unterschied zum Kunstsystem verschwindet der handelnde Bildproduzent im System »Fernsehen« nahezu vollständig, wenn seine Systemintegration ihn zu einer Unsichtbarkeit zwingt, bei der ihm seine Handlungen kaum noch zuzuschreiben sind. Er geht somit im System verloren, weil "man ... Erwartungen nur von jemandem erwarten [kann], der auch handeln kann" [Luhmann 1987/415]. Derjenige, der das Fernsehbild erstellt, handelt zwar, aber er handelt meist nur noch so, wie es das System für ihn generalisiert hat. Er ist zwar der verantwortliche Autor des Bildes, aber seine Handlung wird infolge der entschlossenen Resistenz des Systems, dessen Struktur ja die ikonische Semantisierungsmaschine erstellt, weitgehend unsichtbar. Ich meine mit dem Handelnden schlicht den Kameramann, der für das Fernsehbild sorgt. Er erfüllt nahezu alle Erwartungserwartungen, ohne daß seine Leistung zumindest für den Laien große Aufmerksamkeit erlangt.

Deutlicher wird das Verschwinden des Handelnden im System »Fernsehen«, sobald man die Bilder von Überwachungskameras und Videokonferenzen einbezieht. In diesen, einmal installierten Apparaten wird das Sozialsystem mitvollzogen, ohne daß wahrhaftig noch jemand handelt, obwohl alle funktionalen Erwartungserwartungen des jeweiligen Bildbetrachters berücksichtigt wurden. Die ikonischen Semantisierungsmaschinen produzieren anwesende Bildumwelten, ohne daß ihr "Handeln" von einzelnen Personen verantwortet wird. Es läßt sich somit erkennen, wie das "Handeln" des sozialen Systems »Fernsehen« äußerst stabile Vorkehrungen dafür getroffen hat, daß Differenzierungsleistungen nahezu vollständig durch das System und nicht durch handelnde Individuen bestimmt werden [hierzu Luhmann 1975/32]. Das Fernsehbild ist darum eines seines Systems und kaum eines einzelner Akteure, die die kulturelle Wertpräferenz der Bildherstellung individuell entscheiden könnten. Der Bildproduzent geht unauffällig im System verschollen. Seine Stelle nimmt der Betrachter ein, indem er sich in die optimale Beobachterposition der System-Perspektive begibt. Und genau dadurch orientiert auch er sich genauso unbedacht am System, wie der Kameramann es tat. Denn dem Betrachter kommt seine Systemintegration selten als kommunikativer Akt vor. Für ihn ist das funktional Kommunikative, also die technisierte Perspektive, nämlich nicht das, was ihn an der anwesenden Bildumwelt interessiert. Sein Interesse gilt dem ikonischen Wissen, in dem er Personen, Blumen, Tiere, Häuser usw. mit den Augen erkennt. Die Systemintegration beider Akteure bietet dafür lediglich den konsensuellen Beobachterstandpunkt, an dem sie ihren ikonischen, indexikalischen und symbolischen Interaktionismus orientieren.

Aus der vollständigen Systemintegration, die die kommunikativen Handlungspartner eingingen, resultiert der Erfolg der Fotografie, Videotechnik und sonstigen Geräte zur Herstellung perspektivischer Bilder. Diese Bildmaschinen differenzieren interpersonalen Sinn der Form nahezu unabhängig von Eigenbeiträgen des Handelnden, indem sie für diesen einen optischen Realismus unter Verwendung eines Naturgesetzes verfertigen [s.S. 112, 184 (Maschinen), S. 181 Fußn. 88 (Naturgesetz)]. Die menschliche Konstruktion der optischen Natur scheint mit der Natur selbst konstruiert zu sein. Wem sonst als dem generalisierten System, welches lineare Lichtausbreitung zum Bild verarbeitet, sollte zugerechnet werden, wie etwas im maschinell erstellten Bild zu sehen sein wird? Dieses erwartbare Bildereignis ist dank der Kenntnis des sozialen Systems »Fernsehen« stabilisiert; es ist daher wesentlich geringer an eine Erwartung geknüpft, die sich mit der Autorenschaft des Bildproduzenten verbindet. Denn der Autor soll überraschen, das soziale System nicht.

Das Verschwinden menschlicher Individualität im System bietet das Motiv, das den Betrachter zur einverständigen Annahme der Bildkommunikation bewegt. Denn gegenüber der Fernsehkamera können Bildner und Bebilderte nur zu einem geringen Grad beschließen, wie das, was sie für ikonisch ähnlich halten, ins Bild kommen soll. Die Kamera kommuniziert scheinbar nahezu eigenverantwortlich eben das, was sie darstellen kann. Wie etwas als ikonisches Zeichen dargestellt wird, kann weder der Betrachter noch das veranschaulichte Objekt und nur bedingt der Kameramann entscheiden. Die Produktion ikonischer Anwesenheit wird deshalb hauptsächlich vom sozialen System »Fernsehen« vorentschieden. Dessen kultureller Wertpräferenz »Realismus« gilt das fast unerschütterliche Vertrauen, daß das »Fernsehen« Anwesenheit ohne Ansehen der beteiligten Personen perspektivisch objektiviert. Beispielsweise wäre es zwar auf den Kameramann zurückzuführen, wenn er in einer Talkshow immer die Füße der Anwesenden darstellt. Trotzdem hätte er das System nicht verlassen, sondern er hätte dessen formregide Perspektivität verwendet, um ungewohnten Ansichten zur visuell kommunikativen Anwesenheit zu verhelfen. Die konstruierende Bildmaschine kollektiviert somit die Erwartungserwartungen für den Betrachter und den Bildproduzenten gleichermaßen zum sozialen System »Fernsehen«.

Der systemische Kulturcharakter ist für das »Fernsehen« unumgänglich, da er das Verstehen von anwesenden Bildumwelten strukturiert. Die Erwartungserwartung gegenüber dem »Fernsehen« provoziert nämlichen einen Doppelcharakter: einerseits hebt sich die anwesende Bildumwelt nicht vom direkt Wahrnehmbaren ab, doch andererseits hebt sie sich von diesem infolge des symbolischen Charakters [s.S. 205] ab, der die »Fernsehkommunikation« als System verständlich macht. Systemintegration bietet deshalb den Verstehens-Kontext dafür, wie innerhalb der kulturellen Wertpräferenz »Realismus« visuell kommunikative Benachrichtigungen vorgenommen werden können. Denn verstanden hat der Betrachter die systemische Bedeutung, daß er in Fernsehbildern eine ikonische Anwesenheit von etwas Abwesendem zu sehen bekommt. Bilder erhalten also mit der Systemintegrationen eine soziokulturelle Bedeutung, die den funktionalen Kontext ihrer perspektivischen Differenzierungsweise erwartbar macht. Jeder weiß hinsichtlich des Fernsehens, wie dessen optische Anwesenheit einer Ferne gemeint ist. Niemand der Systemintegrierten läuft beispielsweise weg, wenn Feuerstürme, Explosionswolken oder rasende Dampflokomotiven in Sichtweite auf sie zukommen.

Mit der Systemintegration klärt sich eine kulturelle Bedeutung von Bildern, die sich ohnehin schon jeder gedacht hat: in Systemen von funktionalen Erwartungserwartungen kartographieren Bilder eine symbolisch repräsentierte Fernorientierung in ikonisch präsenter Nahorientierung. Das einzige System, in dem Bilder eine optisch präsente Nähe ohne repräsentierte Ferne bieten und trotzdem als solche verstanden werden, ist die Kunst. Für diese hat sich deshalb eine andere Medien-Codierung etablieren müssen. Abgesehen von Spezialfällen der Kunst liegt die systemische Bedeutung für eine Bildkultur jedoch darin, daß Nichtanwesendes zur visuell kommunikativen Anwesenheit mittels Ikons gebracht wird. Verlassen Bilder diese Bedeutung ihrer Kultur, dann verweigern ihnen die meisten sozialen Systeme spontane Plausibilität und Anerkennung. Das Variationsspektrum ikonisch sichtbarer Anwesenheit ist für nahezu alle nichtkünstlerischen Bilder die kulturelle Funktionalitätsprämisse. Diese ermöglicht ihnen Bedeutung in sozialen Systemen.

Bezieht man das System auf die Möglichkeit eines kognitiv Unbewußten (s.S. 299), so verdeutlicht sich, warum beispielsweise das System »Fernsehen« zur unbewußten Institutionalisierung seiner kulturellen Struktur neigt. Wer nämlich im synchronischen Kulturgedächtnis Bilder erstellt, also z.B. eine Kamera verwendet, demjenigen wird seine systemorientierte Handlung selten zugerechnet. Er fungiert innerhalb der Erwartungserwartung, die das System ihm an die Hand gab, ohne daß der institutionalisierte Medien-Code »Realismus« eine kritische Bewußtheit erweckt. Das System überlappt infolgedessen mit dem synchronischen Gedächtnis der Kultur. Denn das System »Fernsehen« wird nicht von einzelnen verantwortet, sondern in der Synchronie der gesamten Epoche, die sich im perspektivischen Stil der Kultur ausdrückt. Daher verliert das System »Fernsehen« im synchronischen Gedächtnis der Kultur seinen Aufmerksamkeitseffekt. Es bereitet lediglich vor, wie Fernsehbilder als anwesende Bildumwelt betrachtet werden können. Denn die Talkshows, Kriegsschauplätze, Politiker, Landschaften usw., die man situativ im Fernsehen sieht, werden selten als ein Bild des Systems wahrgenommen, sondern als eines der jeweiligen Situation. Deshalb sehen wir beim Sehen in die bildlich dargestellte Ferne nicht dem »Fernsehen« zu, wir sehen dem zu, was es an Abwesendem zur ikonischen Anwesenheit bringt. Dem System »Fernsehen« sehen wir meist erst dann zu, wenn seine unbewußt gewordene Funktion unerfüllt oder verändert ist, und somit unsere Erwartungen enttäuscht.


----Fußnote----

(116) Den Begriff von Selektion, der Konnotationen wie Aussonderung und Zuchtwahl erlaubt, ersetze ich durch Differenzierung im Sinne von Unterscheidung, Aufgliederung und Aufspaltung, damit keinesfalls geglaubt wird, daß z.B. kulturfremde Wahrheit (Plausibilität) schlechtere oder gar überlebensunfähigere, "mutierte" Wahrheit (Plausibilität) wäre.


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