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Mit Kultur oder Bildkultur bezeichne ich weiterhin »kulturelle Darstellungsfunktionen«,
indessen spreche ich »kulturelle Wertpräferenzen« nur mit
dieser expliziten Begrifflichkeit als Kultur an. Mit dem Kulturbegriff als
Darstellungsfunktion möchte ich begründen, wie in vertrauten Bildern
ein ikonischer Signifikationscode vorkommt, der in seiner Alltäglichkeit
weitgehend ohne begriffliche Interpretation wahrgenommen wird. Eine solche
Kulturform würde bei visueller Massenkommunikation eine anwesende Umwelt
verkörpern, die weitgehend ohne Bedeutungen für soziale Kommunikationssysteme
ist, weil sie in diesen kaum Resonanz erhält. Was ist jedoch eine nicht-anwesende
bzw. anwesende Umwelt?
Luhmann [vgl. 1987/22-36] folgend, konstituieren sich soziale Systeme in
Abgrenzung zu ihrer Umwelt. Alles das, was mittels Kultur im sozialen System
interpretiert wird, gehört zum System, das seinen Kontakt zur Umwelt
nach internen Bedeutungen differenziert. Umwelt existiert somit relational
zu offenen Systemen, die sich ihrerseits durch Grenzerhaltungen zur Umwelt
aufrechterhalten. Offene Systeme sind demnach solche, die auf Umwelt reagieren.
Demgegenüber reagieren geschlossene Systeme kaum auf Umwelt, da diese
für sie "... nur über spezifizierte Kanäle von Bedeutung
ist ..." [Luhmann 1987/22] Geschlossene Systeme sind daher selbstreferentiell;
sie erzeugen ihre Elemente der Beschreibung per Selbstbeschreibung, indem
sie einzelne Aspekte in symbolisch-generalisierter Kommunikation themafähig
machen (Sinn hat Sinn). Diese "klassische Unterscheidung" zwischen
»geschlossenen« und »offenen« Systemen ersetzt Luhmann
durch die Frage, "... wie selbstreferentielle Geschlossenheit
Offenheit [für Umwelt] erzeugen könne ..." [Luhmann
1987/25].
Für Bilder hatte sich gezeigt, wie sie sich innerhalb des Sinns ihrer
Formen für Umwelten offen halten. Sie verhindern deshalb eine solipsistische
Kommunikationsordnung, weil sie in ikonischer Beschreibung eine Wirkungseinschätzung
geben können, die vorkommunikativ manchmal vom Wahrnehmenden erster
Ordnung der dargestellten Umwelt (dem dargestellten Gegenstand) ähnlich
erfahren wird. Das heißt: visuelle Kommunikation erschwert zeitweise
die Grenzerhaltung zwischen Kommunikation zweiter und wahrgenommener Umwelt
erster Ordnung [s.S. 111]. Generalisierte Kommunikation zweiter Ordnung
meint also lediglich, daß im sozialen System Interpretationen aktualisierbar
sind. Für eine anwesende Umwelt gilt dies nicht, sie findet zeitweise
in Thematisierungen einer sozialen Interpretation keine Resonanz, obwohl
sie in der komplexen Wirkung erfahren wird. Ein solcher Fall ist zumindest
die Wahrnehmungswelt. Diese ist im psychischen System (Individuum) eine
Konstruktion anwesender Umwelt, die erst dann im sozialen Kommunikationssystem
thematisierbar wird, wenn dort mittels eines interpretierbaren Zeichens
über etwas referiert werden kann. Wenn wir uns nunmehr "... Sätze
[Zeichen] als mit Sätzen [Zeichen], nicht mit der Welt, verknüpft
denken" [Rorty 1987/402], so fällt es für ein philosophisches
Weltbild schwer, mit Habermas [vgl. 1991/438; 1971/195; s.S. 180] anzunehmen,
daß z.B. sprachliche Reflexivität definitiv "intersubjektive"
Bedeutung für das Wahrnehmungsbewußtsein hat. Diese Differenz
zwischen anwesender Umwelt in der Wahrnehmung und dem Kommunikationssystem
taucht zwar selten in der kommunikativ verständigten Sozialdimension
gesondert auf, dennoch beeinflussen sich psychische Wahrnehmungssysteme
und soziale Kommunikationssysteme auf dem "... Wege der Co-evolution.
Die jeweils eine Systemart ist notwendige Umwelt der jeweils anderen"
[Luhmann 1987/92]. Dies wird sich gleich bei der Formulierung der anwesenden
Bildumwelt aufzeigen. Nicht-anwesende Umwelt wird in keinem der beiden Systeme
bemerkt, ihr kommt keine Gegenstands- oder Zeichenbedeutung zu. Sie wird
deshalb als etwas definiert , "... was jenseits aller relevanten
Wahrnehmung liegt" [Luhmann 1975/28].
Wie wird diese für Bilder schlechthin überanspruchsvolle Theorieerörterung
relevant? Das Problem der anwesenden Umwelten in kulturellen Bilderwelten
stellt sich auf vielfache Weise. Zunächst zum einfachsten, vollständigsten
Fall, in dem Bilder wie eine anwesende Umwelt auftreten, weil sie auf Wahrnehmung
ohne Kommunikation zurückfallen. Wie beschrieben, gibt der bildliche
Darstellungscode den kulturellen Sinnkontext vor, der jedem Kulturmitglied
per Darstellungsweise indiziert, daß es sich um ein Bild handelt.
Sobald allerdings der kulturelle Sinnkontext sehr fremd ausfällt, verliert
ein Bild jede indizierende Funktion, die es als sinnorientierte Kommunikation
plausibel macht. Ein drastisches Beispiel ließe sich verdeutlichen,
wenn Chaosforscher [vgl. Crilly 1991/173] ihre bildlichen Sinnkonstitutionen
unverhofft im Fernsehen senden, da jeder spätestens bei den Verzerrungen
der "Hamiltonischen Funktion für positive Werte" meinen würde,
sein Bildschirm wäre defekt. Da es dem Durchschnittsbetrachter bei
unerwarteten Bildverzerrungen an verwandten Sinnkontexten fehlt, würde
er ebenfalls Kultur vermissen, wenn er jene Kommunikationsform als Rauschen
einer anwesenden Umwelt erlebt.
Offenkundig sind Bildsegmentierungen, die außerhalb von aktualisierbaren
Zeichenkompetenzen eines Betrachters liegen, für diesen eine kommunikativ
abwesende, aber als präsente Form anwesende Umwelt. Andererseits beruhen
Interpretationen zumindest potentiell darauf, daß optische Wirklichkeitswahrnehmungen
[Zweitheit] von Bildgegenständen weitgehend äquivalent für
Kulturmitglieder verlaufen. Beispielsweise könnte ein Beobachter die
beiden schwarzen Formen in Abb. 10 [s.S. 163] zwar sehen, aber übersehen,
daß sie das doppelte Gesicht der USA darstellen sollen. Beide Beispiele
illustrieren eine wahrnehmungsmäßig anwesende Umwelt, die aufgrund
ihrer optischen Präsenz nur möglicherweise als Element eines Kommunikationscodes
aufgefaßt wird. Gleichwohl existiert die anwesende Umwelt als eine
reale Wahrnehmungswelt, denn keinesfalls ist "... alles, was für
uns real ist, ... abhängig von [Zeichen-]Interpretationen" [Pape
1989/386]. Es fällt sogar eine gewisse Gemeinsamkeit in Luhmanns und
Adornos Theorie auf, indem die ästhetische Wahrnehmung von anwesenden
Umwelten solche kulturellen Sinnlinien einbringt, die "... vor
allem die im System handelnden Beteiligten mit ihren Überschußkapazitäten
für unerwartetes Handeln" versorgen [Luhmann 1975/28, .s.S. 44].
Werden Bilder nämlich als sehr ungewöhnlich erfahren, dann erscheint
deren Dynamik wie eine anwesende Umwelt, die Betrachter eher zu unerwarteten
als zu erwarteten Interpretationen bewegt. Bilder verwirken hingegen ihre
visuell kommunikative Funktion, wenn sie vollständig auf eine anwesende
Umwelt zurückfallen, bei der es für Betrachter zweifelhaft ist,
ob es sich dabei überhaupt um ein sozialorientiertes Ereignis handelt.
Denn ausschließliche Wahrnehmung einer komplexen Anwesenheit ohne
Zeicheninterpretation ist keine Kommunikation.
Auf andere Weise als bei jener komplexen Anwesenheit ohne kulturellen Index
entstehen anwesende Umwelten, die unvollständig in Bildern selbst eine
organisierte Komplexität darstellen. Diese Unvollständigkeit verwirklicht
sich, sobald Bildkultur eine anwesende Umwelt suggeriert, deren organisierte
Komplexität sich aus einem kulturellen Darstellungssinn herleitet,
der infolge seiner anhaltenden Botschaft in Vergessenheit gerät. Innerhalb
bildlicher Signifikationscodes wird zwar vieles aufgegriffen, was stört,
was rauscht, aber andererseits läuft ebenso vieles in ihnen mit, was
geräuschlos verweilt. Sobald wir uns nämlich in kulturelle Sinnkontexte
begeben, die wir fraglos beanspruchen, schwindet die Botschaft, die wir
als kulturellen Darstellungscode immerwährend akzeptiert haben. Das
ikonische Bild führt dann erlebnistaugliche Wirklichkeit vor, die als
anwesende Bildumwelt wahrgenommen wird. Denn diese anwesende Bildumwelt
präsentiert eine organisierte Zeichenkomplexität, deren vertraute
Kultur insoweit als Vorzeichenhaftes wahrgenommen wird, wie ihre kommunikative
Bedeutung in den Hintergrund tritt. Auf diese Weise verwirklicht die vertraut
gewordene Bildkultur eine anwesende Umwelt, die nicht mehr als Nachricht,
sondern nur als optische Information relevant wird.
Sicherlich kann für jede anwesende Umwelt die Frage gestellt werden,
was sie für soziale Systeme bedeutet. Alltäglicherweise wird jedoch
vieles unproblematisiert wahrgenommen, weshalb wir allein Differenziertes
als Zeichen in Gebrauch nehmen. Nur das Einfinden in den bildlichen Sinnkontext
bemerken wir als Zeichen des Übergangs. Denn kulturelle Sinnkontexte
der Form fungieren erstens nicht als symbolische Zeichen für sich selbst,
und zweitens sind sie niemals welche dafür, »was« kommuniziert
wird [s.S. 170 Fußn. 82]. Sinnkontexte indizieren lediglich
appellierend, »wie« oder »auf welche Weise« im Beziehungsaspekt
kommuniziert werden soll. Dieses »Wie« resultiert vorerst aus
dem Kennen, das uns Sinnkontexte im kommunikativen Beziehungsaspekt verwirklicht,
die die Funktion übernehmen, irgend etwas anderes zu bezeichnen. Deshalb
möchte ich im folgenden detailliert erläutern, wie es dazu kommt,
daß vertraut gewordene Sinnkontexte der Bildkultur eine anwesende
Umwelt erzeugen, deren Bezeichnungsfunktion sich temporär verliert.
Wenn wir sagen wollten, der kulturelle Darstellungscode vermittelt uns eine
bezeichnende Botschaft, dann müßten wir auch meinen, daß
Kultur die Botschaft wäre. Sobald z.B. japanische Bilder ihre Kultur
und deren Stil aufzeigen sollen, können sie kaum mehr vermitteln als
japanische Beziehungsaspekte zu Sinnkontexten. Für Japaner würden
diese Bilder sicher nicht hergestellt werden, um ihnen zu indizieren, »wie«
japanische Kultur eigene Sinncodierungen aufbaut, sondern um ihnen eine
Nachricht von etwas anderem zu vermitteln. Für sie vermittelt die Botschaft,
»wir beschreiben Gegenstände mit japanischen Bildsegmentierungen«,
kaum mehr als integrierende Wir-Beziehungen, die kulturelle Distanzreduzierung
als Verständigungsmedium bereithalten. Aber selbst jene Botschaft wird
in Japan erst dann zu einer solchen, wenn ihr Sinnkontext die Voraussetzung
dafür bietet, daß sie überhaupt repetitiv veranschaulicht
werden kann. Ohne Bildkultur, ohne regelhafte Darstellungscodes bliebe die
Botschaft der kommunikativen Beziehungen unverständlich. Demnach begegnen
auch wir unserer Bildkultur in kulturgemäßer Einstellung, damit
wir kommunizieren können, »wie« wir kommunizieren wollen.
Haben wir uns in das »Wie« der Kultur eingefunden, so kommunizieren
wir mit ihr über »etwas anderes«, ohne daß das legizeichenhafte
»Wie« der Kultur pausenlos eine bemerkte Nachricht trägt.
Wie verdeutlicht sich dies?
Wie jeder erfahren hat, findet sich in unserer Kultur der maßgebliche
Sinnkontext dort, wo dessen Bildformen durch das Legizeichen »Zentralperspektive«
bestimmt werden. Die Perspektive indiziert daher die kommunikative Funktion
des Bildes. Sehen aber Betrachter so durch alltägliche Bilder hindurch,
als ob sie auf alltägliche Gegenstände blicken, dann thematisiert
der Sinnkontext eine kulturelle Wirklichkeit, bei der das Dargestellte wie
eine anwesende Umwelt wahrgenommen wird. Der organisierte Zeichencharakter
des Bildes verliert sich hier in der Komplexität der Bildwahrnehmung.
Wenn wir nämlich z.B. in einem perspektivisch dargestellten Spielfilm
"eintauchen", dann büßt der kulturelle Sinnkontext
(Legizeichen) seinen indexikalischen Funktionsverweis ein. Solche Fälle
verwirklichen Bilder, sobald deren legizeichenhafte Materialsegmentierung
sie zur vertrauten Kultur erhebt, während dem Betrachter vorerst die
exemplifizierten Abweichungen auffallen, auf die er im Sinzeichen aufmerksam
wird und die für ihn die kommunikative Botschaft im Ikon tragen.
Beispielsweise kann die kulturelle Zentralperspektive im ikonischen Objektbezug
eines Fotos die Ureinwohner Nordamerikas thematisieren. Die kommunikative
Botschaft dieses Bildes vermittelt sich jedoch weniger darüber, wie
jene Indianer anhand der Zentralperspektive einen kulturellen Sinngehalt
bekommen, sondern mehr darüber wie sie in jenem spezifischen Moment
abgelichtet wurden. Die Perspektive indiziert zwar, wie wir dem Sinnkontext
begegnen können, sobald wir uns jedoch in diesen einfinden, gibt nicht
Perspektive die Nachricht, sondern diese wird durch visuell wahrnehmbare
Exemplare von ikonischen Indianer-Sinzeichen vermittelt. Derart verwirklicht
die kulturelle Perspektive eine anwesende Bildumwelt. Denn sie kommuniziert
im Inhaltsaspekt nichts und im Beziehungsaspekt so sehr Vertrautes, daß
sie zwar wahrgenommen wird, aber normalerweise ohne weitere Interpretation
in sozialen Kontexten mitläuft. Hier erscheint die essentielle Modalität:
wenn die Wahrnehmungserfahrung zur "voll-sozialisierten natürlichen
Einstellung [des] fraglos Gegebenen wird" [Schütz u. Luckmann
1979/97], oder besser, sich zur kulturgemäßen Einstellung gegenüber
dem kulturellen Signifikationscodes einprägt, dann kommuniziert die
Kultur der Perspektive keine Nachricht, die kommunikative Beachtung findet.
Diese kulturgemäße Einstellung verleitet uns dazu, im kulturellen
Bildstil einen vertraut gewordenen Oberton zu vernehmen, der aufgrund seines
unproblematischen Charakters selten Gehör findet. Im Signifikationscode
finden wir zwar kulturellen Sinn, dieser bietet uns aber keine Nachricht,
die mehr als die kulturspezifische Kommunikationskonstruktion signalisiert.
Und dies bedeutet, wenn Sinn kein kommunikatives Zeichen ist, daß
vertraute Bildkultur lediglich partiell Symbolisches und gesellschaftlich
Relevantes kommuniziert [s.S. 233 (Ausnahme: Medium als Botschaft)].
Somit begründet sich die Behauptung von Seite 63f.: die Bildwahrnehmung
verwirklicht sich partiell in einer vorkommunikativen Situation, der hauptsächlich
in den Teilen soziale und kommunikative Relevanz zugesprochen wird, in denen
sie von der kulturellen Normalität abweicht. Sobald ein Ego nämlich
den kulturellen Darstellungsstil, den es mit »dem anderen« gemeinsam
hat, als kommunikativen Index vernachlässigt, verschiebt sich bei Bildern
die sozial-kommunikative zur faktischen Realität. Denn ein Ego bemerkt
hier kaum mehr, »wie« »der andere« sieht, sondern
es sieht vorrangig, »was« auch er sieht bzw. darstellt. Das
Bild als anwesende Umwelt verliert so geartet seinen Status als Kommunikation,
es täuscht zeitweise vorkommunikative Wirklichkeit vor.
Die Annahme einer vorkommunikativen Bildwahrnehmung wäre allerdings
fehlerhaft, wenn die kulturellen Sinnwelten bis auf vortheoretische Umwelten
hinunterreichen sollen. Berger und Luckmann wenden berechtigt ein, daß
"... eine symbolische Sinnwelt als solche ein theoretisches oder
mindestens ein synoptisches Phänomen ist und bleibt, auch wenn sie
naiv erlebt wird" [Berger u. Luckmann 1980/113]. Sobald aber die bildliche
Exemplifizierung (Sinzeichen) innerhalb eines kulturell vertrauten Bildstils
verläuft, können Bilder ohne Sprache und manchmal sogar ohne Zeicheninterpretation
vorkommunikativ wahrgenommen werden. Und sorgfältig überdacht,
beinhaltet dies eine kulturgemäße Anschauungsfähigkeit,
die Betrachtern das kulturell Vermittelte als anwesende Umwelt erscheinen
läßt. Denn der bildvertraute Betrachter läßt den kulturellen
Darstellungscode, die kulturelle Sinntautologie [s.S. 170], unbeachtet
und webt nur weniges von dem, was im Wahrnehmungsfluß an ihm vorüber
zieht, in soziale Interpretationskontexte ein. Dies verwirklicht sich für
ihn, wenn er einerseits den kulturellen Darstellungscode soweit internalisiert
hat, daß er diesen selten interpretiert, und andererseits wenn er
lediglich vereinzelte ikonische Sinzeichen, Blickmomente oder exemplarische
Situationen, die er medialen Bildströmen entreißt, im Boden sozialer
Interpretationen verankert. Folglich ermöglicht verinnerlichte Bildkultur
sinnorientierte Informationen, ohne daß diese als Nachrichten, Botschaften
oder kommunikative Zeichen verstanden werden müssen, weshalb Bilder
ihre Information als anwesende Bildumwelt verwirklichen können. So
geartet doubelt das Bild Wirklichkeit ohne soziale Realität.
Wenn dies ersteinmal eingesehen wurde, dann kann man leicht verstehen, was
die einfache Kontingenz (erste Ordnung) von Bildern kommuniziert. Der Bildbetrachter,
der unweigerlich einer spezifischen Sozialisation unterlag, aktualisiert
nämlich alle ihm möglichen Interpretationen, die ihm seine Herkunft
und seine Subjektivität pragmatisch im Sinne von Gefühlen, Reaktionen,
Sprache oder sonstigen Bedeutungen erlaubt. Der Betrachter dissoziiert die
anwesende Bildumwelt standortgebunden. Er sieht sich nämlich einer
organisierten Komplexität von Bildumwelten ausgeliefert, die er abhängig
von gesellschaftlicher Herkunft derart pragmatisch deuten muß, daß
er überhaupt ikonische, indexikalische und symbolische Bezeichnungsfunktionen
erkennen bzw. verstehen kann. Hinzu kommt selbstverständlich, daß
eine anwesende Umwelt auch Erfahrungen bzw. subjektive Erlebnisse erzeugt,
die nicht innerhalb einer kommunikativen Codierung der jeweiligen Kultur
und Gesellschaft adäquat konzeptualisiert werden können. Denn
das subjektive Erleben (Non-Ego) von anwesenden Umwelten hat erstens selten
Entsprechungen in soziokulturellen Kommunikationscodes, und zweitens sind
artikulierte Zeichen das Symptom von Wahrnehmungsbewußtsein. Demnach
eröffnet die internalisierte Bildkultur eine »zweite Umwelt«,
die, obwohl zweidimensional und oft verkleinert, die ursprüngliche
Umwelt verdoppeln bzw. wesentlich erweitern kann. Insbesondere televisionäre
Massenmedien vergrößern unvermeidlich stärker anwesende
Umwelten, als daß sie tatsächlich zu interpretierten Weltvorstellungen
führen. Dies folgt aus ihrem hohen Informationsgehalt, der kraft seines
Tempos nur lückenhaft in kommunikativer Bedeutungskomplexität
verfolgbar ist - man kann eben keinesfalls alles gleichzeitig interpretieren.
Und in einer solchen bildvermittelten Ersatz-Umwelt stellt Kultur zeitweise
anwesende Umwelten dar, die im vorkommunikativen Bewußtsein wahrgenommen
werden. Denn je stärker kulturelle Legizeichen repetiert werden, desto
weniger kommunizieren sie, und desto unaufmerksamer werden ihre kulturellen
Regeln in Anspruch genommen. Bei Befolgung der kulturellen Regel wählen
wir Betrachter nämlich nicht, sondern wir folgen "der Regel blind"
[Wittgenstein 1990/213 (219.)], um zu sehen, »was« für
Inhalte im kulturvariierten »Wie« der Formen mitgeteilt werden.
Die regelhafte Durchsicht (Perspektive) auf das dargestellte Objekt fungiert
gleichsam einer legizeichenhaften Kulturfolie, der selten selbst Aufmerksamkeit
zukommt, und in deren Hintergrund von Unaufmerksamkeit [s.S. 230f.]
anwesende Umwelten mitschwimmen. Zweifellos wird diese kulturvermittelte
Anwesenheit, die die ikonische Bezeichnungsfunktion verwirklicht, mit individuellen
Abweichungen annähernd monosemantisch gesehen, aber ihr polypragmatischer
Charakter läßt es dem Betrachter offen, was seiner Aufmerksamkeit
entgeht und was nicht. Das eigentlich Erstaunliche kommt auf, wenn vermöge
jener medialen Folie ikonisches Wissen kulturell festgehalten wurde, und
in diesem eine komplexe, aber anwesende Umwelt wahrgenommen wird, die in
verschiedenen Epochen, Gesellschaften und Kollektiven eine jeweils andere
Interpretation bzw. Pragmatik beinhaltet. So kann beispielsweise der Dokumentarfilm
"Triumph des Willens" von Leni Riefenstahl eine ikonische Wissensquelle
für Historiker sein. Jedoch steht keinesfalls zu erwarten, wie Maimann
meint, die Zeit im Bild könnte jedermann die "Herrenmenschenideologie
des Nationalsozialismus ... perfekt [vermitteln] ..." [Maimann
1984/150], oder aus dem Film würden politische und soziale Standards
augenscheinlich, indem der Historiker "... genau verzeichnet,
was er sieht" [Maimann 1984/149].
Wo solche Enthüllungen ankern, zeigen Interpretationen von ein und
demselben Bild deutlich auf, egal ob sie die hermeneutische oder ikonologische
Sicht bevorzugen. Zur Bekanntheit gelangte in diesem Zusammenhang Heideggers
[vgl. 1992/27] einfühlende Bildinterpretation. Er verstrickt van Goghs
Darstellung von "Schuhzeug" dahingehend in symbolische Ankerplätze,
daß es ein Paar Bauernschuhe wären, in denen sich die derbgediegene
Schwere eines langsamen Ganges über den Acker aufstauen würde.
Hingegen versichert Meyer Schapiro [vgl. Derrida 1992/325], es solle sich
um ein Paar Stadtschuhe von van Gogh höchstpersönlich handeln.
Zu dieser Verschiebung des ikonischen in symbolisches Wissen hätte
Heidegger vermutlich betont, "die Bodenlosigkeit des abendländischen
Denkens beginnt mit diesem Übersetzten" [Heidegger 1992/15]. Was
die unendlichen Bestimmbarkeiten einer anwesenden Bildumwelt schon implizieren,
zeigt Derrida [vgl. 1992/312, 330ff.]. Er beschreibt, wie sich die beiden
Interpreten, Heidegger und Schapiro, nahezu vorreflexiv mit unterstellten
Kulturvorstellungen von Paaren beruhigen, welche ihren sprachbekannten Referenten
in den Füßen einer bodenständigen oder industriell städtischen
Gesellschaft finden sollen. Für alle Interpretationen dieser Art, wobei
insbesondere die von Schapiro ästhetische Sinnübersetzungen möglicherweise
versäumt, hatte Gehlen, vom Gedanken intellektueller Usurpation angeregt,
treffend dargelegt:
"Die gestaltete [ikonische Informations-(?)] Dichte der [bildlichen]
Kultur[-folie] kann sich nur im Urteil einer kleinen Schicht geltungssicherer
Maßgeblicher stabilisieren oder in Anlehnung an allgemein Zugegebenes."
[Gehlen 1986/232]
Es kommt weniger darauf an, daß auch Gehlen einer der Maßgeblichen
sein will, der nach Dada-Kunst z.B. darüber verfügt, "wer
sich in Filz, Fett, alter Pappe, in Schokolade engagieren ..."
[Gehlen 1986/232] darf, und wer gegen systeminterne Tabus handelt. Triftiger
ist, wie ikonisches Wissen infolge der verinnerlichten Durchsicht von den
genannten Bildinterpreten auf das Niveau einer anwesenden Umwelt gebracht
wird, damit dieser im nachhinein eine gesellschafts- bzw. bildungsabhängige
Geltung und Interpretation zugestanden werden kann. Denn insbesondere Schriftgelehrte
verfolgen kaum die Kultur von ikonischem Wissen, wenn sie ihre verbale Urteilskompetenz
zu einem Kultursymbolismus ausbauen, der z.B. ikonischen Inhaltsaspekten
und Materialien der Bilder von van Gogh oder Beuys spezifische Statusfaktoren
zuschreibt. Bei solchen Interpretationen, die mehr über den Betrachter,
als über das Betrachtete aussagen, verlieren Bilder meist ihre genuinen
Wissenswerte, die sie per ikonischer Ähnlichkeit zeigen und nicht durch
kulturelle Symbolnetze verschleiern. Diese verdeutlichende Polemik stolpert
zugegebenermaßen über meine Unaufrichtigkeit. Gehlen [vgl. 1986/158f.]
hat unter anderem durchaus gesehen, daß sich moderne Kunstgestaltungen
tendenziell aller Tradition und Gegenständlichkeit entheben, wodurch
sie Gefahr laufen, sich mit dem selbstinspirierenden Künstler zu isolieren.
Es ist keinesfalls zu leugnen, daß Bilderwelten innerhalb des verbalsymbolischen
Bedeutungsfeldes über gesellschaftliche Relevanzparameter verfügen,
und teilweise abstrakte Kunst ohne Kommentar ortlos bliebe. Aber man kann
bestreiten, daß alles zur Anwesenheit von Bilderwelten gesagt wurde
bzw. gesagt werden kann. Gehlen weiß kulturgemäß von der
Parallelität zwischen sinnlicher Anschauung und Begriff. Er befindet
sogar im spekulierenden Sinn für heutige Bilder, es wäre bei ihnen
"... nicht mehr dahinter, als darauf ist ..." [Gehlen
1986/225; vgl. 8ff.]. Sobald nämlich Bilder als anwesende Umwelt wahrgenommen
werden können, sieht man nicht mehr, als man eben sieht. Und für
alles, was in Bildern gesehen wird, bestehen keinesfalls Denkzwänge
oder Kommentarbedürftigkeiten, die jedes ikonische als ein symbolisches
Zeichen interpretieren müßten. Es wäre für Kunst, die
die "Grenze der Wortfindung anrührt" [Gehlen 1986/186], wie
für triviale Medienbilder gänzlich absurd zu behaupten, allein
ihr symbolischer Status solle das menschliche Interesse am Bild tragen.
Denn der wahrnehmungs- und materialbezogene Erlebnischarakter erhebt ein
Bild zum Bild. Allzuviel Hintersinniges übermittelt weder optische
noch ästhetische Informationen, da diese zunächst anwesend sein
müssen, bevor ihnen irgendwelche symbolischen Regelverordnungen und
Interpretationen oktroyiert werden. Bilder verwirklichen bereits die Wahrnehmbarkeit
von anwesenden Umwelten, sobald Individuen im kulturellen Training die ikonische
Zeichenfunktion in scheinbar enger Beziehung zur dynamischen Gegenstandswirkung
durchschauen können.
Die kulturvermittelte Anwesenheit von etwas nötigt Individuen zwar
meist zur Interpretation oder zumindest zur Reaktion. Dies ist jedoch nicht
gleichbedeutend damit, daß Individuen es anstreben würden, jede
Wahrnehmungsinformation als kommunikative Hinterlassenschaft irgendeines
geheimnisvollen Senders zu interpretieren. Wahrnehmungsinformationen, die
aus Lichtenergie konstruiert wurden, besitzen keinen hintergründigen
Sender, den man erblicken kann, sobald man nur hinter das Bild schaut, denn
dort ist es für gewöhnlich dunkel. Ausschließlich Zeichen,
an denen wir indexikalische oder symbolische Bezeichnungsfunktionen erkennen,
lassen auf (gegebenenfalls geheimnisvolle) Mitteilende schließen,
die kommunikative Nachrichten mit symbolischem Charakter senden. Und aus
diesem Grund transferieren wir die kulturvermittelte Anwesenheit von Bildinformationen
in die pragmatischen Interpretationen, die wir in indexikalischer und symbolischer
Kompetenz noch aktualisieren bzw. in Performanz vermitteln können und
wollen. Der visuell informative Rest bleibt ein kommunikativ unvermittelbarer
Überhang, eine quasi anwesende Umwelt, solange wir für Botschaften
über Bilder und wirkliche Gegenstände keine weiteren Bilder nutzen.
Dies verdeutlicht sich näher im folgenden Abschnitt.
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Aus der Unterscheidung zwischen kulturellen Signifikationscodes und gesellschaftspragmatischen
Deutungsmustern ergeben sich weitere Konsequenzen zur Bildkommunikation.
Diese kommen dort auf, wo Kultur für die ikonisch anwesende Bildumwelt
sorgt, diese jedoch keinesfalls von jedem in gleicher Aufmerksamkeit interpretiert
wird. Die folgenden Absätze sollen deshalb der Frage nachgehen: Wie
lenken Bedeutungsvariablen den Wahrnehmungshandelnden auf eine anwesende
Umwelt, und wie beeinflußt diese den Handelnden? Dies soll mit der
Unterscheidung der Gegenstands- und Zeichenbedeutung konkretisiert werden,
damit deutlich wird, daß nicht ausschließlich kulturelle Sprachen
und Zeichen die Wahrnehmung lenken, wie etwa Whorf meinte, sondern auch
dynamische Materialwirkungen von Bildgegenständen.
Zunächst zur materiellen Wirkungserfahrung, die, wie gehabt, mit der
Gegenstandsbedeutung [Zweitheit] skizziert wird. Jeder Bildbetrachter wird
bemerkt haben, wie Farbe und Form qualitative Wirkungserfahrungen verursachen,
die in ihrer Besonderheit etwas vermitteln, was einem auffällt, worauf
sich die Aufmerksamkeit richtet. Man lernt dabei kennen, wie jede Transposition
eines Bildes in andere Materialien auch die Wirkung verändert. Für
solche qualitativen Nuancen entwickeln Individuen unvermeidbar Präferenzen.
Es ist demnach das Bildmaterial, das die Wahrnehmenden in einer Funktionseigentümlichkeit
erfahren, die sie als spezifische Anwesenheit bei sich verankern können.
Die körperbezogene Wahrnehmungserfahrung oszilliert zwar zwischen Anschauung
und Begriff, aber lediglich die sinnliche Anschauung kann sich der realen
Wirkung versichern. Daher ist die Wirkung des Bildgegenstandes als eine
Anwesenheit erfahrbar, obwohl womöglich wenig in kommunizierbaren Begriffen
oder Theorien verstanden wurde. Eine solche vorbegriffliche Erfahrung bezweckt
insbesondere Kunst, die mit spezifischer Materialität visuelle Aufmerksamkeit
herausfordert. Trotzdem muß man nicht, wie Holzkamp [1973], die Materialität
von Gegenständen unbedingt als historischen Prozeß menschlicher
Arbeit auffassen, um zu bemerken, daß kulturalisierte Materialien
orientierungsrelevante Wirkungen provozieren. Denn diese Wirkungen leiten
in jeweiliger Besonderheit eine Bedeutung, die jedesmal erst durch die Materialbeschaffenheit
selbst zur repetitiven Geltung kommt. Gleichwohl gilt für solche Materialwirkungen,
daß sie sowohl kulturspezifisch gehandhabt werden als auch soweit
in eine anwesende Umwelt absinken können, daß ihnen selten unwillkürliche
Aufmerksamkeit zukommt. Demnach nehmen Individuen kulturalisierte Materialqualitäten
und Gegenstandsbedeutung in Anspruch, indem sie, wie Blumer [vgl. 1973/80ff.]
meinte, die Dinge im individuellen Handeln selbst und auf der Grundlage
sozial verallgemeinerter Bedeutungen interpretieren. Andererseits beziehen
Individuen sinnliche Bildträger und gegenständliche Bedeutungsmomente
auch so weit in ihr Handeln ein, daß die kulturgemäß verwendeten
Materialitäten in einer Selbstverständlichkeit verwendet werden,
die im Alltag selten Aufmerksamkeit provoziert. Mit dieser Unaufmerksamkeit
verlieren materielle Medien weitgehend ihre provozierenden Wirkungseigenschaften,
wodurch sie eine anwesende Umwelt von gut vertrauten Erfahrungen werden.
Gewiß leiten kulturalisierte Materialwirkungen die Bildproduktion
und -perzeption nur so weit an, wie sie durch imitatives Lernen von Individuen
gleichförmig reproduziert und verwendet werden. Da Individuen aber
über undeterminierbare Kreativitätspotentiale verfügen, durchbrechen
insbesondere kreative Bildproduzenten unaufhaltsam kulturhistorische Prozesse.
Im Moment soll es jedoch darauf ankommen, in welche zwei Wirkungsbereiche
sich die kulturelle Gegenstandsbedeutung aufteilt. Die Folgerungen des vorhergehenden
Absatzes kündigten schon an, daß sowohl assimilierte Wirkungserfahrungen
unaufmerksame Handlungen ermöglichen, die im blinden Fleck der Kultur
in eine Anästhetik übergehen, als auch sensible Aufmerksamkeiten
sich zu einem pragmatischen Sichtfeld ausformen können, das akkommodierende
Ästhetikerfahrung kontingent initiiert. Mit diesem Begriffspaar von
Anästhetik und Ästhetik charakterisierte Welsch [vgl. 1993/10]
eine gewisse Unsensibilität konträr zur besonderen Sensibilität.
So nimmt beispielsweise ein Hobbyfotograf die materiellen Wirkungseigenschaften
von Fotografien im allgemeinen unsensibler wahr als ein Profi. Diese Differenzierungsfähigkeiten
beleuchten, wie figural-qualitative Materialeigenschaften von einer individuellen
Praxis (Zweitheit/pragmatic turn) begleitet werden, die sachlich dingliche
Wirkungseigenschaften mit standortbezogener Aufmerksamkeit begleitet. Denn
bei ästhetisch sensibler Wahrnehmung geht die Gegenstandsbedeutung
aus einer Wirkungserfahrung hervor, die vom Gegenstand aus die individuelle
Aufmerksamkeit beeinflußt, obwohl sicherlich einzelne Begriffe hinzupendeln
und provoziert werden.
Konträr zur ästhetischen, provoziert bei anästhetischer Wahrnehmung
die materielle Wirkungserfahrung kaum Aufmerksamkeit. Die Wirkungserfahrung
ist dem Individuum hier zur assimilierten Gewohnheit geworden, die in der
Gegenstandsbedeutung von anwesender Umwelt versickert. Bei anästhetischer
Wahrnehmung versinken Farb- und Formwirkungen in kulturelle Wahrnehmungsgewohnheiten.
Beispielsweise beeindruckte Giotto seine Zeitgenossen mit griechischer Eitempera,
die sich vom dunkelgetrübten Firnis byzantinischer Tafelbilder dadurch
absetzte, daß sie einst "... beängstigend naturwahr
durch ihre lichte Farbe ..." [Doerner 1980/182] erschien. Gleichfalls
kommen nur einem Europäer die grellfarbigen und kitschig anmutenden
Devotionalienbilder des indischen Hinduismus in ihrer Wirkungspräsenz
besonders außergewöhnlich vor. Und umgekehrt würde deren
schrille Tönung unsere religiösen Andachtsbilder gotteslästerisch
anmuten lassen, da Kritiker es bereits als Vandalismus bezeichnen, wenn
die Sixtinische Kapelle renoviert wird, um deren verblaßte Farbigkeit
in den vermutlich "ursprünglichen" Zustand zu versetzen.
Alle Beispiele verdeutlichen, wie die materiellen Wirkungspräsenzen
die Wahrnehmung beeinflussen, da zur "... Wahrnehmungstätigkeit
des Menschen stets und notwendig die mehr oder weniger adäquate Erfassung
sinnlich eingebundener Gegenstandsbedeutung ..." gehört [Holzkamp
1973/120]. Sobald allerdings die Wirkungseigenschaften nur assimilatorisch
wiedererkannt werden, verlieren diese sich schließlich derart traditionell
und konventionell in der Kultur, daß sie als kulturell anwesende Umwelten
von Gegenstandsbedeutungen beständig reproduziert und anerkannt werden.
Fortschrittsgemäß durchbricht die Werbe-, Presse- und Kunstbildwelt
zwar derartige Latenzen mit innovativen Farb- und Formwirkungen, die zur
Zeit nahezu vollständig auf neuen Bildmaterialkreationen der Chemie-
und Elektroindustrie beruhen. Am deutlichsten führt dies momentan die
Tagespresse vor, die ihr Layout auf Farbe umgestellt hat. Aber dieser meist
kurzfristigen Herausforderung einer ästhetischen Aufmerksamkeit und
begrifflichen Urteilsbestimmung folgt, wenn auch weniger auf der Produzentenseite,
so doch zumindest auf der Betrachterseite, unmerklich rasch die anästhetische
Wahrnehmung, die die kulturelle Handhabung eines materiellen Mediums ohne
weitere gegenstandsbezogene Relevanzparameter ermöglicht, und die Individuen
schlicht passiv-wahrnehmungsmäßig erleben [s.S. 103, 231].
Bereits die kulturalisierten Gegenstandsbedeutungen verführen Individuen
zu Wahrnehmungsprägungen und Wirkungseinschätzungen von Bildern,
wie diese universal keinesfalls vorzufinden sind. Von daher ist anzunehmen,
daß auch die wesentlich stärkeren Faktoren des sozialen Lebens,
also die Kommunikationsfunktion der Zeichen im allgemeinen und der Sprache
im besonderen, Kräfte ausüben, die die wahrnehmungsmäßige
Differenzierungsweise antizipatorisch vorsteuern können. Wie diese
These zu begründen ist, möchte ich zunächst für die
verbalen Zeichen zeigen, da diese willkürliche Aufmerksamkeit lenken
und somit die Bildumwelten mit Relevanzparametern überziehen. Die folgenden
vier Absätze sprechen deshalb die Bildwahrnehmung an, woraufhin die
Darstellungsseite folgen wird.
Schon Whorf bot die Hypothese an:
"Die Begriffe der "Zeit" und der "Materie" werden
nicht allen Menschen durch die Erfahrung in gleicher Weise gegeben. Sie
sind ihrer Form nach vielmehr abhängig von der Sprache oder den Sprachen,
in deren Gebrauch sie entwickelt wurden." [Whorf 1963/100]
Mit dieser Annahme deutet er auf diverse Fälle hin, in denen soziokulturelle
Gebrauchsweisen der Sprache (fashions of speaking) die Erfahrung beeinflussen.
Diese symbolischen Gebrauchsweisen leiten die Koordination von Koordinationen
(Handlungen, Wahrnehmungshandlungen) an. Daher strukturieren sie die Ordnung,
die vorsteuert, was die Analyse der Erfahrung erbringen wird. Whorf [vgl.
1973/152ff.] geht sogar noch weiter, denn seiner Untersuchung nach wird
manchmal die sprachliche Realitätskonstruktion mit handfesten Fakten
verwechselt. Dies gilt ebenfalls manchmal für ikonische Realitätskonstruktionen.
Da Bilder eine faktische Wirklichkeit innehaben, interessiert, wie Benennungen
die Bildwahrnehmungen koordinieren. Die wahrnehmungspsychologischen Untersuchungen
von Ulmann [vgl. 1975] und Jörg [vgl. 1978] kamen hier, trotz unterschiedlicher
Theoriestandpunkte, zu übereinstimmenden Ergebnissen bei konkret sinnlicher
Wahrnehmung. Beide relativieren die Whorfsche Auffassung. Sie billigen der
Sprache eine Fähigkeit zu, die kraft allgemeiner Kategorisierungsebenen
über distinktive Eigenschaften hinwegtäuscht. Demgegenüber
sehen sie aber auch ein sprachunabhängiges Differenzierungsvermögen
von Individuen realisiert. Gemäß jener beiden Untersuchungen
steuern verbale Bezeichnungen grobe Kategorisierungsebenen, die insbesondere
bei benannten Bildern und Bildteilen zu verminderten Unterscheidungsleistungen
führen, da visuelle Ereignisse irrtümlicherweise äquivalenten
Begriffskategorien zugeordnet werden. Sprache subsumiert demnach anwesende
Bildumwelten unter kulturellen Einheiten (Signifikaten), die die Häufigkeit
von fälschlicher Identifikation erhöht. Andererseits verdeutlicht
Jörg [vgl. 1978/117ff.], daß die Wiedererkennungsleistung bei
unbenannten und benannten Wahrnehmungen gleich ausfällt, wenn die Quote
der korrekten Identifizierungen herangezogen wird. Diese Ergebnisse verdeutlichen
zwei Meinungen: 1) Sprache übernimmt die Funktion eines soziokulturellen
Interpretationsgitters, welches Wirkungseigenschaften von anwesenden Umwelten
deutlich rücksichtsloser generalisiert, als es erfahrene Gegenstandsbedeutungen
vermögen bzw. zulassen. 2) Mittels Sprache wird keineswegs mehr
wiedererkannt als ohne Benennung oder vorsprachliche Wahrnehmungsweisen
von Bildern.
Demnach sind sprachliche Benennungen nicht notwendig, um etwas im Bild wiederzuerkennen.
Vielmehr bringt das ikonische Wissen auch Unbenanntes zur wiedererkennbaren
Anwesenheit. Soll indessen von dieser vermittelten Anwesenheit ikonischer
Bilder abstrahiert werden, dann müssen Generalisierungen aktualisiert
werden, die die anwesende Bildumwelt in sozialkommunikative Codierungen
indexikalischer und symbolischer Darstellung transformieren. Geschieht dies
nicht, dann verbleibt ikonisches Wissen im Schweigen des Betrachters. Denn
es muß für Menschen davon ausgegangen werden, daß alle
Zeichen eine Klasse von subsumierenden Abstraktionen einer anwesenden Umwelt
vortragen. Zweifellos enthebt eine Person, die durch Wiedererkennen die
ikonischen Bildformen in Gebrauch nimmt, diese für sich selbst der
anwesenden Umwelt; die Person sieht der Bildform kulturell indizierte Bildlichkeit
an. Was die Person aber in erster Ordnung einer anwesenden Bildumwelt vorkommunikativ
gesehen hat, das kann sie nur über die zweite Ordnung der kulturellen
Signifikationscodes mitteilen. Will sie nämlich die Aufmerksamkeit
der anderen auf die ikonische Anwesenheit lenken und gleichzeitig auf weitere
nachahmende bzw. bildliche Darstellungen verzichten, dann kann sie dies
nur, wenn sie eine kommunikative Codierung wählt, die indexikalische
(meist non-verbale) oder symbolische (meist verbale) Bezeichnungsfunktionen
beinhaltet. Und man enthüllt derzeit kaum Geheimnisse mit der Meadschen
[vgl. 1988] Feststellung, daß jene Person auch jene beiden Bezeichnungsfunktionen
weitestgehend von ihrer Kultur erlernt hat, weshalb der Index und das Symbol
die individuelle Aufmerksamkeit den anderen verwandt auf kulturrelevante
Merkmale lenkt. Kurzum: man kann zwar vieles in ikonischen Sinnkontexten
visuell wiedererkennen, jedoch wird das Wiedererkannte in einen interpretierten
Bedeutungsrahmen eingeflochten, der seine willkürliche Aufmerksamkeit
verbalen Begriffen und indexikalischen (non-verbalen) Referenzvorstellungen
der jeweiligen Kultur verdankt, sobald eine sozial-kommunikative Relevanz
angestrebt, mitgeteilt und interpretiert werden soll.
Zweifellos erlangt ikonisch Wiedererkanntes auch individuell motivierte
Bedeutungen, die das zum Ausdruck bringen, worin sich ein Individuum selbst
ästhetisch/emotional im Bild "wiederfindet". Aber, und dies
ist eine kommunikative Sperrung, das Individuum kann seine "Selbstfindung"
und Affinität erst dann vermitteln, wenn diese für jemand anderen
einen indexikalischen oder symbolischen Verweis auf die ikonische Bezeichnungsfunktion
(101) enthält. Das Individuum könnte lachen, erschrecken, berührt
sein, darauf zeigen oder sprechen. Dies begründet, daß singulär
wiedererkannte Ikons im Bild für niemand anderen, und auch für
jenes Individuum keinesfalls selbst etwas anderes bezeichnen würden,
sobald indexikalische (Verhaltens-/Reaktion-/Handlungsweisen) oder symbolische
Äußerungen unlokalisierbar wären, wenn also das Gesehene
interaktiv und kommunikativ bedeutungslos bliebe. Bei individueller Interpretation
und zwischenmenschlicher Kommunikation entfällt demnach die Bezeichnungsfunktion
der ikonischen Ähnlichkeit, falls deren Index unbemerkt bleibt oder
in Vergessenheit gerät. Dieser Verlust der Kommunikation zeichnet sich
ebenfalls dort ab, wo die permanente Indizierung der Bildfunktion als visuelle
Kommunikation kaum noch Interpretationen bewirkt. Deshalb betrachten wir
in zeitweiser Vergessenheit der eigentlichen Funktionsindizierung meist
anwesende Bildumwelten, zu denen wir sagen, wir sehen ein Auto, einen Baum,
ein Tier usw., obwohl wir ein Bild von einem Auto, einem Baum und einem
Tier sehen. Oder wir reagieren auf (manchmal minimale) Differenzen des Veranschaulichten,
indem wir z.B. in Gesichtern eine Glücklichkeit, Trauer oder Melancholie
wahrzunehmen meinen. In solchen Fällen verliert die ikonische Ähnlichkeit
ihre Bezeichnungsfunktion, da wir mit Worten und Reaktionen unsere Aufmerksamkeit
darauf lenken, »was« wir in Bildern sehen und nicht darauf,
»wie« Bilder kulturell per "optischer Nachahmung"
an ohnehin selten überprüfbaren Fakten etwas veranschaulichen.
Solange nämlich ein Ikon jemandem so erscheint, als ob es Eigenschaften
von Gegenständen oder vorgetäuschten Umwelten hätte, solange
erzeugen Bilder optisch anwesende Umwelten, in und an denen erst indexikalische
oder symbolische Bezeichnungen auffallen müssen, wenn über die
visuell kommunikative Information hinaus eine interaktionistische Kommunikation
zweiter Ordnung erfolgen soll.
Diese Interpretation einer optischen Information als kommunikative Nachricht
verdeutlicht, wie indexikalische und überwiegend verbal-symbolische
Bezeichnungsfunktionen antizipatorisch auf kulturvermittelte Ähnlichkeiten
hinlenken, wenn deren Anwesenheit etwas kommunizieren soll. Der Möglichkeit
nach können Bildbetrachter zwar Zahlloses wiedererkennen, größtenteils
richten sie aber ihre Aufmerksamkeit (wie an Augenbewegungen ermittelt)
auf die Merkmale, die für sie indexikalische oder symbolische Bezeichnungsfunktionen
beinhalten, da allein diese beiden für sie interpersonale Geltung,
Relevanz und Nachricht in sozialen Kommunikationscodes erhalten können.
Die ikonische Nachricht »diese optischen Informationen seien irgendeinem
Gegenstand bezeichnend ähnlich« dirigieren deshalb die kulturellen
Signifikationscodes, die in sozialen Kontexten vorwiegend interpretierbare
Bedeutungsunterschiede (Nachrichten) einer Mitteilung zulassen, wie die
Interpretation von indexikalischen Merkmalen, künstlerischen Gesten,
Mimiken, angezeigten Stimmungen, verbalisierbaren Symbolen, Verhaltensweisen,
Handlungsweisen usw. beweist. Hieraus folgt Dreifaches:
1) Zur generalisierten Abstraktion von anwesenden Umwelten nötigt die
indexikalische bzw. symbolische Kommunikation, die Aufmerksamkeit auf Merkmale
ikonischer Sinncodierung lenkt und manchmal über diese hinweglenkt.
Es wird in anwesenden Bildumwelten oftmals dasjenige assimilatorisch wiedererkannt,
worauf die kulturbekannten Anzeichen und Symbole die individuelle Wahrnehmungshandlung
hinführen.
2) Verbale und indexikalische Kommunikation instruiert einzelne Wahrnehmungshandlungen
derart antizipatorisch, daß bezüglich anwesender Umwelten vorrangig
die Nachrichten thematisiert werden, die die beiden Kommunikationsformen
zulassen und epochengemäß problematisieren.
3) Das Übrige verliert in dem Verständigungsrahmen vermittelbarer
Interpretation (102)
seinen Ausdruck, obwohl es in der anwesenden Umwelt von ikonischem Wissen
zeitweilig ästhetisch erfahren wird. Die strukturelle Kopplung an Darstellungscodes
läßt uns zwar vieles sehen, aber wir können Interpretanten
allein soweit interaktiv vorweisen, wie wir etwas im Bild als etwas Vermitteltes
aus der eigenen Interpretationsfähigkeit des Kennens sowie Wissens
erfassen und darstellen können.
In Übertragung gilt die zweite Folgerung ebenfalls für ikonische
Signifikationscodes. In diesen wird dasjenige gebildet, was in vielen Fällen
eine projizierte Relevanz für Individuen und Gesellschaften besitzt,
bzw. was der kulturelle Darstellungscode an Konzeptualisierungen zuläßt.
Auf den Seiten 100 u. 199 wurde überdies darauf hingewiesen, daß
Wahrnehmungshandlungen bezüglich einer Wirklichkeit auch von ikonischen
Sinncodierungen (z.B. biologische Darstellungen) instruktiv verändert
werden, sobald deren Kartographien als (indexikalische) Handlungsanweisung
für visuell-empirisch überprüfbare Wirklichkeiten verstanden
werden. Dieser mitgeteilte Überprüfbarkeitsaspekt beinhaltet jedoch
nur ein kommunikatives Prinzip neben vielen anderen, die die Darstellungsmodalitäten
und Handlungsorientierungen bezüglich ikonischer Sinncodierungen beeinflussen.
Sobald die indexikalische und verbalsymbolische Einflußnahme auf bildliche
Darstellungshandlungen zu klären ist, treten etliche Erklärungsschwierigkeiten
auf.
Die Differenz zwischen Bildrezeption und Bildproduktion läßt
eine erste Hürde entstehen, die sich in der aufgezeigten Unvereinbarkeit
der visuellen Wahrnehmung mit der figurativer Erkenntnis wiederfindet [s.S. 89].
Das Piagetsche Verständnis von »figurativer Erkenntnis«
bietet es an, diese in den Begriff des ikonischen Wissens zu überführen,
da sich Darstellungskonzepte in kulturelle Wissenscodierungen und nicht
in die wahrnehmbare Natur einpassen. Demgegenüber widersetzt sich dieser
Anpassung an ikonische Wissensnormen ein grundlegender Aspekt, den Piaget
vorbringt. Er entdeckt in Bildgestaltungen einen individuell motivierten
Bedeutungsursprung, der in sozialen Begriffskontexten (103) partiell inkommunikabel
ist [s.S. 75]. Deshalb kann die Diskrepanz, die zwischen den individuell
motivierten Bedeutungsursprüngen und dem Erlernen kultureller Wissenscodierungen
liegt, nur dadurch adäquat beschrieben werden, daß Individuen
einerseits kulturelle Konzeptualisierungen bildlicher Darstellungscodes
erlernen, während sie andererseits potentielle Wahlfreiheit darüber
erlangen, wie sie individuell motivierte Bedeutungen in den subjektiven
Sujets der ikonischen Objektbezüge variieren. Mit ikonischen Beschreibungen
realisieren Bildner zwar meist monosemantische Sichtbarkeit, diese kommt
jedoch unter subjektiven Gesichtspunkten ohne interpersonale Begrifflichkeit
oder Bedeutung aus. Denn die kulturell tradierte Sichtbarkeit der bildlichen
Darstellungscodes läßt jede Bedeutung offen. Sie erhält
erst dann mehr als individuell motivierte Bedeutung, wenn sie interpersonale
Bedeutungen erlangt, die in manchen Interpretationen der indexikalischen
und symbolischen Objektbezüge konventionalisiert sind. Demnach löst
sich der Bildner im Moment individuell motivierter Bedeutungsursprünge
von der kulturellen Schatzkammer verbaler Konzeptualisierungen. Mit seinen
Bildern sickern in die Kultur quasi anonyme Thematisierungen ein, deren
produktive Imaginationen insofern anwesende Bildumwelten vorführen,
wie diese auf verallgemeinerte Bedeutungen warten. Lediglich der kulturelle
Darstellungscode, welcher kollektiven Dispositionen folgt, gibt Bildern
einen demonstrativen Aufwärts- und Kreiseldrall mit, der zur sozialen
Bedeutungsinterpretation anregt; man könnte dies den kommunikativen
Topspin nennen, der Bilder (Trompe-l’œils) über anwesende
Umwelt hinaushebt. Die kreativen Potentialitäten von unzentrierten
Vielheiten, die die ikonischen Objektbezüge ermöglichen, reichern
somit die Kultur um mehr oder minder symbolisch zu thematisierende Innovationen
an.
Man bemerkt sofort, in Kunstbildern dominieren individuell motivierte Bedeutungen,
die auf der Betrachterseite lediglich auf eine ästhetische Bedeutungshaftigkeit
oder einen emotionsmotivierten Sinnkonsens hoffen können. Wenn nämlich
"Signifikationsmodi ... bloße Abstraktionen von Gebrauchskriterien
[sind]" [Zimmermann 1980/40], die sich im fortwährenden Gebrauch
stabilisiert haben, dann wird deutlich, daß sprachliche Generalisierungen,
beispielsweise an modernen Formen der "konkreten Malerei", (104) scheitern,
insofern symbolische Geltungs- und Gebrauchskriterien erst noch zu entwickeln
sind. Will man demgegenüber gesellschaftliche Einflüsse auf ikonische
Darstellungshandlungen lokalisieren, so können sie lediglich in der
Syntaktik der Formen sowie in der Semantik der Objektbezüge und interpretierten
Bedeutungen maßgeblich sein, in denen Traditionen oder zumindest schwache
Konventionen anzutreffen sind. Denn das Inkommunikable entsagt sich zwangsläufig
demjenigen Eingriffsspektrum, dem über interpersonale Normierungen
eine regelhafte Verfestigung zukommen kann. Die möglichen Eingriffsspektren
einer soziokulturellen Beeinflussung errichten ausschließlich Reglements,
die auch kollektiv gebildet werden. Fest umrissen heißt dies, daß
das in Bildern subjektiv Dargestellte dort von Kultur und Gesellschaft beeinflußt
wird, wo sich Darstellungsregeln (Stilideale), indexikalische und symbolische
Objektbezüge zu interpersonal thematisierbarer Bedeutung etabliert
haben. Ändern sich diese interpersonalen Relevanzparameter, weil beispielsweise
einzelne Werte bzw. Geschmacksrichtungen reformiert wurden oder neuartige
Sachverhalte zu problematisieren sind, folgen die ikonischen Objektbezüge
meist diesen Veränderungen, soweit diese sich im interpersonalen Anspruch
in allgemeiner Weise formulieren. Der sozial anforderungslose Überhang,
dem durch den Darstellungscode zur ikonisch anwesenden Umwelt verholfen
wird, bleibt der subjektiven Differenzierung des Bildners überlassen.
Aufgrund dieses anforderungslosen Überhangs verfügt die Darstellung
von ikonischen Wissenskonzepten immer über eine "»private«
Komponente" [vgl. Schütz u. Luckmann 1979/147], die kulturelle
Konventionen nur schwach exemplifiziert. Es wäre jedoch unrichtig,
wenn das interpersonal Begründete mit Kultur und das Unbegründete
(im Privaten) mit Natur assoziiert werden würde, da es schlechterdings
nicht angeht, "... beim Menschen eine erste Schicht von 'natürlich'
genannten Verhaltungen und eine zweite, erst hergestellte und darübergelegte
Schicht der geistigen oder Kultur-Welt unterscheiden zu wollen" [Merleau-Ponty
1966/224]. Die privat begründete Komponente beinhaltet deshalb nur
eine subjektiv allgemeine Approximationshoffnung, die sich nach kultureller
Möglichkeit in einen ästhetisch [s.S. 43] offenen Wohlgefallenskonsens
integriert, welcher selbst bei Fachleuten - so Bourdieu [vgl. 1982/98] -
in den ästhetischen Taxonomien meist unausgesprochen mitläuft.
Wenn nach stabilen Konventionen gefragt wird, die bildliche Darstellungshandlungen
beeinflussen, dann lassen sie sich darauf einengen, daß sie ausnahmslos
in den symbolisch oder indexikalisch konzeptionierten Werthaltungen und
Problematisierungen vorkommen, die im Bezugsrahmen der Kommunikation interpersonal
als Regel, Konvention und kultureller Stil etabliert wurden. So soll beispielsweise
die Modedesignerin Jil Sander, trotz ihres mittleren Alters, dem verbal
vermittelten Wert von ewiger Jugend genügen. Nach entsprechender Kosmetik
verwirklicht der Fotograf dies am unauffälligsten, wenn er mit kultureller
Beleuchtungstechnik ein Frontallicht erzeugt, welches indexikalische Altersfältchen
verschwinden läßt. Hier lenken symbolvermittelte Wertschätzungen
einen Teil der konventionalisierten Darstellungsparameter.
Das bekannteste Beispiel der soziokulturellen Einflußnahme auf regelgeleitete
Darstellungsstile von Bildern bietet hier nochmals die Zentralperspektive.
Sie scheint in historischen Rekonstruktionen eine Reaktion darauf zu sein,
daß interpersonal überprüfbare Problemlösungskapazitäten
gesucht wurden, wie über die Dreidimensionalität des Raumes mathematisch
exakt benachrichtigt werden kann. Inspiriert wurde sie vermutlich von Intervallen
und Proportionen, die für die Meßtechnik im 15. Jahrhundert
entwickelt wurden, um den Handelsverkehr zu objektivieren [vgl. Baxandall
1987/105 u. Goldstein 1988/82/147]. Ein Kennzeichen haben die Perspektive
und die Meßtechnik jedenfalls gemeinsam: beide leiten ihren Objektivierungsanspruch
aus einem mathematisch verfaßten Darstellungsstil ab. Dieser mathematische
Darstellungsstil ermöglicht die starke Kontrolle darüber, ob der
einzelne und seine Naturbetrachtung sich in die monokulare Perspektive der
homogenen Kollektivsicht nachmeßbar einpassen. Weichen Bildner hingegen
von der Perspektive ab, so verlieren sie zumindest heutzutage die symbolischen
Geltungsansprüche, die das bildlich Dargestellte als ikonisches Wissen
über eine faktische "Welt" behaupten. Deshalb verwirklicht
seit geraumer Zeit insbesondere die Perspektive die visuell kommunikative
Vergesellschaftung. Sie konnte es nämlich mit ihren monosemantischen
Visionen erreichen, daß private Wissenskomponenten weitgehend durch
kollektive Kontrolle entsubjektiviert und diszipliniert wurden. Hiermit
sollte deutlich geworden sein, daß die Kollektivierung der kulturellen
Darstellungsmodalitäten dort erfolgt, wo ein Konsens über einzuhaltende
Konventionen kommunikativ generalisierbar ist. Denn selbst die Perspektive
läßt durchaus offen, welche ikonischen Objektbezüge subjektives
Interesse und individuell motivierte (rhematische) Bedeutung finden.
----Fußnoten----
(101)
[s.S. 38 u. genauer S. 316 "kommunikative Funktion von
mimetischer Ähnlichkeit"]
(102)
Beispielsweise verstehen heutige Betrachter von Bildern des 15. Jahrhunderts
die Botschaft der Farbe Ultramarinblau vermutlich selten im gemeinten
Sinne. Denn diese Farbe sollte den Reichtum des Auftraggebers symbolisieren
und seine besondere Wertschätzung einzelner Figuren indizieren [vgl.
Baxandall 1987/20].
(103)
Ich übersetze hier die Terminologie von Piaget [vgl. 1983/56], da
er nur Zeichen als sozial auffaßt, während er Symbolen und
Symbolisierungen einen individuellen Ursprung zuschreibt, der im operationellen
Denken und in Bildern etwas nicht Gegenwärtiges repräsentiert.
(104)
"Dem Begriff entzogen, die Anschauung erfüllend, fordern diese
Bilder das Anschauen, sonst nichts. Und gerade deshalb fordern sie, in
ihrer Unbegrifflichkeit dennoch begriffen zu werden. Als »konkrete
Malerei ..., weil nichts konkreter ist, nichts realer als eine Linie,
als eine Farbe, als eine Fläche«, bezeichnete Theo van Doesburg
die sonst abstrakt genannte Kunst in seinem Manifest von 1930." [Bockemühl
1985/13 (Auslassungspunkte sind zitiert); vgl. Pawek 1963/66]
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