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Für kulturelle Kollektive werden Zeichenformen kommunikativ sinnvoll,
wenn relativ viele Individuen die gleichen Wahrnehmungs- und Zeichengewohnheiten
haben. Man könnte dann auch sagen, Sinn ist dort am sichersten zu erwarten,
wo er unbefragt in Anspruch genommen wird. Daher schreibt sich in menschliche
Lebenskontexte am augenfälligsten der Sinn ein, der sich, ohne weitere
Erkundungen und Renitenzen zu provozieren, gewohnheitsmäßig etablieren
kann. Die momentan am stärksten hervortretende, visuelle Gewohnheit,
die in bezug auf moderne Bildformen unbefragt vorherrscht, erzeugt die Zentralperspektive.
Diese fungiert als ein kulturelles Legizeichen, dessen Verwendung mit der
Erwartungserwartung verbunden ist, daß man den Erkennungsgewohnheiten
von Individuen nahezu weltweit entsprechen wird. Wenn ein Bildproduzent
z.B. die Zentralperspektive verwendet, erwartet er die Erwartung des Betrachters,
daß dieser etwas sehen will, was er auch als Zeichen der visuellen
Kommunikation erkennen kann. Es ist also der Erkennungscode, der hinsichtlich
der Zentralperspektive den visuellen Kommunikationsfluß aufrecht erhält.
In der Präsenz der Form wird hier nämlich selbstverständlich
ein Sinn der repräsentierenden Form erkannt, der das Bild als visuell
kommunikative Veranschaulichung verständlich macht.
»Verständlich« im Bildzusammenhang heißt: das Bild
vermittelt visuelle Informationen unter der Prämisse, daß der
Rezipient die Information als optische Nachricht von etwas anderem visuell
erkannt hat. Hier liegt eine Paradoxie der visuellen Kommunikation. Einerseits
soll diese im ikonischen Objektbezug dem Gegenstand sehr ähnliche Informationen
transferieren, und andererseits soll sie aber dem Gegenstand nicht so ähnlich
sein, daß sie mit ihm im Zeichenmittel, d.h. in Form und Materialität,
homöomorph wird. Wäre diese Merkmalsidentität der Fall, ginge
die kommunikative Nachricht verloren. Allerdings gewöhnt sich der Bildbetrachter
an die Nachricht: So sieht der Gegenstand in illustrativer Bezeichnung aus.
Die gut vertraute Perspektive erlaubt dem Betrachter, den ikonischen Objektbezug
auf den Gegenstand perspektivisch direkt in Form einer scheinbaren Durchsicht
zu entfalten. Der Bildbetrachter vergißt den Nachrichtengehalt solcher
scheinbaren Durchsichten (Perspektiven) auf den Gegenstand. Er nimmt die
visuelle Information des ikonischen Objekts direkt wahr, indem er sie vorkommunikativ
als »Bezeichnung ohne Zeichenbedeutung« [s.S. 129] verstehen
kann. Das Vergessen des kommunikativen Aspekts von Bildern leistet die Erkennungsgewohnheit,
die wenig Gelegenheit zum bewußten Wiedererkennen von legizeichenhaften
Strukturen aufkommen läßt [s.S. 148].
Gewohnheiten wirken meist so, als ob sie einer Regel folgen, die es dem
wahrnehmenden Individuum eröffnet, nichts mehr von einer Regel zu bemerken.
Solche "vergessenen" Regeln weisen Bilder in der legizeichenhaften
Materialeinteilung auf, wodurch sie im Sinn repräsentierender Bildformen
für den Rezipienten zur möglichen Gewohnheit, zur zweiten "Natur"
oder zweiten Wahrscheinlichkeit werden. Jenes gewohnheitsmäßige
Wiedererkennen auf der Seite des Rezipienten wäre dann aber nichts
anderes als ein Erkennungscode von Bildstrukturen. Rezipienten internalisieren
den Sinn repräsentierender Form gewohnheitsmäßig, indem
sie eine kulturelle Regel verinnerlichen und vergessen. In der beständigen
Repetition verlieren Bilder nicht ihren Sinn, jedoch entschwindet ihr kommunikativer
Mitteilungswert. Die Internalisierung erlaubt dem Bildbetrachter nämlich,
daß er den ikonischen Objektbezug sofort erkennt, ohne zu bemerken,
warum er es kann. Aufgrund des Erkennungscodes sieht er gewohnheitsmäßig
durch das Bild hindurch. Er sieht scheinbar direkt auf das Objekt, ganz
so, wie er bewegungslos durch das vergitterte (83) Fenster Dürers oder durch
den Sucher einer Fotokamera den Gegenstand anstarren würde. Solche
zu Fenstern verwandelten Bilder erscheinen im geradlinigsten Sinne des Wortes
»gegenständlich«. Obwohl die fingierte Gegenständlichkeit
an sich nichts kommuniziert, kann dennoch die simulierte Durchsicht auf
das Objekt als ein Signifikationscode der Bildkommunikation aufgefaßt
werden. Die syntaktischen Einteilungsformen von Bildern erlauben dem Betrachter
eine Sichtweise auf ikonische Objektbezüge, die aus Gewohnheit in scheinbar
direkter Referenz auf den Gegenstand wahrgenommen werden. Dies führen
beispielsweise Videoamateure vor, die sich mit dem einäugigen Sucherbild
ihrer Kamera eine ikonische Kartographie erstellen, die sie nicht kommunikativ,
sondern informativ für die ein wenig unbeholfene Orientierung im Raum
nutzen.
Beim ikonischen Signifikationscode basiert der hingenommene Sinn auf erlernten
Formprinzipien, an die sich Individuen in struktureller Kopplung gewöhnt
haben. Vermöge der kognitiven Schemata des Wahrnehmenden wird erst
»etwas« zum Zeichen gemacht, weshalb der »Sinn im Sinn
repräsentierender Form« an die kognitive Struktur des Wahrnehmenden
gebunden bleibt [s.S. 84 (semiotischer Exkurs)]. Auf Kulturen bezogen
folgt daraus, daß der Sinn der repräsentierenden Form als Zeichenregel
generalisiert werden muß. Im Sinn der präsenten Form würde
keine kommunikative Vertrautheit auftauchen, die einen Erkennungscode von
Bildern stabilisieren könnte. Unerkannte Bilder oder Bilder ohne bekannte
repräsentierende Codierung müßten erst als Bild erarbeitet
werden, so wie es bei der Kunstbetrachtung im Fall von Sinzeichen vorkommt.
Der kulturelle Signifikationscode in der Verbindung mit legizeichenhafter
Bildeinteilung und ikonischem Objektbezug stabilisiert sich im visuellen
Sinn, wodurch sich visuelle Kommunikation fürs erste kulturell anschlußfähig
verwirklicht. Fürs erste deshalb, weil kulturelle Verallgemeinerungen
außerdem in indexikalischen und symbolischen Objektbezügen vorkommen,
denen hermeneutisch oder ikonographisch orientierte Kunsthistoriker und
alle anderen erfahrungs- oder sprachorientierten Bildinterpreten nachspüren.
Wenn man Kritzelzeichnungen von sehr jungen Kindern oder den Künstlern
Cy Twombly und Willem de Kooning betrachtet, kann man feststellen, daß
ein pragmatischer Konsens über das Wahrgenommene gewiß erst in
kommunikativer Bestätigung oder wechselseitiger Beobachtung erreicht
wird. Bei alltäglichen Bildern indessen kennen die Individuen den kulturellen
Konsens über die stilisierten Formen im Bildmedium. Selbst Luhmann
[vgl. 1992/56] vermutet, daß mit der Bezeichnung »Konsens«
eine individuelle Bewußtseinslage gemeint ist, über die durch
Kommunikation (84) entschieden wird und die den Begriff der »Lebenswelt«
berührt. Ohne "die Lebenswelt als Universum prinzipieller Anschaubarkeit"
[Husserl 1954/130] zu problematisieren, verstehe ich unter »Konsens«
(85) die kommunizierte Erwartungssicherheit einer gemeinsamen Wahrnehmung von
bildlichen Formen, die in einer Gesellschaft aufgrund von Kontext-Nachrichten
sinnvoll und kommunikativ anschlußfähig auftreten. Der Sinn der
repräsentierenden Form basiert auf dem Konsens, daß ein figurativer
Erkenntnisstil einer Epoche plausible Informationen bietet, wenn er die
konventionellen und alltäglichen Darstellungscodes nutzt. Der Sinn
repräsentierender Form und der Konsens über diesen bestimmen sich
offenbar wechselseitig: der kommunikative Sinn der Form wird im Konsens
und der Konsens im kommunikativen Austausch der Form gefunden. Hiermit verdeutlicht
sich, warum der Sinn einer informationellen Ordnung dem kulturellen Sozialisierungsprozeß
eines Individuums unterliegt. Der Sinn bildlicher Formen entsteht in der
zeitrelationalen Vergesellschaftung von Sinn. Dieser wird von Individuuen
in den Wahrnehmungsschemata vorbewußt und in der Wahrnehmung vorkommunikativ
wiedererkannt, woraufhin er sich so zur kommunikativen Erkennungsgewohnheit
von Bildern entwickelt. Ohne den zeit- und beobachterrelationalen Konsens
über die informationelle Ordnung von Bildern stünde der Sinn der
visuellen Kommunikation zumindest in Frage. Wohlgemerkt, ich meine hier
keinen Konsens über die kommunikative Bedeutung der Form, sondern über
den Sinn der bildlichen Form, welche durchaus unterschiedliche Bedeutungen
in der Interpretation annehmen kann. Kommunikativer bzw. interpretativer
Dissens setzt den Konsens bezüglich des bildlichen Signifikationsmediums
einer Kultur weitgehend voraus.
Im sozialverständigten Konsens bekräftigen sich Individuen nicht
die Notwendigkeit, die Bilder in eine irgendwie überprüfbare Ähnlichkeitsbeziehung
zum Gegenstand stellen würde. Vielmehr bestätigen sie sich vorangehend,
daß sie den vergesellschafteten Sinn der repräsentierenden Formen
als eine kulturelle Konvention wiedererkennen können, unabhängig
davon, ob die Referenz zum Gegenstand ähnlich oder unähnlich scheint.
Das relevante Moment beinhaltet die kommunikativen Geltungsansprüche,
die bei kultureller Kontextimmanenz dem Bildmedium zugestanden werden. Je
nachdem, wie sich die kulturellen Geltungsansprüche bezüglich
des Kommunikationsmediums etabliert haben, referieren Bilder über Realitäten,
Sachverhalte, Fiktionen, Götter oder andere ästhetische Erfindungen.
Beispielsweise fungiert die informationelle Ordnung, die ein in Öl
gemaltes Schlachtengemälde offeriert, heutzutage nicht mehr als Dokument
des realen Schreckens, weil sein referentieller Geltungsanspruch für
Realitätskonstruktionen hinfällig geworden ist; den aktuell "sinnvollsten"
Darstellungscode für solche Ereignisse verkörpert gegenwärtig
die Liveaufzeichnung, die ihre Informationen mittels linearperspektivisch
geordneter Pixel in Farbbildröhren zeitgleich verbreitet. Daß
über letztere Kommunikationstechnik ein kultureller Konsens über
den »Sinn der repräsentierenden Form« besteht, der seinen
realitätskonstruierenden Geltungsanspruch durch informative und anschlußfähige
Plausibilitätskriterien erlangt, ist - so denke ich - einsehbar.
Was selbstverständlich nicht meint, daß jener realitätskonstruierende
Geltungsanspruch den Betrachtern die tatsächliche Wirklichkeit [Zweitheit]
spiegelt. Sie ahnen mittlerweile, daß die konstruierten Realitäten
in der Bildkommunikation weitaus stärker geltungs- und normengeleitet
mitgeteilt werden, als es die dynamische Erfahrung von wirklichen Gegenständen
hergibt. Der heutzutage realitätskonstruierende Geltungsanspruch von
televisionären Bildern dokumentiert deshalb eine historisch und sozial
eingespielte "Interpretations-Praxis", wie sie sich beispielsweise
in der "sozialen Bestimmung der Referenz" [Abel 1994/23] von Fotografien
bestätigt, die scheinbar unvermittelt, weil optisch informativ, verstanden
werden.
Der Sinn der Form wurde bei Massenmedien - vergleichbar dem verbalen
Sprachmedium, das gleichfalls von Massen verwendet wird - offensichtlich
mit der Kommunikation in die Allgemeinheit getragen und als Darstellungskonvention
etabliert, damit Individuen das Veranschaulichte erkennen und in seiner
Bedeutung fraglos verstehen. Aufgrund kultureller Erkennungsgewohnheiten
wird die Leichtigkeit der optischen Informationsvermittlung vorwiegend als
Realismus des Bildes eingeschätzt. Solche Realismuseinschätzungen
stützen sich so gut wie nie auf Übereinstimmungen zwischen Bildmerkmalen
und realen Gegenständen, sondern beruhen auf Erkennungsgewohnheiten
bezüglich eines erwarteten Signifikationscodes. Nur dieser kann auf
den stabilisierten Konsens hoffen, daß kultureller Realismus kraft
tautologischer Sinnbestätigung realistisch und allgemein verifizierbar
sein soll [vgl. Bourdieu 1983/89]. Die Vermittlung von visueller Information
mit Zeichenbedeutung bleibt gewiß unverständlich und unrealistisch,
wenn der präformierte Sinn der Form nicht kennengelernt wurde. Um beispielsweise
den ikonischen Inhalt steinzeitlicher Malereien oder Satellitenfotos zu
entziffern, also eine erste Zeichenbedeutung zu erkennen, wird man zunächst
gezwungen sein, Formen als sinnvolle Einheiten zu bestimmen, und somit ihre
Konventionen der Repräsentation zu lernen. Wenn kulturelle Konventionen
nicht kennengelernt oder vollständig ignoriert wurden, behält
visuelle Kommunikation einen interpretativen Möglichkeitsüberschuß,
der den Austausch von Informationen/Nachrichten und damit Verstehen zeitweilig
blockiert. Es gilt also keinesfalls nur für "realistische"
Bilder, daß unverzügliche Kommunikation auf konventionelle und
damit sinnstabile Darstellungscodes angewiesen ist.
Trotz aller Konventionen in der visuellen Kommunikation sind es nicht diese
selbst, die den repräsentierenden Sinn von Bildern ermöglichen,
sondern es ist "... der Sinn ..., der uns die Konvention verstehen
läßt ..." [Gombrich 1984/285]. Erst wenn der Sinn im
unbekannten Neuen einer Veranschaulichung verstanden ist, kann er sich in
einer Konvention, Regel bzw. einem Darstellungscode etablieren. Folglich
basieren Konventionen auf einem späteren Modus visueller Kommunikation,
in der Sinn generalisiert wurde. Für den Sinn der ikonischen Formen
ist eine starke Arbitrarität der Darstellungskonvention nicht zwingend.
Wiedererkennbarkeit kann ebenfalls auf einer Erkennungsgewohnheit der gegenständlichen
Umwelt beruhen. Individuen können deshalb frei von gesellschaftlichen
Übereinkünften repräsentierenden Sinn in Bildern erkennen,
wenn sie ihn spontan als eine unübliche Darstellung von bekannten Gegenständen
wiedererkennen. Beispielsweise lassen sich in Farbklecksen (86) intuitiv repräsentierende
Formen von etwas anderem wahrnehmen. Dies richtet sich zweifellos nicht
gegen Habermas [vgl. 1971/189] und Apel [vgl. 1988/247], die gemeinsam mit
Wittgenstein [vgl. 1990/207 (202.)] auf einem konventionellen Kommunikationscode
beharren, da einerseits niemand privatim und nur einmal einer (Spiel-)Regel,
Konvention oder kulturellen Codierung folgen kann, und andererseits die
visuell kommunikative Verständigungspraxis kulturelle Regeln voraussetzt.
Und dennoch, auch wenn es keine privatsprachliche Kommunikation geben kann,
und gleichfalls das menschliche "Bildspiel" selbst Konventionen
folgt, so kommt letzterem doch die Möglichkeit zu, es im Privaten nahezu
ohne interpersonale Regel zu spielen. Gut, zu diesem "Bildspiel"
gehört die Konvention, die Regel, irgendein Material und Malgrund zu
nutzen, aber z.B. hat der Maler Francis Bacon [vgl. 1982/21] einst individuelle
Spielarten erfunden, von denen er selbst meint, er könne sie nicht
einmal selbst abermals nachspielen. Er kann also die Spontaneität,
die ihn zu einer ikonischen Beschreibung führte, nicht in jedem Fall
nochmals wiederholen (87) oder kommunikativ formieren. Übrigens ein Argument,
warum Bilder zwar als Kommunikation, aber weder als Sprache noch als System
aufzufassen sind. Denn erstens existiert für sie kein Notationssystem
[vgl. Goodman 1973/203], welches die Transformation in eine vollständig
andere Zeichencodierung (wie z.B. in der Musik) erlauben würde, um
allgemeine Orientierungen für zukünftige Ausführung anzubieten.
Und zweitens erlangt in Bildern auch Unsystematisches kommunikativen Sinn.
Zusammengenommen bezieht sich der Sinn von Konventionen auf allgemeines,
aber er hat, das wollte ich verdeutlichen, bei ikonischen Sinncodierungen
manchmal anfänglich "... einen individuellen [und gesellschaftlich
unkontrollierten] Modus der Stiftung" [Nadin 1991/218].
Der vorherige Absatz präzisiert, daß Goodman und übrigens
auch Rorty [vgl. 1987/36] von einer ungenauen Prämisse ausgehen,
wenn sie für bildliche Repräsentation grundsätzlich Konventionalität
voraussetzen. Mit dieser Prämisse klärt Goodman zutreffend auf,
daß in konventionellen Sinncodierungen "... kein Grad der
Ähnlichkeit [zwischen Bild und wirklichem Gegenstand] eine hinreichende
Bedingung für die Repräsentation" [Goodman 1973/16] ist.
Aufgrund seiner linguistischen Schule mißlingt jedoch die findige
Behauptung, daß Repräsentation von Zeichen an Denotation gekoppelt
wäre; woraus nämlich folgen würde, daß ikonische Objektbezüge
ohne denotativen Bezug zur faktischen Wirklichkeit, also mit sogenanntem
"Null-Denotat" [s.S. 129], einfach nichts mehr per Ähnlichkeit
repräsentieren oder ikonisch darstellen würden. Bei alldem vernachlässigt
er zunächst die menschliche Fähigkeit des visuellen Wiedererkennens,
das einzelne Segmente eines Sinns von Ähnlichkeitsbezügen früher
als Konventionen individuell auffinden kann. Außerdem übersieht
Goodman [vgl. 1973/16, 36, 84, 232, 265], daß gerade repräsentierender
Sinn von Ähnlichkeit für visuelle Kommunikation unentbehrlich
ist, weil in ikonischen Sinnkonstitutionen keinesfalls alles etwas anderes
darstellen oder ikonisch bezeichnen ("repräsentieren") kann.
Ähnlichkeit beruht zwar so gut wie nie auf faktisch überprüfbaren
Verhältnissen zwischen Bildform und Gegenstandsform, aber sie gründet
sich auf eine kommunikationsinterne Idee der Mimesis (Erkenntnisweise),
die mit Präsenz über etwas anderes als das Präsente per möglicher
Ähnlichkeit benachrichtigt. Diese Ähnlichkeit kann auch auf ein
Wiedererkennen zurückgehen, das wir vor allen Konventionen und absteckbaren
Systemgrenzen bemerken, wenn Kunstbilder, Farbflecken, Klecksbilder, Wolkenbilder,
Sandstrukturen und der Spinat auf dem Teller zufällig irgend »etwas
anderem« ähneln.
Entgegen Goodman können wir bemerken, sobald wir die allgemeine Bestimmung
von Bildern aufgreifen, daß wir im Sinn der präsenten Form schon
einen Sinn der repräsentierenden Form optisch wiedererkannt haben.
Wenn gar nichts in einer Farbanordnung wiedererkannt wird, kann ich nicht
einsehen, warum irgendwelche Farbflecken etwas anderes optisch (!) darstellen
sollten. Denn für eine optische Repräsentation muß man den
Sinn repräsentierender Form visuell wiedererkennen, irgendeine Idee
(Vorstellung) von optischer Ähnlichkeit muß hergestellt werden
können; ansonsten bezeichnet der Farbfleck allerhöchstens etwas
auf indexikalische oder symbolische Weise. Für diese beiden Objektbezüge
sind optische Informationen und eine Idee von Ähnlichkeit nicht substantiell.
Anders ausgedrückt, wenn kein Sinn der repräsentierenden Form
visuell wiederzuerkennen ist, kann ein Bild keine optischen Informationen
vermitteln, die uns eine ikonische Bezeichnung von »etwas anderem«
vor Augen führen. Aus diesem Grund muß ein Individuum, noch bevor
es sich in optischen Darstellungskonventionen auskennt, zunächst vermöge
seines Wahrnehmungssystems den Sinn repräsentierender Form wahrnehmend
decodieren können. Angenommen, ein Individuum würde im Bild keinen
Sinn der repräsentierenden Form sehen, wie sollte es jemals Darstellungskonventionen
lernen oder innovativ entwickeln? Deshalb erhält kein ikonisches Bildzeichen
eine Bedeutung, wenn der visuell wiedererkennbare Sinn der repräsentierenden
Form unerkannt bleibt [s.S. 165]. Ob das repräsentierte Objekt
existiert, ein Denotat hat oder nicht, ist ein späterer Modus der kulturellen
Gebrauchs- und Geltungs-Kriterien von visueller Kommunikation. Kurz, nicht
jedes Ähnlichkeitsurteil über repräsentierende Formen ist
konventionell, sondern als Konvention etablieren sich die Darstellungsformen,
die beschleunigte Kommunikation ermöglichen.
Die potentielle Möglichkeit des repräsentierenden Sinns fordert
demnach, daß nicht schon jeder Bruch mit Darstellungskonventionen
(z.B. irgendwelches Gekritzel) das Neue als Neues etabliert, sondern daß
das Neue in der repräsentierenden Form in seinem Sinn erkannt und akzeptiert
werden muß, damit es einen wichtigen Aspekt der Kultur von morgen
aufzeigt. Würden Kulturen auf experimentelle Sinnstiftungen verzichten,
verlören sie mit der Fähigkeit, zeitgemäße Bedeutung
zu kreieren, auch die Möglichkeit, auf eine veränderte Gegenwart
kommunikativ zu reagieren; allein kultische Visualisierungen versuchen einen
ewigen Code durchzuhalten, damit sich die ritualisierte Gegenwart nicht
verändert. Kulturelle Konventionen der repräsentierenden Form,
also ikonische Signifikationscodes, gehen erst aus dem kommunikativen Fluß
von sich bewährenden Formen hervor.
Da bildlicher Sinn vor Konventionen und Regeln auftaucht, verhindert dies
die Annahme von Habermas, daß "... Sinn stets symbolisierter
Sinn [ist]" [Habermas 1971/190]. Eine neue Form der Repräsentation
kann nicht schon normativen oder gar objektiven Sinn symbolisieren, wenn
sie in ihrem Sinnvorschlag erst noch zu erkennen ist. Die Zentralperspektive
als symbolische Form [s.S. 234] hätte sich nicht weltweit durchgesetzt,
wenn sie ausschließlich Sinn symbolisiert hätte, ohne daß
dem Betrachter nicht auch sinnvolle Informationen veranschaulicht worden
wären. Hinsichtlich Bildern greift der kommunikationstheoretische Ansatz
von Habermas zu kurz. Seine Theorie realisiert zwar die Differenz zwischen
"... raumzeitlich individuierten Gegenständen und symbolisch
verkörperten Bedeutungen" [Habermas 1988b/328], verkennt in dieser
Differenz jedoch die indifferenten Übergänge, wie sie eigens für
Bilder und auch rituellen Skulpturen charakteristisch sind. Selbstverständlich
schrieb Habermas keine Theorie des visuell kommunikativen Handelns. Gemessen
an einer solchen, wäre seine Annahme nicht akzeptabel, daß Sinngehalte
grundsätzlich an die Kommunikation mittels sprachlicher und tradierter
Symbole angelehnt seien, die überdies einer Bezeichnungsregel und sogar
einer sozialen Bedeutungsidentität folgen würden. Bezüglich
Bildern wäre auch seine Behauptung untauglich, daß subjektiven
Erlebnissen ohne intersubjektiv kommunizierbare Geltung kein Sinn beizumessen
wäre [vgl. Habermas 1971/195, 1988a/164, 1988b/30ff.; s.S. 33
(Onomatopöie)]. Während Habermas [vgl. 1988a/163] sieht, daß
jemand ohne vortheoretisches Wissen seiner Lebenskontexte nicht in die Sprache
"einsteigen" kann, vernachlässigt er, daß Sinn neben
jener pragmatischen gleichermaßen in der syntaktischen und semantischen
Dimension aufgefunden werden muß, sobald jemand die Bedeutung symbolischer
Bezeichnung im Sinn verstehen will.
Es stellt sich die Frage, wie eine Gegenstandsbedeutung und eine ikonische
Zeichenbedeutung jemals erlebt werden könnten, wenn nicht infolge optisch
wahrgenommener bzw. syntaktisch-semantischer Sinnstrukturen. Eine »Erlebnisgesellschaft«,
wie sie Schulze [vgl. 1993/43ff.] sachgemäß inauguriert, wäre
ohne subjektive, emotionale und vorkommunikative Sinnerlebnisse bzw. Sinnorientierungen
kaum zusammenzuführen [hierzu Thies 1995/75ff.]. Deshalb wird man zumindest
Bilderlebnissen nicht gerecht, wenn mit Habermas [vgl. 1971/188f.; 1988a/164]
der doppelte Sinn der Form übergangen wird, um sich sofort den Durchgriff
auf kommunikative Intersubjektivität von vermeintlich bedeutungsidentischen
Symbolen zu sichern. Man müßte betreffs der Bilder sogar meinen,
wenn "der Verstehensprozeß ... auf ungeklärte Weise mit
einem Hervorbringungsprozeß rückgekoppelt" [Habermas 1988a/165]
sein sollte, daß dann kaum jemand Bilder verstünde. Denn deren
maschinell unterstützte Performanz wurde erst mit der Fotografie allgemein
zugänglich und verhältnismäßig gleichförmig.
Der Begriff der "Intersubjektivität" ist ohnehin zu verwerfen.
Er greift infolge der kommunikativen Unerreichbarkeit eines Bedeutungskonsenses
in Subjekten fehl. Statt der ausgeschlossenen Subjektreferenz von Kommunikation
sprach ich von Interpersonalität [s.S. 45 Fußn. 12].
Diese charakterisiert die kommunikationsinterne Vergesellschaftung von Personen,
indem sie deren kommunikative Anschlußfähigkeit durch Reziprozität
(Wechselseitigkeit) einer Regel (Code) erwartbar hält. Interpersonalität
setzt sich bei visueller Kommunikation aber erst durch, wenn erstens verwandte
Erkennungsgewohnheiten der erfahrenen Bildpräsenz vorhanden sind, und
wenn zweitens zumindest für zwei Bildbetrachter die Formpräsenz
einen repräsentierenden Sinn wiedererkennen läßt. Daß
die beiden Bildbetrachter etwas wiedererkannt haben, also repräsentierenden
Sinn fanden, können sie sich dann sprachlich oder durch andere Gesten
bestätigen. Demnach hängt Interpersonalität davon ab, daß
irgend etwas kommuniziert und wechselseitig bestätigt wurde. Der Sinn
der Form des ikonischen Bildes muß daher vorerst zu einem kommunikativen
Reglement werden, damit das Bild augenblicklich interpersonal wahrgenommen
werden kann. Konventionen regeln demnach den verallgemeinerten Sinn beider
Formen«, damit, wie weiter oben erläutert [s.S. 171], auch
visuelle Kommunikation nicht jedesmal erarbeitet, sondern ad hoc interpersonal
im doppelten Sinn der Form verstanden wird. Interpersonalität benennt
somit bezüglich des Sinns, daß visuelle Kommunikation sich zwecks
schnellerer Informations- bzw. Nachrichtenvermittlung innerhalb eines kommunikativen
Konsenses ereignet, der es kalkulierbar macht, welche visuell kommunikativen
Darstellungsformen regelmäßig von Personen verstanden werden
[s.S. 45 Fußn. 12]. Das kommunikative Element von Bildern
bleibt auf die im Konsens abgesicherte Interpersonalität des Sinns
weitgehend angewiesen. Infolge dieses Konsenses über ähnliche
Differenzierungskriterien der Beobachter verhindern z.B. sehr innovative
oder kulturfremde Malereien spontane Interpersonalität, weshalb sie
in ihrem repräsentierenden Sinn der Form zu decodieren sind, wenn aus
ihnen kulturelle Darstellungskonventionen folgen sollen. Ikonische Darstellungskonventionen
sind grundsätzlich auf optisch erfolgreiche Sinnstiftungen angewiesen,
falls sie in die visuell kommunikative Lage versetzt werden sollen, Sinn
per "kulturellem Gesetz" zu symbolisieren. Denn die wenigsten
Symbole sind visuell sinnfällig bzw. visuell kommunikativ plausibel.
Jene
symbolisch verallgemeinerten Gesetze wollen umfassenden Einspruch verhindern.
Sie erhalten eine kulturelle Konformität aufrecht, um interpersonale
Kommunikationsmöglichkeiten herzustellen. Erst ein kulturelles Gesetz
(Legizeichen) über Darstellungsformen ermöglicht eine Kommunikation,
deren optische Nachrichten rasch verständlich werden. Beispielsweise
kommuniziert es sich mit der technisch erzwungenen Konformität von
Fotografien besonders leicht. Denn deren Gesetze im Legizeichen benachrichtigen
scheinbar subjektunabhängig über die Existenz einer optischen
Sache, obwohl einzelne "Paragraphen" täglich novelliert und
durch ein menschliches Bewußtsein im Sinzeichen manipuliert werden.
Eine Besonderheit erzeugen zentralperspektivisch erstellte Bilder dadurch,
daß ihr repräsentierender Sinn aufgrund eines optischen "Naturgesetzes"
(88) zum interpersonalen Legizeichen wird. Die Zentralperspektive wurde in der
Epoche der Renaissance erfunden. Seit dieser Zeit gilt bis heute diejenige
Wirklichkeit einstweilen als unumstößlich, die interpersonal
beobachtbar, meßbar und berechenbar ist, woraufhin sie auch erst in
allgemeinwahrscheinlichen "Naturgesetzen" beschrieben werden konnte.
Die stark idealisierte Bedingung der optischen Perspektive wäre daher
keine kulturelle Konvention. Sie beruht auf geometrischen und physikalischen
Wahrscheinlichkeiten, die als optische Gesetzmäßigkeiten bezeichnet
wurden [s.Fußn. 88]. Dies hat Goodman [vgl. 1973/28] unzutreffend
beschrieben. Er meint die bildliche Perspektive (man denke hier z.B. an
Fotografien) würden nicht den Gesetzen der Optik folgen. Doch liegt
Goodman mit der Meinung richtig, daß die nicht idealisierte Zentralperspektive,
deren Verwendung für visuelle Kommunikation, und ebenfalls die kulturbedingte
Anpassung von Individuen an die unnatürlichen Wahrnehmungsverhältnisse
von Bildern, eine kulturelle Konvention sind. Ohne Frage werden perspektivische
Bilder, die die kulturell eingeführte Annäherung an ein "Naturgesetz"
nutzen, in eine kommunikative Situation versetzt, wie sie absolut kein anderes
Kommunikationsmedium hergibt. Denn jetzt erzeugt theoretisch jeder in identischen
Verhältnissen den gleichen subjektunabhängigen Sinn repräsentierender
Form. In identischen Konstellationen würde also jeder die gleichen
optischen Zeichen von einer Begebenheit perspektivisch codieren. Diese Berechenbarkeit
begründet das große Vertrauen in technisch erzeugte Perspektiven
(Legizeichen). Selbst verbale Sprache wird unberechenbarer und unvoraussagbarer
formuliert als die Perspektive, die einem syntaktischen Automatismus folgt.
Selbstverständlich beruht auch dieses Vertrauen auf einer visuellen
Gewohnheit. Es herrschen so gut wie nie idealisierte Darstellungsbedingungen
vor, weshalb die alltägliche Bildperspektive eine konventionell etablierte
Möglichkeit der Lüge bleibt.
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Maler waren über Jahrtausende die innovativsten Initiatoren von neuen
Segmentierungserfindungen bildlicher Formen und ästhetischer Ideen.
Zwar hatten die Erfinder der Perspektive und anderer Konventionen neben
dem hauptsächlich ästhetischen Anspruch auch einen technischen,
heutzutage aber sind es vielfach nur mit Technik beschäftigte Erfinder,
die neue Darstellungscodes von Bildern durchsetzen. Über die massenmediale
Durchsetzung von Holographien und 3D-Fernsehen konnte bisher allerdings
kein langfristiger Konsens gefunden werden. Gleichwohl sind zeitgenössische
Techniker nach wie vor bestrebt, bildliche Zeichencodierungen zu erfinden,
um mittels evolutionierter Bilder über optische Wirklichkeiten zu berichten,
oder wie in Simulationsbefürchtungen angedeutet, über deren Existenz
hinwegzutäuschen. Offenbar haben die Malerei und die Kunst ihre Domäne
abgegeben, aus der heraus sie innovative Darstellungscodierungen vorschlugen.
Neuerdings installieren nichtkünstlerisch ambitionierte Techniker zeitgenössische
Darstellungscodes in der (Welt-)Kultur. Die aktuelle Krise der Malerei demonstriert,
daß die wenigsten im Kunstmarkt agierenden Künstler die Arbeit
an optischen Codes interessiert, entweder weil sie keine Techniker sind,
oder weil sie meinen, daß alle in ihrer Fähigkeit als Maler möglichen
Codes ausgeschöpft sind. Künstler verfügen dann nur über
vier Möglichkeiten: sie wiederholen schon bekannte Darstellungscodes,
bedienen sich kultureller Codes von modernen Film- Video- und Computer-Technikern,
flüchten sich in die Bearbeitung von dreidimensionalen Gegenständen
oder halten sich aus dem aktuellen Kunstsystem heraus. Künstler verzichten
daher zunehmend auf bildliche Zeichen und deren ursprüngliche "Freiheit",
weil gegenwärtig industrielle Teams über das Medium und die primäre
Bildencodierung im "Quali-" und Legizeichen dominieren. Dies heißt
aber nichts anderes, als daß industrielle Teams die Vorschlagsautorität
gewonnen haben, wie Konventionen vom Sinn der präsenten und der repräsentierenden
Bildform einzuhalten sind. Die visuelle Kommunikation ist der einzige Bereich
der gesellschaftlicher Kommunikation, wo einzelne und Teams berufen wurden,
neue Konventionen (Gesetze) von kompletten Kommunikationssystemen zu formieren.
Im Gegensatz zur verbalen Sprache, die in bezug auf verordnete Reformen
verhältnismäßig stabil bleibt, sind primäre Bildencodierungen
industriell und politisch wesentlich leichter zu etablieren, wie die Geschichte
der Fotografie [vgl. Freund 1976] bzw. die deutsche Vergangenheit vor und
nach 1945 bestätigt.
Jener industriell beherrschende Einfluß auf den Sinn der Form legt
Individuen nicht vollends fest. Lediglich die Farbqualitäten und die
künstlichen Perspektiven (89) von automatischen Instrumenten sind intolerant.
Der syntaktische Bildaufbau im Sinzeichen läßt hingegen subjektive
Ungebundenheiten vollständig zu, sogar vollständiger als irgendeine
andere Zeichenkommunikation es vermag. Der Fotograf beispielsweise kann
eine mathematisch unendlich große Anzahl von An- oder eigentlich Absichten
innerhalb der technischen und subjektunabhängigen Notwendigkeiten (Gesetze/Legizeichen)
seines Instruments verwirklichen. Trotzdem wird einzelnen Fotografien die
gesellschaftliche Auszeichnung "Kunst" meist dann verliehen, wenn
für unsere Kultur deutlich ist, daß sie weniger auf automatischer,
sondern weitgehend auf individuell künstlerischer Entscheidung beruht.
Es ist nämlich kreatives Geschick aufzubringen, wie z.B. die Künstlerin
Astrid Klein zeigt, sobald bei der ikonischen Darstellung eines dreidimensionalen
Gegenstandes dem konzeptionellen Automatismus der künstlichen Perspektive
einer Black Box entflohen werden soll, um unterhalb des interpersonalen
Sinns noch Freiheiten eines subjektiven Sinns wiederzuerkennen. Auf der
anderen Seite basiert gerade der durchschlagende Erfolg der automatisierten
Bildproduktion darauf, daß interpersonaler Sinn per Knopfdruck aus
dem Apparat kommt. Die visuelle Kommunikation ist bisher das einzige Kommunikationssystem,
welches in seinem kommunikativ anschlußfähigen Sinn der Form
soweit automatisiert werden konnte, daß es annähernd unabhängig
vom menschlichen Bewußtsein eine kommunikationswirksame Syntaktik
und Semantik als Symptom einer Maschine situationsadäquat fabriziert
und mitteilt.
Nach Vermutungen Ecos [vgl. 1991a/80f.] traten im Mittelalter fundamentale
Unsicherheiten aufgrund sozialer und natürlicher Katastrophen auf,
was zur Konsequenz geführt haben mag, daß ein symbolisches Repertoire
ausgearbeitet wurde, um sich der furchterregensten Aspekte der Natur entledigen
zu können. Ein vergleichbares Krisenphänomen kündigt sich
gegenwärtig an. Denn die symbolisch kommunizierten Zeichenwelten wachsen
so unüberblickbar an, daß deren Komplexität nur unter großem
Zeitaufwand Orientierung bietet. Der daraus resultierenden Verunsicherung
begegnen moderne Informationsgesellschaften mit der automatisierten Beschleunigung
eines kommunikativen Sinns, der über ikonische Formen verbreitet wird.
Denn dadurch, daß heutige Gesellschaften ihre Kommunikation vom verbalen
und symbolischen auf den visuell kommunikativen Bereich verlagern, versuchen
sie wesentlich komplexere Informationen zu reduzieren und zu vermitteln,
wodurch sie Zeitverzögerungen in der Erstellung des kommunikativen
Sinns scheinbar unterbinden. "Scheinbar" zweifelsohne deshalb,
weil ikonische Bilder oft in einem kommunikativen Sinn erstellt werden,
der zwar während des visuellen Wahrnehmens zügig informiert und
nahezu vorkommunikativ verständlich wird, der aber aufgrund seines
rhematischen Interpretantenbezugs allenfalls prälogische Orientierung
bietet. Diese rasche Orientierungsweise hat schlicht zur Folge, daß
sich die durch Bildautomaten verkürzten Zeitspannen bei der Überführung
in verbalsymbolische Kommunikationscodes wieder zeitlich ausdehnen, wenn
konsequente oder gar aussagenlogische Entscheidungen getroffen werden sollen.
Die einzige Zeitreduktion für nicht technisierte, also menschliche
Entscheidungsprozesse besteht darin, daß visuelle Informationen nicht
mehr vor Ort von Individuen eingeholt werden, weshalb diese später
andernorts zur praxeologischen Interpretation verpflichtet sind, wenn mehr
als die visuelle Information und die prälogische Identitätsmöglichkeit
(im Rhema) verstanden und handlungsrelevant werden soll. Allerdings wird
es in der medizinischen Diagnostik (Expertensysteme) probiert und von militärischen
Langstreckenraketen längst vorgeführt, wie Automaten aufgrund
von Bildern zielorientierte Maßnahmen innerhalb ihrer Decodierungs-
und Interpretationsprogramme weitgehend "eigenständig" treffen
können [zu letzterem Virilio 1989/188].
Aus dieser Zeitdiskrepanz zwischen der visuell verfolgbaren Sinnproduktion
und der praktischen Unabwendbarkeit, im diskursiven Sinn Entscheidungen
treffen zu müssen, ensteht das eigentliche Problem für moderne
Gesellschaften. Die semantischen Bildautomaten produzieren mehr sinnorientierte
Kommunikation als Individuen in verbaler Sprache überhaupt mit gleicher
Geschwindigkeit erfassen können; dies führen Astronomen eindringlich
vor, wenn sie in einer Nacht soviel an Bildinformationen erzeugen, daß
sie Jahre für das wissenschaftliche Verständnis brauchen. Um es
auf einen Satz zu bringen: die Bildautomaten, genaugenommen sind es syntaktisch-semantische
Sinnautomaten, lassen eine sinnorientierte Kommunikation entstehen, deren
organisierte Komplexität zu einer informationellen Entropie auswächst,
die Individuen im optischen Nachrichtengehalt weitgehend widerspruchslos
hinnehmen müssen. Denn die informationelle Entropie, die Bilder veranschaulichen,
erlaubt in ihrer ikonischen Ähnlichkeitsbehauptung grundsätzlich
keinen logischen, an propositionalen Plausibilitätskriterien orientierten
Widerspruch. Zuletzt entwickelt sich dieser semantische Sinn tendenziell
zum überkomplexen Unsinn.
Wie diese informationelle Überkomplexität von optischen Nachrichten
zu bewältigen sei, darüber haben sich Beschäftigte des japanischen
"Ministry of Post and Telecommunications" (MTP) ihre Gedanken
gemacht. Sie berechneten für den Informationswert eines stehenden Bildes
80 Worte pro Minute und veranschlagten für ein laufendes Farbfernsehbild
sogar 1200 Worte pro Minute [vgl. Hensel 1990/66]. Wer kann jedoch 1200
Worte in der Minute oder 200 Seiten (72000 Worte) dieser Arbeit pro Stunde
lesen und handlungsrelevant verstehen? Der drollige Versuch vom japanischen
MTP dokumentiert die verbreitete Hilflosigkeit, die entsteht, wenn mit Begriffs-Konzepten
einer Nachrichten-Gesellschaft die Aktualität einer Informations-Gesellschaft
verstanden werden soll. Es ist unerheblich, was alles unter dem Modewort
»Informationsgesellschaft« firmieren soll; Bilder nehmen ihr
Sonderrecht innerhalb einer authentischen Informations-Gesellschaft jedenfalls
dadurch in Anspruch, daß sie tatsächlich vorrangig visuelle Informationen
ermöglichen und zu einem wesentlich geringeren Teil verbalisierbare
und negierbare Nachrichten mitteilen. Insbesondere bewegte, aber auch stehende
Bilder werden nämlich kaum sprachlich, sondern emotional bewältigt
und mit Bedeutungen belegt.
Jenes widerspruchslos hinzunehmende Sonderrecht ikonischer Bilder macht
den modernen Menschen zeitweilig glauben, die Welt sähe womöglich
so aus, wie sie im präsenten und repräsentierenden Sinn der Bilder
angeboten bzw. bezeichnet ist. Das kontinuierliche »Wie« im
Fluß befindlicher Formen katapultiert hier das »Was« des
Inhalts aus dem kommunikativen Kontext der Symbole, d.h., die informationelle
Entropie im Inhalt von Bilderwelten degeneriert entweder zur Ähnlichkeit
mit der Welt oder zur entähnlichten Ästhetisierung der Darstellungsform,
so daß symbolische Inhalte solch ikonischer Nachrichten irgendwie
und irgendwann einmal möglich werden können. Bei kritischer Auslegung
automatischer Bilderzeugung wäre das einzige, was dem widerspruchslos
hinzunehmenden Sonderrecht noch entgegnet werden könnte, daß
ikonische Weltrepräsentationen (Weltbilder) einfach nicht schön
sind, weiter nichts [s.S. 43 (Rhema)]. Je nach normativer Haltung eröffnen
sich hier zwei Beurteilungsmöglichkeiten: einerseits kann man den kollektiv
verbindenden Sinnkonsens, der ikonischen Formen nachfolgt, als die Zerstörung
des symbolischen Interpretationsrahmens verstehen, wie z.B. Kleinspehn [vgl.
1989/157ff.] im Anschluß an A. Lorenzer kritisch einwendet, oder man
bejaht andererseits das prälogische Sonderrecht ikonischer Formen,
weil es eine erste Gelegenheit bietet, daß Individuen sich aufgrund
leichtverständlicher Sinnlichkeit kommunikativ vergesellschaften, um
sich überhaupt irgendwann einmal auf der symbolischen Ebene der Kommunikation
einfinden zu können. Der symbolische, in diesem Zusammenhang der ikonische
Interaktionismus der Kleidermode und der der Bewerbungsfotos für Arbeitgeber
wären zwei Beispiele dafür, wie optische Sinnlichkeit kommunikative
Anknüpfungspunkte bietet, die zu subjektiven Zugehörigkeitsverhältnissen
oder zu vermeintlich gleichen Lebensgefühlen führen. Solche subjektiven
Zugehörigkeitsverhältnisse, die durch ein Schönheitsempfinden
ikonischer Formen provoziert werden, möchte ich als »emotionsmotivierten
Sinnkonsens« verstehen, damit deutlich bleibt, daß Schönheit
zwar kommunikativ bestätigt werden kann, aber keinesfalls interpersonal
kontrollierbaren Funktionskriterien gehorcht.
Der emotionsmotivierte Sinnkonsens benennt im weitläufigen Sinne von
"Vergemeinschaftung" [Weber 1972/21] eine subjektiv verallgemeinerte
Situation, in der Individuen erstens Formen betrachten, zweitens diese Formen
aus einer Spontaneität heraus für objektadäquat halten, also
einen ikonischen Ähnlichkeitsbezug wahrnehmen, und drittens, daß
sie sich subjektive Emotionen oder ästhetische Urteile reziprok bestätigen,
obwohl ihnen die Plausibilitäts- und Differenzierungskriterien des
jeweils anderen unbekannt sind. Sie sagen oder signalisieren positiv schweigend
eventuell: schöner, netter Mensch auf dem schönen Bild. Wie mit
dem kommunikativen Beziehungsaspekt aufgegriffen [s.S. 114, 140], vermute
ich, daß ein solcher emotionsmotivierter Sinnkonsens anhand von ästhetischen
Geschmacksurteilen durchaus dazu beiträgt, erste approximative Zugehörigkeitsverhältnisse
und kommunikative Anknüpfungspunkte zu finden, obwohl symbolische Inhalte
noch inkommunikabel ausbleiben. Andererseits besteht die Möglichkeit,
daß ein Geschmacksdissens eine soziale Ausdifferenzierung begünstigt,
in der ohne symbolische Begründungen im »Wie« der kulturellen
Formen signalisiert wird, welche persönlichen Beziehungsaspekte und
Differenzierungskriterien an welchen Sozialisationsmedien ausgebildet wurden
[hierzu Bourdieu 1982/57ff.].
Kulturgemäß werden ästhetische Sachlagen unterschiedlich
empfunden, je vehementer jedoch Bildformen in den kulturellen Raum eindringen,
desto eindringlicher wird das ästhetische Empfinden von Individuen
bearbeitet. Denn ganz allgemein werden "ethnozentrische" Tendenzen
von Gesellschaften bzw. Gruppen eher verhindert, und die Wahl von neuen
Beziehungspartnern wird unterstützt, wenn Ähnlichkeiten zwischen
Kulturen bzw. Subkulturen bemerkt oder erst entwickelt werden [vgl. Antweiler
1994/147f.; Schulze 1993/183]. Zwar gehorchen ästhetische Kriterien
subjektiven und innenorientierten Urteilen, die einem unspezifizierbaren
Sinnkonsens unterliegen, dennoch lassen sie sich durch Medien in zwei Weisen
beeinflussen: erstens infolge einer Enkulturation, indem Individuen (inter-)kulturelle
Bilderwelten als biographische Sozialisationsinstanz annehmen, wodurch sie
die überlieferten Formen (z.B. der Television) unumgänglich auch
mit affektiven Bedeutungen verbinden. Und zweitens entsteht in der Kultur
mit der Übernahme externer Kulturformen und der Überformung durch
diese ein Prozeß der Akkulturation, der mittels Bildmedien partiell
affektive Bedeutungen und ästhetische Formen langfristig verändert.
Diese beiden Prozesse zusammengenommen stärken die These, daß
die weltweit verbreiteten Medien das ästhetische Empfinden ganzer Kulturkreise
missionieren, indem sie es verändern und eventuell vereinheitlichen.
Denn die farbenprächtigen Formen der Kulturindustrie tauchen allseits
gleichförmig auf und werden allseits, wenn auch nicht mit gleicher
Bedeutung, so doch im Sinn der Form gleich verwendet. Diese interkulturelle
Präsenz der Medienbilder erreicht im fortgeschritten Stadium einen
Status, der den gefühlsmäßigen Einwand, daß etwas
nicht schön oder nicht sympathisch ist, weitgehend lahmlegt, da alle
Formen den gleichen Darstellungsgesetzen (Legizeichen) folgen. Das Fremde
würde dann zum interkulturell Eigenen oder zur Bedrohung des kulturell
Eigenen.
Der weltweit gleichlaufenden Ästhetisierung von Bilderwelten folgt,
daß erstens Medienkonzerne (z.B. die Frauenzeitschrift "Elle")
weltweit kommunikativ und ökonomisch agieren können, und daß
zweitens ein gefühlsmäßig ermunterter Einwand unterbunden
wird, sofern "Schönheit" bzw. die Suche nach Wohlgefallen,
die Möglichkeit eines ersten emotionsmotivierten Sinnkonsenses bereitstellen
kann, wie in der Kleidermode. Und exakt diesen Wohlgefälligkeits-Konsens
verfolgen globale Strategien (90)
der Medienkonzerne. Denn diese interessieren sich dafür, wie kulturelle
Sprach- und Reflexionsbarrieren der symbolischen Kommunikation zu unterlaufen
sind. Die Ausgaben für globale Werbung beispielsweise werden von 303
Billionen im Jahr 1990 auf vermutlich 780 Billionen Dollar im Jahr 2000
steigen [vgl. Mowlana 1985/86]. Und wie man sieht, funktioniert die Werbung
meist aufgrund visuell einprägsamer Formen, deren ästhetisches
Spektrum sich auf das stilistisch Signifikante reduziert. Je einfacher Formen
nämlich sind (z.B. Benetton Mode), desto schneller können sie
mit subjektiven Wohlgefälligkeitsurteilen belegt werden [hierzu Raab
1976]. Aber dennoch befürchtet Mowlana [vgl. 1985/217], ausgerechnet
touristische Erzählungen von internationalen Begegnungen würden
einen Einfluß ausüben, der das weltweite Kommunikationsnetz emotional
auseinanderdriften läßt. Die Zoll- und Handelsabkommen im Jahr
1994 (GATT) über "Fernsehen ohne Grenzen" kündigen an,
daß man sich auch heutzutage darüber streiten kann, ob Kommunikation
über kulturelle Grenzen hinweg anzustreben ist oder nicht; worüber
man jedoch weniger disputieren kann, ist, ob ikonische Formen eine erste
und besonders leicht zugängliche Emotions- und Kommunikationsmöglichkeit
verkörpern, die kraft affektiver Assoziierungs-Chancen mühelos
jede kulturelle Hürde der symbolischen Sprache bezwingt. Dies hatte
beispielsweise die christliche Kirche früh erkannt. Sie teilte mit
der spätmittelalterlichen Bilderbibel »biblia pauperum«
("Armenbibel") die wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte und
eine Zusammenschau von Neuem und Altem Testament auf visuell kommunikativem
Wege mit, um die des Lesens Unkundigen zu erreichen. Die nominelle Ästhetisierung
der Bilderwelt, die im Grunde in trivialisierte Stilisierung abrutscht,
folgt demnach nicht primär einer ökonomischen Aktion, wie Welsch
[vgl. 1993a/7] schreibt, sondern einer kommunikativen Strategie (91), die die
Kulturindustrie sekundär kommerziell nutzt, vergleichbar dem Modell
der christlichen Kirche.
Ein Problem für Gesellschaften taucht auf. Im emotionsmotivierten Sinnkonsens
überwiegt eine Kommunikationssituation, in der es Individuen ermöglicht
ist, in wohlgefälliger Übereinstimmung von sprachlicher Kommunikation
isoliert zu bleiben. Denn Bildbetrachter erleben ihre vermeintliche Verbundenheit
vorrangig im Konsens des Schweigens. So kann es passieren, daß Bilder
eine projizierte Verbundenheit von innenorientierten Gefühlswelten
stiften, in denen sich das Individuum von jeder weiteren Kommunikation isoliert
oder isolieren läßt, da jeder ästhetisch motivierte Widerspruch
zunächst auf Unverständnis stoßen wird, wodurch in der Regel
verbale Bemühungen erforderlich werden. Ganz im Gegensatz zur Rede,
die nach Luhmann u. Fuchs [vgl. 1989/105] im Sprechen Anschlußfähigkeit
signalisiert, während Schweigen Reflexion vermitteln soll, erhalten
Bilder ihre kommunikative Anschlußfähigkeit im ästhetischen
Schweigen und verhindern innerhalb vorübergehender Zeitspannen manchmal
sogar Reflexion. Ergänzend bemerkt Grassi [vgl. 1970/68f.], daß
bereits vor dem christlichen Mittelalter das Schweigen, welches die Unzulänglichkeit
der Sprache bekundete, eine Bedeutung erhielt, die das bildhaft Erste einer
ursprünglichen Sicht unterstrich, indem sie als eine dem unaussprechlich
Göttlichen zumindest nahestehende erfahren wurde. Die schweigend erfahrene
Bildkommunikation des Schönen und Ästhetischen im weitesten Sinne,
provoziert offenbar seit längerer Zeit eine Möglichkeit, in der
sich Individuen im Konsens der Einsamkeit gemeinsam fühlen können
oder wollen, wie z.B. in Kinos, Museen, Kirchen, Tempeln oder vor dem Fernseher.
Bei gemeinschaftlicher Bilderfahrung verbindet sich Einsamkeit sicherlich
mit kommunikativer Interaktion. Der Widersinn von hauptsächlich technisierter
Bildkommunikation tritt dort besorgniserregend hervor, wo Individuen ihre
kommunikative Vergesellschaftung in der Isolation von sozialen Wechselwirkungen
realisieren, ohne daß ihre gemeinschaftliche Einsamkeit, aufgrund
isolierter Bildbetrachtung, aufhebbar wäre. Der Konsum televisionärer
Bilder mündet daher in der Paradoxie, daß sich Betrachter das
Bedürfnis nach Kommunikation befriedigen, indem sie ihre soziale Isolation
und ihr Schweigen mit der vergesellschaftenden Sichtbarkeit des Bildes zusammentreffen
lassen [hierzu Sennett 1983/319]. In diesem Schweigen erleben die Bildbetrachter
ihre eigene Verhinderung aller weiteren Kommunikation als befriedigende
Kommunikation. Eine zusätzliche Kommunikationshemmung kommt auf, sobald
ästhetische Botschaften beim Sehen auf innenorientierter Erfahrungsebene
interpretiert werden, aber nicht mehr vom verbalorientierten Verstehen durchbrochen
werden müssen, weil sich der ikonische Signifikationscode bei großer
Vertrautheit vorkommunikativ, also weitgehend resistent gegen verbale Interpretationen,
wahrnehmen läßt. In dieser Begleiterscheinung visueller Kommunikation
trennt sich kulturelles Weltbürgertum von sozialorientierter Kommunikation,
insofern der ikonische Signifikationscode von Massenmedien kulturelle Verwandtschaftsgrade
anbahnt, obwohl Bedeutungsinterpretationen (verbal-)symbolischer und indexikalischer
Inhalte innerhalb sozial kooperativer und individueller Interpretationen
ortsansässig bleiben oder ausbleiben.
Das wohl Erstaunlichste bei der im Konsens des Schweigens abgesicherten
Sinnfabrikation ist aber, daß moderne Kulturen den Anschein von logisch
orientierten oder verbalcodierten Entscheidungsprozessen geben, während
sie sich in ihren Kommunikationscodes mehr und mehr prälogisch orientieren,
wenn sie in ihren Bildern sich selbst oder etwas anderes infolge einer Ähnlichkeitsbeziehung
wiedererkennen. Eine verwandte prälogische Sinnorientierung der Kommunikationscodes
fand sich bisher nur in Kulturen, die ins Material umgesetzte Zeichen im
Sinne eines Kultes verstanden haben. Denn im Kult herrscht ein magisches
Denken vor, welches seinen grundsätzlichen Glauben darauf stützt,
"... daß ein Ereignis oder eine Handlung mehr bedeuten [soll]
als im unmittelbaren Vorgang enthalten zu sein scheint" [Boesch 1983/83].
Einer solchen kultischen Kommunikationssituation gehorchen ebenfalls Individuen
moderner Kulturen in zwei Interpretationstendenzen: erstens dann, wenn sie
anfangen, ikonische Ähnlichkeitsbehauptungen innerhalb von diskursiven
Sinnkonstitutionen zu interpretieren; und zweitens, wenn sie den repräsentierenden
Sinn von Bildern insoweit vergessen, daß das Bild auf den typischen
Kultgegenstand zurückfällt, indem sie es in den Handlungskomplex
eines Rituals (92) verrücken, in dessen zeitlichen Rahmen das präsente
Bildzeichen den geschilderten Gegenstand in jeder Hinsicht stellvertretend
ersetzt. Letztere Auffassungskompetenz fordert für gewöhnlich
die automatische Bilderzeugung von heutigen Individuen, sobald diese infolge
des Sinns repräsentierender Form zu der vorschnellen Meinung tendieren,
sie würden in laufenden Bildern etwas von der Weltwirklichkeit sehen.
In der präsentierenden Eigenschaft von ikonischen Bildern liegt die
Ritualfunktion, die die repräsentierende Eigenschaft ins Vergessen
treibt, um in prälogischer Kommunikationstechnik emotionsmotivierte
Handlungen zu provozieren. Dies demonstrierten nicht zuerst und nicht zuletzt
die amerikanischen Regierungen, als sie besonders prägnante Bilder
von unschönen, weil zerstückelten Soldaten zum äußeren
Anlaß nahmen, die übrigen Kämpfer aus dem Kriegsgebiet von
Vietnam und Somalia abzuziehen. Hier wird deutlich, daß Bilder, sobald
ihre Repräsentation als wirklichkeitsnahe Präsenz erfahren wird,
den Betrachter emotionaler ansprechen können als diskursive Sinnkonstitutionen.
Der Betrachter braucht sich hier die unschönen Objektbezüge des
schönen Zeichenmediums (die unschönen Toten im brillanten Bildmedium
des Fernsehens) nicht mehr denken (vorstellen), sobald er sie direkt mit
eigenen Augen als empirisch wiedererkennbare Wirklichkeit erlebt, wenn er
scheinbar durch das perspektivische und farbige Bild hindurchblickt. Die
eigentlich in Bildern vorzufindende Distanz zur referierten Wirklichkeit
wird offenbar zur kultischen Instanz von unverhüllter Wirklichkeitserfahrung
herangezogen, und dann per Geschmacksurteil prälogisch ausgewertet.
Das annähernde Bilderverbot vom Kriegsschauplatz im Irak, wo das Bild
zur Waffe gegen die UNO-Moral geworden wäre, untermauert, daß
diskursiv vermitteltes Wissen um ca. 100 000 Leichen die Grenzen des
"guten" Geschmacks weniger leicht verständlich antastet als
anschauliches Wissen der Bilder. Dies stellt übrigens ein Argument
dar, warum Medienbilder keinesfalls immer vom mediatisierten Publikum reaktions-
bzw. gedankenlos mit Genuß konsumiert werden. Die von Bolz übersehene
Dialektik des Medienbildes findet sich nämlich dort, wo sich zwar die
- hinter dem schützenden Schirm geborgene - Öffentlichkeit
den "Schrecken zur Lust" [Bolz 1993a/11] werden läßt,
sich ihr aber andererseits ebenso »die Lust zum Schrecken« wandelt.
Kraft Mimesis attackiert somit der Bildschirm manchmal die Emotionen, die
er abwehren soll.
----Fußnoten----
(83)
Dürer entwickelte seine Zentralperspektive aus einem Fadenraster,
welches in einen Rahmen gespannt, die fixierte Sicht auf einen Gegenstand
konkretisierte und so berechenbar auf ein Linienraster des Malgrundes
übersetzbar wurde.
(84)
Luhmann geht allerdings zu weit, wenn er schreibt: "Mit der Bezeichnung
»Konsens« kann nur die Bewußtseinslage der Umwelt des
Gesellschaftssystems gemeint sein, soweit sie als Medium für Formen
fungiert, über die durch Kommunikation entschieden wird" [Luhmann
1992/56]. Bilder opponieren dagegen. Sie ermöglichen eine konsensuelle
Bewußtseinslage, in der Umwelt wahrgenommen wird, obwohl diese durch
Kommunikation und das System erst hergestellt wurde, also einen (Sinn-)Konsens
innerhalb der visuellen Kommunikation beinhalten.
(85)
"In der allgemein [und traditionell] gebräuchlichen Terminologie
wird 'Consensus' mit 'individueller Übereinstimmung' gleichgesetzt.
Zwei oder mehr Individuen nehmen unabhängig voneinander auf ein gemeinsames
Objekt ihrer Wahrnehmung, Beurteilung, Entscheidung Bezug. Das Ausmaß,
in welchem die einzelnen Mitglieder in ihren Wahrnehmungen, Beurteilungen,
Entscheidungen übereinstimmen, wird als Ausmaß des Consensus
bezeichnet [Siegrist 1970/6]. An dieser Ausgangsdefinition kritisiert
Siegrist zutreffend, daß ein Konsens in den Bezeichnungsformen nicht
auch einen in den Bedeutungsinterpretationen nach sich ziehen muß,
da für die letzteren auch Kontext-Nachrichten relevant werden. Er
kommt daraufhin zur folgenden Definition, der ich mich anschließe:
"'Consensus' heißt das zwischen Interaktionspartnern aufgrund
reflexiver Ko-Orientierung erreichte Einverständnis" [Siegrist
1970/55].
(86)
Der chinesische und japanische Taoismus besitzt beispielsweise eine "künstlerische"
Konvention, Tuschbilder aufgrund einer Zufälligkeit entstehen zu
lassen, obwohl sie erst dann repräsentieren, wenn in ihnen etwas
gesehen wird, wenn in der Bezeichnungsform eine kulturelle Einheit zur
Bedeutung gelangt [vgl. Chung-yuan 1985/208ff.].
(87)
Zwar hat auch die Sprache (z.B. im Beziehungsaspekt des Gesangs) etwas
Unwiederholbares, da Gleiches in identischen Zeitsituationen unsagbar
ist, aber - darauf kommt es an - man kann die syntaktisch-semantische
Bezeichnung in deckungsgleicher Regelbefolgung nochmals darstellen.
(88)
Nach Peirce besteht das allen Naturgesetzen zugrunde liegende Kennzeichen
darin, "... daß jede als Naturgesetz bezeichnete Aussage
als Grundlage für Voraussagen dienen kann und auch dazu dient"
[Peirce 1991/293]. Unter bilduntypischen Umständen und im theoretischen
Idealfall, den Bilder (A) [s.Abb. 11] fast nie verwirklichen, beschreibt
die Linearperspektive in geometrischen Gesetzen eine Darstellungsweise,
die bei einäugiger, röhrenförmiger und körperlich
unbewegter Sicht auf ein bekanntes Objekt so erfahren werden könnte,
als ob sie eine naturgesetzliche Darstellung wäre [hierzu Rehkämper
1993]. Hinzu kommt aber, was Rehkämper übersehen hat, daß
eine ideale Perspektive nur dann als naturidentisch erfahren wird, wenn
die Entfernungsakkommodationen des Auges in der Beobachtung von Einzelheiten
unverändert bleiben. Diese Unveränderlichkeit erfüllt nur
das Bild (B), das in Größe und Entfernung mit dem Gegenstand
(C), z.B. einer Hauswand, identisch ist. Wenn aber das Bild (B) mit dem
Gegenstand (C) in den Entfernungen identisch scheint, dann ist das Bild
kein Bild mehr, sondern eben eine vorgetäuschte glatte Hauswand,
die nichts Dreidimensionales an sich haben darf. Denn wäre die Hauswand
mit einem Balkon ausgestattet, dann würde das Auge im perspektivischen
Bild gleiche und in der Wirklichkeit unterschiedliche Entfernungsakkommodationen
wahrnehmen. Die perspektivische Darstellung (A) entspricht demnach keinesfalls
der natürlichen Wahrnehmung, sondern ist eine kulturelle Konvention
für visuelle Kommunikation. Aber unter idealisierten Bedingungen
und unter der naturgesetzlichen Prämisse, daß sich Licht auf
kurzen Distanzen geradlinig ausbreitet, sanktioniert das Verhalten des
Lichts (entgegen Goodmans [vgl. 1973/30] Behauptung, daß es nicht
so geschieht) auf jeden Fall die Modalitäten solcher zweidimensionalen
Abstraktion, die versucht, die Linearität der "Lichtstrahlen"
(z.B. die Camera obscura) auf der Bildfläche einzufangen. Demnach
partizipiert die Linearperspektive in Bildern teilweise an der kulturell
erwarteten Naturgesetzlichkeit der Lichtausbreitung. Damit meine ich,
daß die Idealbedingung der perspektivischen Darstellung keine kulturelle
Konvention ist, weil die optischen Gesetze der Lichtausbreitung vermutlich
überall und auch demnächst noch gelten werden. Trotzdem ist
es aber eine kulturelle Übereinkunft, daß wir die relative
Annäherung an ein optisches Naturgesetz nutzen, um mit Bildern visuell
kommunizieren zu können. Diese relative Annäherung verändert
sich in Graden ständig. Im weiteren werden uns unrealistisch erscheinende
Perspektiven in anderen Kulturen durchaus als realistisch anerkannt. Kulturbedingte
Realismusinterpretationen (Rhema) haben mit der Linearperspektive (Legizeichen)
nichts gemeinsam. Sie gehorchen einer bildbezogenen Erkennungsgewohnheit.
(89)
Jeder Fotograf wird bemerken, daß die diversen Objektive sehr unterschiedliche
Veranschaulichungsfehler und Verzerrungen der Linearperspektive an den
Rändern des Fotos verursachen. Offensichtlich vollstreckt jedes Objektiv
ein wenig eigene Darstellungsgesetze.
(90)
Der emotionsmotivierte Sinnkonsens spielt ebenso in den Absichten von
Künstlern eine bedeutende Rolle. Sie müssen und wollen in der
interkulturellen Kunstwelt lokale Sprach- und Interpretationsbarrieren
überwinden, wie mir eine Diskussion mit chinesischen und russischen
Konzeptualisten (Sergei Anrufriev, Kirill Prebrjenski, Kong Chang Ain,
Wang Iang Ping, Wu Shan Zhuan) in Hamburg 1993 zeigte, wenn sie darauf
abstellen, daß Kunst entweder ein gutes oder ungutes Gefühl
verursacht. Ebenso belegt der Modekonzern (United Colors Of) Benetton
in seiner "Global Vision" [Iiyama 1993] eine vorsymbolische
Kommunikationsstrategie, die mittels eines corporate designs eine emotionale
Verbundenheit weltweit vorantreiben soll.
(91)
Diese Besonderheit kritisiert Welsch (1993a) und sie wurde bereits im
Mittelalter von Bernhard von Clairvaux (1090-1153) angesprochen. "Die
Augen werden geblendet von den vergoldeten Reliquien, und die Geldbeutel
gehen auf. Man stellt wunderschöne Bilder eines heiligen Mannes oder
einer heiligen Frau zur Schau, und je kräftiger die Farben dieser
Bildwerke sind, für desto heiliger hält man die Dargestellten"
[Clairvaux zit. n. Eco 1991a/20]. Ob das, was die Kulturindustrie produziert,
tatsächlich schön ist, ist allerdings eine unentscheidbare Frage.
(92)
Beispielsweise bildet "nach ägyptischen Vorstellungen ... das
Götterbild nicht den Leib eines Gottes ab, sondern ist der Leib eines
Gottes" [J. Assmann 1988b/152]. Denn im Ritual konstituiert sich
die Überzeugung, "... daß religiöse Vorstellungen
mit der Wirklichkeit übereinstimmen und religiöse Verhaltensregeln
begründet sind" [Geertz 1983/78].
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