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Wissen als solches, sei es noch so geistreich, erkennt nicht das einzelne
Genie an, sondern Gruppen oder Gesellschaften, die einige Erwartungshorizonte
erfüllt und andere erweitert sehen. Weil laut Luhmann, Individuen nichts
wissen, muß man sagen: nicht Luhmann selbst, sondern "seine"
Theorie würde, da diese äußerte, "wir müssen viel
mehr Gefängnisse bauen, und nicht mehr Autobahnen" [Luhmann 1992b/52],
das oben angesprochene Genie unverzüglich in die Psychiatrie wegschließen
wollen. Denn Genies könnten ja "... Enthusiasten, Fanatiker
und was immer sein, aber nicht Wissende" [Luhmann 1992/126, vgl. 218,
351, 718f.; 1987/197]]. Ästhetisches und subjektives Kennen, welches
außerhalb von konventionellen Erwartungssicherheiten steht, greift
die Systemtheorie Luhmanns in einem Verfahren auf, das dem Urteil der römischen
Kirche über Galilei [s.S. 100] vergleichbar ist. Denn jede Verleugnung
des binär codierten Systems wäre dann die Häresie von Verrückten
oder gar “Lebendigen” sein. Auch wenn es jene soziologische
Lehre nicht hundertprozentig ernst damit meint, daß häretische
Kunst bestehende Formen nur verletzen kann, da ihre Codeverletzungen als
kommunikative Störung (Rauschen, noise) auffällt, so würde
gleichfalls das Genie sich selbst verkennen, falls es durchschaut, daß
es sich ausschließlich außerhalb kultureller Konventionen wiederfinden
kann. Dies Extrem ist gewiß nie aufzufinden, aber es verdeutlicht,
warum Genies (z.B. Raffael, Leonardo, van Gogh), die sich in Patronagen
oder ökonomischen Notlagen isolierten, laut Allsopp [vgl. 1974/205]
sehr eigenständige Erkundungssatelliten sein konnten (mußten).
Aus ungewöhnlichen Umlaufbahnen funkten sie subjektive Darstellungsformen
in kulturelle Kommunikationskontexte, ohne unverzüglich auf dem ikonischen
Wissensplaneten, also ohne auf dem »nicht selbst leuchtenden Wandelstern«
des Wissens von Massen, Anerkennung und Aufenthaltsorte zu finden. Der selbstkreierte
Wissensplanet kreist also nicht um uns, sondern wir kreisen um seinen unfixierbaren
Aufenthaltsort, den wir aus mehr oder weniger weit entfernten Satellitenpositionen
anfunken, um zumindest einige Wissensabschnitte interpretativ zu erhellen
und dadurch zu modifizieren. Eine Gesellschaft ohne kommunikative Satelliten
mit eigenständiger Umlaufbahn wäre deshalb kaum innovativ, sondern
befangen in Illusionen eines ästhetisch fixierten Überichs, das
auf konventionelle Bahnen zwingt.
Es ist vielfach beredet worden: "Durchschnittssatelliten", also
Durchschnittsbetrachter, die die visuell-kommunikative Kompetenz und ästhetische
Risikofreude nur mäßig aufbringen, lassen die Kunst, die im ästhetischen
Experiment tradierte Kulturformen sprengt, unbeachtet oder empfinden sie
als provozierend fremd. Hinter der Vertrautheit mit alltäglichen Formtypen
(Legizeichen) verbirgt sich ein Großteil von dem, was in der Kunsterfahrung
breiter Bevölkerungsschichten an stereotypem Formgefühl und bruchstückhaftem
Kunstwissen zutage tritt. Verkürzt um den entscheidenden Teil von Erfahrungen
taucht die fehlende Vertrautheit im »cultural lag«, d.h. im
nachlaufenden Kunstbewußtsein (Arrieregarde), wieder auf [hierzu Pfaff
1972/55]. Die These vom »cultural lag« trifft aber nur dort
zu, wo ein elitäres oder selbstreferentielles Kunstsystem sich den
allgemein erreichbaren Erfahrungsräumen entzogen hat, oder wo für
Betrachter aufgrund sozialer Herkunft und mangelnder Unterweisung die Bildungsgrade
unerreicht bleiben, die ihnen ästhetische Spektren einer künstlerischen
Bildkommunikation plausibel machen [letzteres vgl. Bourdieu 1982]. Deshalb
können die Darstellungsformen der Konsumwelt, die seit ihrer wertindizierenden
Stilisierung im Werbedesign niveauvoll aufzutreten meinen, nur dort eine
Ursache für Geblendetheit hinsichtlich der Kunstformen sein, wo sie
von diesen abweichen. Zwar versucht die populäre Konsumwelt, künstlerische
Darstellungsformen zu übernehmen, dabei kopiert sie aber allenfalls
die Formen und nicht die künstlerische Botschaft. Für kommunikative
Zeichenphänomene ist es daher abwegig, wenn man mit Langer [vgl. 1984/259;
vgl. Gaube 1987/81] annimmt, "Geblendetheit" würde aus den
Erfahrungen mit räumlichen Gegenständen resultieren. Wie kultur-
und epochenvergleichende Bildbetrachtungen - z.B. eines Baumes -
attestieren, hat die materielle Umwelt nahezu keinen Einfluß darauf,
welcher Darstellungscode für ikonisches Wissen und welches Medium gewählt
wird. Ikonisches Wissen ist eine Frage von tradierten Darstellungskonventionen
und -innovationen der visuellen Kommunikation. Der blendende Augenschein
vertrauter Alltagsdinge schlägt sich nicht in den Ähnlichkeiten
nieder, die wir in den sinnhaltigen Formen der Kunst erkennen. Diese Position
formulierte zu Beginn der modernen Malerei Cézanne: "Die Kunst
ist eine Harmonie parallel zur Natur ..." [in Hess: 1988/24].
Ein interpretierendes Formgefühl geht aus dem Umgang mit bildlichen
Formen hervor. Die Vertrautheit mit sehr innovativen Darstellungsformen,
wie sie selbst die Konsumwelt erzielt und aus Gründen der Aufmerksamkeit
wiederholt durchbricht, würden bei größerer Öffentlichkeit
durchaus mit Kunstbildern zu erreichen sein. "Geblendetheit" unterliegt
keinem Wandel, weshalb beispielsweise manche Formveränderungen von
Werbebildern in den letzten zwanzig Jahren undenkbar wären. Vertrautheit
mit einem spezifischen ikonischen Darstellungscode sollte besser lerntheoretisch
hergeleitet werden, damit deutlich bleibt, wie sich die visuell kommunikative
Kompetenz aus dem lebensweltlichen Umgang mit Bildkommunikation entwickelt.
Beispielsweise wuchs das Vertrauen gegenüber Bildern, die mittels der
Camera obscura hergestellt wurden, bei den holländischen Malern des
17. Jahrhunderts erst allmählich aus den Umgang mit diesen neuen
Formen [vgl. Alpers 1985/89].
Den neuen Formen, die mit der Camera obscura erfunden wurden, gestand man
nach und nach einen kulturellen Wert zu. Ein Wert, der deshalb entstand,
weil diese Formen etwas optisch Neues und für die Epoche Essentielles
mitteilten. Groys [vgl. 1992/152, 141, 129f.] schätzt daher Individuen
inkorrekt ein, wenn deren mögliche Geblendetheit und Geschmacklosigkeit
primär über kulturelle Werte präjudiziert sein soll, und
dabei kulturelle Kommunikationsstrukturen, ohne die valorisierte Kultur
undenkbar wäre, eine sekundäre Rolle übernehmen sollen. Kommunikation
und Sinn ist die Prämisse für valorisierte Kultur und nicht umgekehrt.
Gleichwohl legt Groys im hier übertragenen Kontext eine Spur, die verdeutlicht,
daß das valorisiert Kreative, das Neue bei vollständiger Kommerzialisierung
dem gegenständlich Profanen übergeben wird, und somit kraft des
entstehenden Gewohnheitswissens nahezu nichts mehr von besonderer Bedeutung
bezeichnet, also vorkommunikativ wird. Allerdings überspannt Groys
seine Ansicht, wenn er im profanen Ding einer Kultur gar nichts mehr bezeichnet
sieht, und es deshalb "selbst zur Wirklichkeit" [Groys 1992/152]
werden läßt. Ein Ding, das seine kulturelle Herkunft nicht indizieren
kann, hat nicht nur keinen kulturellen Wert, es erhält überhaupt
keinen Ort in der Kultur als Kultur.
Das Wechselspiel zwischen Geblendetheit und Vertrautheit verlängert
sich bis in die visuelle Kommunikationssituation hinein. Herkömmlicherweise
bringt ein Individuum das ikonische Wissen zum Ausdruck, was es einerseits
in sehr persönlichen und kreativen Sinzeichen und andererseits in vertrauten
und tradierten Segmentierungen von Darstellungsformen unterbringen kann.
Seine visuell kommunikative Performanz korrespondiert mit der biographischen
Lernsituation, in der es die Fertigkeit der Bildherstellung kennenlernt.
Diese Voraussetzung ist das elementarste Ereignis, bei dem Personen das
"soziale Apriori" [Schütz u. Luckmann 1979/334] der tradierten
Signifikationscodes einüben.
Man muß derzeit kein Hellseher sein, um zu registrieren, daß
maschinell gestützte Bilderzeugungen die manuellen Fähigkeiten
aus dem Kennenspool von Individuen weitgehend eliminieren. Die Anforderungen
an die Wahrnehmungskompetenz erhöhen sich heutzutage zwar ständig,
doch entwickeln sich die Anforderungen an die körperliche Performanz
gegenläufig. Die Zufälligkeiten, mit denen sich Personen in handwerklicher
Bildumsetzung am Ort ihres Wissens einfinden können, glätten die
automatischen Bildkonventionen tadellos. In dieser Automatik stellen die
(Foto-)Bildapparate jedes Individuum automatisch in den kulturellen Kontext.
Infolgedessen finden Individuen ihr dargestelltes Wissen ohne besondere
Phantasiebemühungen dort wieder, wo sich der Ort des generalisierten
Anderen längst manifestiert hat. Das Individuum büßt demnach
die figurative Erkenntnis ein, von der Piaget [vgl. 1978/477ff., 514]
sagt, sie wäre ein kognitiver Plan, der in aktiver Intelligenz einige
Merkmale, die im optischen Realismus gesehen wurden, so bezeichnet, daß
sie als figural-symbolisch verstanden gelten können. Der Automatismus
der Bildapparate verwirklicht eine figurative Erkenntnis a priori, die das
Verstehen verliert, das Glasersfeld mit Vico wie folgt verdeutlicht: "... etwas
verstehen, heißt wissen, wie wir es gemacht haben" [Glasersfeld
1986/23]. Das "soziale Apriori" der tradierten Signifikationscodes,
welches Bildautomaten ermöglichen, sozialisiert das Individuum somit
stärker als es jemals eine handwerkliche Darstellungskonvention vermocht
hätte. Denn ohne genau zu wissen, wie der syntaktisch-semantische Sinnautomat
das macht, steht das Individuum mit jedem Bild automatisch in sozial-anschlußfähigen
Kontexten seiner Kultur. Mit diesem Automatismus der ikonischen Semantisierungsmaschinen
entsteht die subjektive Formwelt nicht erst, sondern ist vor aller Phantasie
vollendet. Wo Grassi bemerkte, "die Phantasie verschmilzt die Sinneserscheinungen,
sie gestaltet sie um zu 'Zeichen'" [Grassi 1979/195], verhält
es sich bei der automatischen Form "Wissen" umgekehrt. Denn die
automatische "Phantasie" der Fotografie beispielsweise ist, noch
bevor sie zur Sinneserscheinung entwickelt worden ist, potentiell als die
kulturelle Form »ikonischen Wissens« vorhanden. Demnach überspringt
das Individuum mit ikonischen Semantisierungsmaschinen weitgehend seine
performative Sozialisation. Es rückt augenblicklich an die Stelle eines
Ego auf, an der es mit nahezu jedem Phantombild einen konventionellen Darstellungscode
realisiert, der unverzüglich kommunikativ anschlußfähig
ist. Jeder komplexere Sprechakt, der auf einem kulturellen Begriffsrepertoire
beruht, bedarf einer längeren Einübung als ein visuell kommunikativer
Akt, den Individuen mittels semantischer Sinnautomaten erstellen. Daher
vermögen es automatische Darstellungskonventionen, die müheloser
als jeder Sprachcode formuliert werden, interkulturelle Kommunikationssituation
zu beginnen. Doch impliziert dieser Beginn sicherlich nicht, daß symbolische
und indexikalische Objektbezüge sowie subjektive Sinzeichen [s.S. 184]
kulturübergreifend synonym interpretiert werden.
Offenbar verlieren moderne Individuen bei unbedarfter Anwendung von Automaten
die Phantasie, die dazu anregen könnte, eigene bzw. konventionsverminderte
Darstellungscodes aufzubauen. Und es ist klar: je vehementer die Kultur
auf die ikonische Erkenntnisgewinnung Einfluß nimmt, desto spärlicher
werden die Innovationen für die Kultur ausfallen. Von diesem Standpunkt
aus könnte man meinen, daß mit der automatisierten Bildkommunikation
die ästhetischen Erkundungen verschwinden, die mit Erfindungsgabe neue
Segmentierungen der Ähnlichkeit aufspüren. Für diese Position
wäre jedoch eine Wertentscheidung zu treffen: entweder man wertet es
positiv, daß Darstellungscodes nach freien Phantasien kreiert werden,
oder man schätzt es als vorteilhaft ein, daß zwar nicht Darstellungscodes
der Phantasie folgen, dafür aber anhand konventioneller Codes über
inhaltliche Phantasien im Objektbezug kommuniziert wird. Die beiden Wertpositionen
schließen sich nicht gegenseitig aus, da innovative Darstellungsformen
sicherlich diverse kommunikative Inhalte ermöglichen können. In
der Kunst ist gegenwärtig beispielsweise eine Überzeugung artikuliert,
die die darstellenden Formen in der Moderne hinreichend entwickelt sieht
und nunmehr vorrangig Inhalte kommunizieren möchte. Im Namen von "political
correctness" formuliert diese Kunstströmung einen Anspruch, der
die formale Grammatik bisheriger Kunst mit Themen politischer Aktualität
anfüllen soll [vgl. Tannert/Fontanelle-Konzept 1993/5ff.]. Dem Kunstsystem
wäre mit jener Position kaum vorzuwerfen, daß es seine Phantasie
verloren hat, nur weil es sich selbst darin gefällt, nicht die Kunstformen
selbst zu erneuern, sondern deren Inhalte gesellschaftsfähig (korrekt)
mitzuteilen. Ebenso wäre es schwer zu beurteilen, ob die televisionäre
Kulturindustrie tatsächlich die Phantasie einengt. In der Kulturindustrie
blieben zwar die Darstellungscodes gleichförmig, aber ihre ikonischen
Inhalte sind im Laufe der letzten achtzig Jahre stets phantastischer geworden.
Solange in westlichen Gesellschaften tatsächlich, wenn auch in einseitiger
Richtung, kommuniziert wird, was intensiviert passiert, wird es kein Problem
sein, daß die massenmediale und manche künstlerische Bildkultur
keine Formrevolution durchmacht, denn Kommunikation verändert. Daß
diese Veränderung bei vorkommunikativer Bildwahrnehmung zeitweise stagniert,
problematisiert die Angelegenheit kulturgemäß [s.S. 157].
Die Anwendung von automatischen Darstellungskonventionen hat allerdings
die visuelle Kommunikationssituation grundlegend umfunktioniert. Denn technische,
hauptsächlich computeranimierte Bilder überziehen die Welt mit
Formen, die selten einer subjektiven Gegenstandserfahrung entspringen. Dies
wäre de facto ein Prozeß von Dekulturation, in dem sich durch
kulturelle Automatismen ein ehemals kulturalisiertes Können von Individuen
retardiert. Denn hier trifft Flussers [vgl. 1989a/40f.] Differenzierung
zu, daß der historische Mensch noch Bedeutungen in den Dingen gelesen
hat, wohingegen der moderne Mensch, noch bevor er der Dingen gewahr wurde,
bereits konventionalisierte Zeichen automatisch konzeptualisiert [vgl. Thurn
1986/379ff.]. Dieser evolutionäre Schritt brachte es zuwege, daß
Bilder einen Abstraktionsgrad erlangen konnten, der sprachlichen Kommunikationscodes
teilweise vergleichbar ist. Damit ist gemeint, wenn man von relationalen
Wahrheitskontexten absieht, daß computeranimierte Bilder analytische
Zustandsbeschreibungen von Dingen liefern, die nicht mehr empirischer Bestätigung
bedürfen. Die Beobachtungsbilder, die in der Aufklärung synthetisierte
Zustands- oder Anschauungsbeschreibungen liefern sollten, lassen die computeranimierten
Bilder weit hinter sich. Die computeranimierten Bilder führen Phantombilder
ohne Zeugen vor. Vergleichbare Tendenzen zeigt auch die Kunst. In der aufklärerischen
Zentralperspektive ist es die Natur, die problematisch war, dagegen wurde
seit der Moderne die visuelle Kommunikation problematisch und damit thematisch
relevanter.
Mit der Kritik von Rorty [vgl. 1979/222ff.] an Quine muß es zwar aufgegeben
werden, daß irgendeine privilegierte Referenz in synthetischen und
analytischen Formulierungen vorhanden wäre, trotzdem stehen computeranimierte
Bilder nicht einmal mehr an ihren erkenntnistheoretischen Grenzen mit Gegenstandserfahrungen
in physikalisch energetischer Berührung [s.S. 61 Fußn. 19].
Dieser Verzicht auf einen dynamischen oder energetischen Interpretanten,
den ehemals Individuen erfuhren, findet sich beispielsweise in der Mathematik
und Architektur, die per rechnergestützter Einbildungskraft mathematische
Algorithmen in Bilder (Mandelbrotmenge) umsetzen oder multiperspektivische
Gebäudemodelle erstellen.
Der aus der Kreativität des Menschen entwickelte Computer macht den
Künstler Weibel glauben, daß das Sein des Subjekts, seine Zweitheit,
seine leibliche Erfahrung und "Ontologie" übersprungen werden
könne, denn "das Sein ist ... im technischen Kunstwerk ein Apparat
und ein System von Zeichen" [Weibel 1991/243]. Weibels Euphorie für
Zeichen führt vor, wie moderne Personen die Traditionen des ikonischen
Wissens bis zur Automatisierung vorangetrieben haben, und dabei auf ihren
Körper und das Kennenlernen von faktischen Gegenständen nahezu
verzichten können und wollen. Denn jetzt verständigt sich Weibel,
was eher soziologisch als philosophisch interessant ist, mit analytischer
Wissenstechnologie über die Seinsbestätigung seines Subjektdaseins
und nicht umgekehrt [vgl. Weibel 1991/229]. Mit dem Prinzip, »ich
entwerfe Computerbilder, also meine ich, daß ich die Wirklichkeit,
die meinem Subjektsein ähnlich ist, illustriere«, hat sich die
Bildtechnologie zu einem vollständig entähnlichten Kommunikationscode
verwandelt, welcher auf subjektverhaftete Körpererfahrung sowie ikonische
und indexikalische Referenzbehauptung zu Gegenständen verzichtet. Journalistische
Bildproduzenten, die den Betrachter emotional mitreißen müssen,
täuschen zwar aus tradierten Machtansprüchen vor, daß die
referierte Wirklichkeit so besteht, wie sie dargestellt wurde, aber allmählich
glaubt auch die nachdenkliche Öffentlichkeit nur selten, daß
jene ikonische Meinungsäußerung der Realität wirklich (dicentisch)
entspricht. Die zirkuläre Ego-Bestätigung, die im sozialen Kommunikationscode
von Computerbildern, Werbebildmontagen und televisionären Nachrichten
kursiert, läßt den lang tradierten Anspruch fallen, daß
irgendwelche tatsächlichen Objekte indiziert werden sollen. Ohne Frage
konnten Bilder dies im erkenntnistheoretischen Sinne sowieso nur bedingt,
da beispielsweise Fotos die Lichtintensität nur eingeschränkt
messen, also dicentische indexikalische Tatsachen rein materialabhängig
behaupten.
Verlieren Bilder den auf Wirklichkeit reagierenden Indexbezug vollständig,
dann kommunizieren sie eine permanente Selbstähnlichkeit von regelhaften
Darstellungcodes, die wiederum vom Betrachter regelhaft anerkannt werden.
Ikonische Bilder würden also nur die konventionelle Regel der Regel
der Regel usw. darstellen, um eine vertraut gewordene Nachricht mitzuteilen,
die ausschließlich innerhalb des Kommunikationssystems Orientierung
für das System bietet. Daraus folgt für computeranimierte Bilder,
daß sich nur weniges, was in der gesellschaftlichen Alltäglichkeit
passiert, in konventionalisierte Darstellungscodes niederschlägt. Solche
Bilder benötigen keine gegenständlichen Modelle mehr; sie sind
sich selbst Modell. Sie übergehen die Phantasie des motivierten Subjekts.
Das technische Bild gehorcht einem Darstellungscode, der "... eine
blindlings konkretisierte Möglichkeit [bietet, um] ein blindlings sichtbar
gewordenes Unsichtbares" [Flusser 1989a/18] aufzuzeigen. Schlechterdings
meint dies nicht, daß ikonische Assoziationen immer phantasieloser
werden, sondern im Gegenteil: die Bilder semantischer Sinnautomaten werden
kraft der Abkopplung von wirklicher Erfahrung und der Produktionsgeschwindigkeit
stets phantastischer, soweit dies das Computerprogramm zuläßt.
Was Baudrillard [vgl. 1978] prophetisch als »Simulation« kritisiert,
wird durch den Computer, was bei religiösen Bildern nie ungewöhnlich
war, zu erprobten Kommunikationsprinzipien des Symbolischen transformiert.
Weibels "Techno-Kunst" postuliert zwar, daß es die wahrheitskritischen
Simulationen sein werden, die "im Täuschen sehen machen"
[Weibel 1991/245], aber genaugenommen verspricht diese Kritik keine Innovationen,
deren Kartographien irgendeine relevante Orientierung für unsere Welt
bieten. Mit Weibels Kommunikationsprogramm verdeutlicht sich, warum technische
Bilder trotz hoher Ansprüche dem Interesse dienen, sich eher von körperlich
erreichbaren Welten abzukehren als diese zu beschreiben. Die angebliche
Simulation dissimiliert ("entähnlicht") sich hiermit von
potentiell erlebbaren Alltagswelten, deren Umstände sie nicht mehr
berücksichtigt, da sie sich selbst zur Dissimulation ("Verheimlichung")
entwickelt hat. In dieser Dissimulation fingieren ikonische Bilder eine
Weltkonstruktion, die das verbirgt, was in der Alltagswelt potentielle Orientierung
bieten könnte. Damit bringen Computerfiktionen das figurative Erkenntnisprogramm,
welches seit der renaissancistischen Zentralperspektive bestand, in der
öffentlichen und künstlerischen - ausgenommen der wissenschaftlichen -
Kommunikation zu seinem Abschluß. Denn die nachdenkliche Öffentlichkeit
sieht den Simulationen fingierte Augenwischerei an, weshalb sie deren Dissimulationsstrategien
kaum Relevanz beimißt, wenn sie Orientierung für soziale und
sonstige Wirklichkeiten sucht.
Mit dem Verstehen von Dissimulationen transformiert sich ikonisches in symbolisches
Wissen. In zukünftiger Tendenz ringt das ikonisch Dissimilierte ("Entähnlichte")
zwar noch um die visuelle Aufmerksamkeit und Beachtung, aber es wird für
die eingeweihten Betrachter eher symbolisch als ikonisch bedeutungsvoll.
Dem nachdenklichen Betrachter simulieren die ikonischen Bilder nämlich
nicht erreichbare Wirklichkeiten, sondern sie symbolisieren ihm allenfalls
Realitätskonstruktionen, die zur kommunikativen, aber nicht zur praktischen
Orientierung relevant sind. Mit diesem Bildverständnis verwandelt sich
die Ähnlichkeit des Bildes in ein Symbol, das sein Objekt durch Entähnlichung
bezeichnet und deshalb in Dissimulation visuell kommunikativ verbirgt. Übrigens
handelt es sich um ein Bildverständnis, welches nicht zum ersten Mal
auftritt. Wenn nämlich ein Charakteristikum kultischer Riten darin
besteht, daß bei diesen "... die Idee des Bildes ... im
Geist mit der Idee [und Wirkung] des Modells verbunden ..." [Durkheim
1981/480] wird, also Ähnliches durch Ähnliches erzeugt wird, indessen
Kultbilder der Ähnlichkeit für das christlich religiöse Weltverständnis
unduldsam waren, weil dieses von dissimilierenden Symbolen und dem Glauben
an geistige Wesen beherrscht wird, dann ist festzustellen, daß sich
der kultische Status der televisionären Bilder der letzten Jahrzehnte
langsam wieder zu einer aus christlichen Religionen bekannten Wertschätzung
verändert. [vgl. Durkheim 1981/53; Berger 1988/158; Bauch 1994/282]
Denn insbesondere rechnergestützte Bilder transzendieren die Alltagswelt
auf einem Niveau, auf dem selten etwas der subjektiven Wirklichkeitserfahrung
ikonisch ähnlich sein soll. Gleichfalls verbindet die nachdenkliche
Öffentlichkeit die Idee des Bildes immer weniger mit der Idee und Wirkung
des Modells.
Rechnergestützte Bildern zeigen allein in symbolisch generalisierten
Relevanzstrukturen ein ikonisches Wissen, das sich bis zur optischen Entpragmatisierung
ausgeformt hat. Anstatt die Trennlinie immer wieder zwischen Simulationen
und (ikonischer) "Realitätsdarstellung" zu setzen, wo jeder
Unterschiede bemerkt und apodiktische Referenz so oder so ausbleibt, ist
die von Schütz u. Luckmann [vgl. 1979/360] entliehene Formulierung
der »Entpragmatisierung« wesentlich einleuchtender. Mit Entpragmatisierung
ist nämlich zu begreifen, daß sich die ikonisch vermittelten
Wissensgebiete aus den Handlungszusammenhängen der erlebten Alltagswelt
lösen, da sie in dieser über nahezu keine Relevanz mehr verfügen.
Das ikonische Bild vermittelt in errechneten Fiktionen hauptsächlich
symbolisch relevante Nachrichten, deren ikonische Bezeichnung keine Informationen
bietet, die sich an potentiell erfahrbarer Welt orientiert. Das ikonische
Bild wird dadurch genauso orientierungslos wie dessen Betrachter, dem in
televisionären Kartographien jede sozial notwendige Orientierung abhanden
gekommen ist. Mit dieser Wendung fungiert Ähnlichkeit nur als Kommunikationsprinzip,
welches ikonische Nachrichten zum Vergnügen ohne Rückkopplung
an Nutzen und soziale Orientierung darstellt. Aus diesem Grund ruft die
inflationierende Tendenz, die sich mit dem Schwund des optischen Nutzens
anbahnt, eine beschleunigte Entropie ins Leben, bei der das ikonische Wissen
im zutreffendsten Sinne des Wortes vorprogrammiert anschwellt. Denn auf
dem öffentlichen Markt von Unterhaltungsfiktionen hat alles das einen
flüchtigen Wert, was sich aus der Abgedroschenheit des Gestrigen und
des Alltäglichen kurzfristig befreien kann. Das inflationäre Bombardement
mit Computerbildern, die erheblich planloser als Fotografien realisiert
werden können, wäre dann lediglich eine weitere Steigerung "motivationaler
Selbstgenügsamkeit" [Luhmann 1991/258], bei der sich die kunterbunte
Bilderzeugung von keinerlei Konventionen und Relevanzkriterien gängeln
läßt. Doch geht die televisionäre Zwanglosigkeit zweifellos
nur soweit, wie Darstellungscodes und teilweise die symbolisierten Verständigungskontexte
einer längerfristigen Übereinkunft folgen. Allerdings treten die
symbolisierten Kontexte dabei deutlich vielgestaltiger auf, als es jemals
bei Religionen der Fall war, wodurch sich symbolische Bildinhalte aus konventionellen
Sinnsetzungen entfernen. Diese Vielgestaltigkeit von Bildern wird der Kunstgeschichte
viel Mühe bereiten, wenn sie beabsichtigt, sich mit unserer Gegenwart
zu beschäftigen.
Sicherlich waren zu allen Zeiten die Darstellungsmöglichkeiten von
Techniken abhängig, aber neuerdings kann das Individuum auf körperliche
Techniken weitgehend verzichten, wenn es die im Automaten konventionalisierte
Kultur nutzt, um sich visuell kommunikativ mitzuteilen. Das scheinhafte
Gegenargument dazu zeigt sich darin, daß das Individuum ohne Körper,
ohne Bewußtsein und ohne visuelles System nicht kommunizieren bzw.
den doppelten Sinn der Form erkennen kann. Es hat also nach wie vor anzunehmen,
daß die Formen, die aus dem Apparat kommen, als die Kultur anzusehen
sein werden, die ihm eine figurative Erkenntnis vermittelt. Diese Erkenntnis
berührt zwar nicht die Seinsbegründung des Subjekts, aber sie
spricht dessen empirische Erfahrungsgrundlage mit Bildern an. Wie Habermas
[vgl. 1988b/83] mit Durkheim, und Apel [vgl. 1988/189] mit Peirce betonen,
sind kollektive Erkenntnisse oder Vorstellungen an materielle Zeichenvehikel
gebunden, wenn es zur Vermittlung von kommunikativen Zeichen kommen soll.
Automatische Bilder beanspruchen demnach Wahrnehmungsbewußtsein, aber,
und das ist ein riskantes Unterfangen, sie erfordern selten ein Ego, welches
sein ikonisches Wissen mit Non-Ego-Erfahrungen vergleicht, weil in selbstreferentiellen
Computerwelten diese empirische Falsifizierbarkeit chancenlos bleibt. Die
innovierende Erfahrung, die ein Individuum in der Gegenstandswelt erleben
könnte, schließt das visualisierende Computersystem vollständig
aus. Ob diese ungeprüften Erkenntnisse, die mit den automatisierten
Konventionen entstehen, tatsächlich den Wissenshorizont erweitern,
der für das überlebensnotwendige Wissen eine Relevanz hat, bleibt
offen.
Trotz aller möglichen Entpragmatisierung des ikonischen Wissens produzierten
auch analytische Theorien und Kunst relevantes Wissen, ohne Kontakt zur
pragmatischen Wirklichkeit zu berücksichtigen. Allerdings ließ
sich bei traditionellen Bildern mit pragmatischem Ertrag fragen, was sie
bedeuten und was ihre Kartographien über die Welt aussagen. Dieser
Ertrag fehlt in computeranimierten Bildern. Deren entpragmatisierten Entwürfen
ist mit der Frage zu begegnen, "... wozu sie das, was sie zeigen,
bedeuten" [Flusser 1989a/43]. Bei vorkommunikativer Bildwahrnehmung
gerät jedoch das »Wozu« kraft der Entspannungsleistung,
die dem innenorientierten Individuum widerfährt, ins Stocken, obwohl
es sich genau dadurch schweigend beantwortet. Demgegenüber thematisieren
computersimulierte Bilder zumindest Visionen, wodurch sie hinsichtlich eines
Zukünftigen die Reaktionsgeschwindigkeiten erhöhen. Gleichwohl
ist die Konkordanz zwischen rechnergestützten Phantasiegebilden und
der möglichen Realitätsentwicklung geringfügig, wie sich
z.B. bei Wettervorhersagen oder Architekturmodellen zeigt. Doch haben es
fast alle Kulturen für ihre Existenzsicherung versucht, die Komplexität,
die ihnen im Chaos der Welterfahrungen widerfuhr, dadurch zu bändigen,
daß sie sie in Bildern minimal reduzieren und auch kompensieren. Computerbilder
folgen diesem kulturell tradierten Interesse in zwei Tendenzen: einerseits
macht ihr ikonisches Wissen einige Wahrscheinlichkeiten zukünftiger
Entwicklung vorhersehbar, womit so manche Angst abgewendet werden soll.
Andererseits vermitteln Computerbilder ein ikonisches Wissen, das die erwünschte
Wirklichkeit heraufbeschwören soll und das diese für erreichbar
hält. Entsprechend der jeweiligen Sichtweise präsentieren moderne
Bildschirme daher Angstabwehr- oder Erfüllungs-Bilder, also Reizschutz
bzw. Reizbefriedigung.
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