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a) Bedeutung und Bezeichnung bei
der
visuellen Kommunikation |
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Wie mit Einführung des Interpretanten in Relation zum Zeichenmittel
und Objektbezug gezeigt wurde, erhalten diese durch ihn Bedeutung. Erst
die Interpretation vor dem Hintergrund eines zeichenwirksamen Umgebungsraums
oder kulturellen Zeichenkontextes realisiert die Bedeutungsfunktion eines
Zeichens. Die Verflechtungen, die eine Bedeutung in Kontexten erreichen
kann, wurde in den Interpretantenbezügen wie folgt charakterisiert:
ein Rhema ermöglicht dem Interpretierenden eine offene, ungebundene
Bedeutung des Zeichens; Im Dicent wird die Bedeutung als eindeutig und im
Zeichenkontext als abgeschlossen aufgegriffen; Der Interpretantenbezug des
Arguments beschreibt die Bedeutung als vollständige, weil diese in
einem stark geregelten Gesetzeszusammenhang (Code) der gesellschaftlichen
Pragmatik steht [s.S. 41ff.; hierzu Walther 1983/409ff.]. Der Begriff
einer polypragmatischen Interpretation kennzeichnet somit einen rhematischen
Interpretantenbezug, der bei ikonischen Bildern von einer gesellschaftlich
offenen, uncodierten Pragmatik ausgeht.
Die Bezeichnungsfunktionen eines Zeichens entstehen mit der Verbindung von
Zeichen und Objektbezug. Kein Zeichen bezeichnet sich selbst. Jedes Zeichen
bezeichnet zumindest seine Funktion als Zeichen und oft »etwas anderes«,
das bezeichnete Objekt, welches sich in einer Vorstellung von ihm verwirklicht.
Diese Bezeichnungsfunktionen wurden in drei Objektbezügen aufgegriffen,
die im Symbol ein Objekt durch unähnliche Konvention bezeichnen, die
im Index ein Objekt direkt anzeigend bezeichnen und die im Ikon ein Objekt
durch Wiedererkennbarkeit oder Ähnlichkeit bezeichnen. Das oben angeführte,
ikonische Cowboy-Bild bekräftigte: wenn visuelle Kommunikation reibungslos
funktioniert, dann werden ikonische Bezeichnungen im Bild mühelos entdeckt.
Ein Betrachter findet dann relativ schnell heraus, was das ikonisch Bezeichnete
eines Bildes sein soll. Obwohl sich das Wahrgenommene mit einer ersten rhematischen
Bedeutung verknüpft, gilt diese erste Bedeutung der Bezeichnung jedoch
selten als die intendierte Zeichenbedeutung oder kommunikative Nachricht
des Bildes. Das erwähnte Beispiel von der Raupe und dem Betrachter,
der einer Augentäuschung unterlag [s.S. 104], ist hier instruktiv,
denn zuerst dachte der Betrachter, daß es eine echte Schmetterlingsraupe
sei, was er auf der weißen Fläche wahrgenommen hat. Der ikonische
Objektbezug des Zeichens war offenbar der Raupe so "ähnlich",
daß das Zeichen nicht als Bezeichnung einer Raupe auffiel, woraufhin
das eigentliche Zeichen als Gegenstand in seiner Bedeutung verstanden wurde.
Unter den Umständen eines Trompe-l’œil fällt also die
ikonische Bezeichnung mit dem Gegenstand in eins, und erhält deshalb
keine Zeichen- sondern eine Gegenstandsbedeutung. Offensichtlich verwirklicht
sich im Ikon ein optisch Bezeichnetes erst dann, wenn der ikonische Objektbezug
des Zeichens auf dem Gegenstand Bild ein- oder auffällt, und man plötzlich
sieht, was das Bild bezeichnet bzw. vorerst bedeutet. Wenn also der Betrachter
das Zeichen als Zeichen erkennt und darüber hinaus feststellt, daß
das Zeichen eine Raupe lediglich bezeichnet, dann hat er auch eine erste,
meist vorübergehende rhematische Bedeutung des ikonischen Zeichens
verstanden.
Jene erste rhematische Bedeutung erreicht selten die vollständige kommunikative
Bedeutung oder Nachricht. Denn sie erlangt man meist, wie gesagt, erst mit
der Interpretation von sozialen Kontexten und von symbolischen Vertextungen
einer Kultur. Die erste rhematische Bedeutung sagt nur aus, wie der Betrachter
die zweite Ordnung von Zeichen oder Bezeichnungen von »etwas«
vorläufig erkannt hat. Wenn der Betrachter das Bezeichnete in seiner
ganzen Bedeutung verstehen will, dann wird er gezwungen, die Bezeichnung
in ihren indexikalischen und symbolischen Nachrichtengehalten zu interpretieren.
Und wenn man es weiter differenzieren will, läßt sich entdecken,
daß die erste rhematische Bedeutung des optisch Bezeichneten bei bewegten
Bildern (Film) stärker mit der kommunikativen Nachricht übereinstimmt,
als bei stehenden Bildern. Diese stärkere Kongruenz ist aus Gründen
der Zeit erforderlich, weil lang andauernde Interpretation den kommunikativen
Anschluß an den ablaufenden Film verlieren würden. Laufende Bildfolgen
bezeichnen deshalb ihr Objekt sehr viel öfter monosemantisch, als stehende
Bilder.
Morris [vgl. 1973/92ff.] schrieb, daß Zeichen signifizieren (bezeichnen)
und gleichzeitig nichts denotieren (bedeuten) könnten. Diese Behauptung
läßt jedoch die Frage offen: Welches Signifikat eines Signifikanten
hat kein Denotat? Morris meinte dazu, daß das Denotat eines Zeichens
mit der wirklich überprüfbaren Anwesenheit (67) eines Gegenstandes
vorhanden oder verschwunden ist. Auch Goodman [vgl. 1973/37] nahm an, daß
ikonische Bilder ein Null-Denotat hätten, weil sie anonyme, fiktive
Personen, Orte und Gegenstände veranschaulichen würden. Wenn nun
das Denotat eines Zeichens grundsätzlich einen für uns wirklich
existierenden Gegenstand, d.h. den Referenten, angeben soll, dann könnte
man meinen, Bilder hätten selten ein empirisch überprüfbares
Denotat. Die Frage ist selbstverständlich, wie man überhaupt mit
Zeichen kommunizieren will, wenn Anwesenheitspflicht von Sachverhalten und
vermeintliche Referenz auf außersprachliche Wirklichkeiten die Bedingung
für Kommunikation wäre - man müßte die Weltwirklichkeit
in der Tasche haben, um über sie sprechen zu können. Sobald man
nämlich - wie es alltäglich geschieht - unter einem
Denotat etwas versteht, was aufgrund eines bezeichnenden Objektbezugs des
Zeichens zur Bedeutung gelangt, dann muß die Behauptung von Goodman
und Morris verworfen werden, denn Zeichen kommen selten ohne semantischen
Inhalt und nie ohne Bedeutung vor. Jeder ikonische, indizierende oder symbolische
Objektbezug hat entweder ein für uns "wirkliches" oder ein
konventionelles Denotat, wobei die Möglichkeit der Lüge für
jede Referenz auf unsere Wirklichkeit das "proprium" [Eco 1991/89]
des Zeichens ist. Es ist somit egal, welche Zeichen herangezogen werden;
wenn ein Zeichen etwas anderes als seine Funktion signifiziert, dann hat
es ein Signifikat und auch ein kulturelles Denotat, das in sozialer Bedeutung
anerkannte oder verworfene Eigenschaften von Objekten bezeichnet. Bereits
an dieser Stelle stellt sich heraus: mit Bezeichnungen ohne Bedeutung kann
nicht kommuniziert werden. Dies liegt daran, daß Bezeichnungen ohne
irgendeine, wenn auch vielleicht inkorrekt interpretierte Bedeutung in keinem
Fall als Zeichen bewußt sind, weil psychische Informationsgewinnung
ohne Bedeutung nicht bewußt wird [s.S. 67].
Trotz allem versuchte Morris, auf eine Verhaltensmöglichkeit hinzudeuten,
die auf ein final interpretiertes Zeichen verzichtet, wenn sie sich infolge
eines erfahrenen Gegenstandes ereignet. Denn in der Gegenstandsbedeutung
kann unweigerlich Bedeutung ohne Bezeichnung zu Bewußtsein kommen
[hierzu Sauerbier 1977/158]. Wenn daher das ikonisch Veranschaulichte infolge
einer Gewohnheit oder eines Trompe-l’œils direkt als Gegenstandsbedeutung
wahrgenommen wird, dann bezeichnet das Bild ohne Zeichenbedeutung; das Bezeichnende
(der Signifikant) fällt mit dem ikonischen Bezeichneten (dem Signifikat)
in eins. Vergißt oder übersieht man beispielsweise den Zeichencharakter
eines Stuhlbildes, kann sich der ikonische Objektbezug auf den Stuhl als
scheinbar wirklicher Stuhl präsentieren.
Wie im Begriff des »vorkommunikativen Bewußtseins« festgehalten,
heißt bezeichnen ohne bewußtwerdende Bezeichnung, daß
eine ikonische Bezeichnungsfunktion vorkommunikativ als Gegenstandsbedeutung
visuell informativ wirkt. Um die optische Information einer ikonischen Bezeichnung
wahrzunehmen, benötigt der Bildbetrachter keinen Begriff des Zeichens.
Die optische Information, die der bildliche Darstellungscode ermöglicht,
verwirklicht die ikonische Bezeichnung direkt wahrnehmbar. Mit dieser optischen
Information in der ikonischen Bezeichnungsart pochen visuelle Kommunikationsmedien
auf eine Sonderstellung. Sie vermitteln kulturelle Formen, deren Verständnis
manchmal kaum über das Wahrgenommene hinausgeht. Die ikonische Bezeichnungsfunktion
läßt sich deshalb von Individuen, wenn ihnen der bildliche Darstellungscode
vertraut ist, direkt informativ als Gegenstandsbedeutung wahrnehmen. Normalerweise
bleibt Gegenstandsbedeutung kulturrelational eindeutig dynamisch wirksam,
weshalb alltägliche Bilder eine ikonische Ähnlichkeit bezeichnen,
die vorrangig als monosemantische Gegenständlichkeit visuell informativ
wirkt. Beispielsweise scheitert bei Bildern der Kunst eine Komponente der
visuellen Kommunikation häufig schon daran, daß zwar der Bildgegenstand,
aber nicht das (mitunter ungegenständlich) Bezeichnete unverzüglich
wahrgenommen wird. Sogar, wenn das ikonisch Bezeichnete erkannt ist, verbleibt
für gewöhnlich ein großer Schritt bis zu dem, wie das Bild
in seiner weiteren kommunikativen Bedeutung interpretiert wird. Man hat
nicht sehr viel von einem Bild verstanden, wenn man z.B. in einer Kunstausstellung
die veranschaulichten Dinge identifiziert oder den primären Darstellungscode
als einen bestimmten (Bild-)Stil klassifiziert. Identifikation sowie Klassifikation
von Zeichen und Bildern sagen fast nichts über ihre kommunikative Bedeutung
aus. Deshalb klärt auch die Semiotik keine Bedeutung von Bildern auf.
Will man etwas über Bedeutung von Zeichen wissen, bedarf es eines soziologischen
oder historischen Blicks auf gesellschaftliche Pragmatik.
Im Unterschied zur oft monosemantischen Bezeichnungsfunktion, die ein ikonisches
Bild in einer kulturellen Zeitspanne verwirklicht, ist deren Bedeutungsfunktion
äußerst anfällig für mannigfache Interpretationen.
Das Beispiel des ikonischen Cowboy-Bildes [s.S. 126] zeigte, wie angesichts
monosemantischer Stabilität nahezu jedes Symbol hinzuinterpretiert
werden kann, so daß die interpretierte Bedeutung des vermeintlich
gesehenen Symbols von Kultur zu Kultur, von Subkultur zu Subkultur, von
Kunsttheoretiker zu Kunsttheoretiker und von Individuum zu Individuum wechseln
kann. Eine der wenigen optischen Bezeichnungen, die, seitdem Bilder hergestellt
werden, in anfänglicher Interpretation stabil bleibt, wird möglicherweise
ein sehr einfach gezeichneter Mensch sein, der nichts weiter als Mensch
bedeutet. Und selbst dieser Fall scheint fraglich, weil der Deutende letztlich
doch anfängt zu fragen, was das Zeichen außerdem indexikalisch
oder symbolisch bezeichnen und bedeuten kann und warum der Mitteilende das
Zeichen überhaupt hergestellt hat. Bildliche Zeichen provozieren nicht
nur weitere Zeichenvorgänge, sondern sind auch nicht anders, als durch
zusätzliche Zeichen zu verstehen.
Eine Ausnahme vollbringt das als Kunstwerk verstandene Bild. Es erlangt
manchmal als "letztes Zeichen" [Simon 1989/22] eine nicht weiter
zu differenzierende Bedeutung. Daher bleiben (sollten oder könnten)
Kunstwerke in ihrer ästhetischen "Einmaligkeit" gegen weitere
Interpretationen resistent, wenn man die Kommunikation über ihre bestimmte
Unbestimmbarkeit verweigert und mit ihnen wahrnehmend interagiert. Die Verfehlungen
von Kunstinterpretationen der Bezeichnungen boykottiert beispielsweise Ad
Reinhardt [vgl. 1984/136]. Er versucht exemplarisch in abstrakter Malerei
Gegenstände herzustellen, die die Bezeichnungsfunktion des Bildes selbst
zum Schweigen bringen sollen, um sich jeglicher Bedeutung zu enthalten -
außer selbstredend der, die Kunst bedeutet. Jedes Kunstwerk benötigt
einführende kulturelle Zeichen als sozialpragmatischen Rahmen, ein
Museum beispielsweise. Ein Gegenstand ohne Kontext wäre keine Kunst,
und ein Zeichen ohne weitere Zeichen wäre nicht als Zeichen zu interpretieren.
Für Bilder jedenfalls bestätigt sich dies dadurch, daß vermutlich
in phylogenetischer und ontogenetischer Sicht gesprochene Sprache vor materiellen
Bildern vorhanden war bzw. ist.
Jenes Beispiel eines einfachen Menschzeichens verweist noch auf eine andere,
sehr wichtige Sache. Denn ein Strichmännchen, z.B. in Hinweis-Piktogrammen,
taucht interkulturell auf tausenderlei Weisen auf, und trotzdem kann die
Bedeutung in sozialen Kommunikationskontexten in etwa gleich bleiben, also
irgendwie auf "Mensch" deuten. Dies liegt daran, daß die
konkrete Gestaltung eines Zeichen-Exemplars (Sinzeichen) im Rahmen des primären
Darstellungscodes für Strichmännchen-Zeichen bei einer einzigen
Bedeutung dennoch variieren kann [s.S. 121]. Der Buchstabe »Haus«
in handschriftlicher Gestaltung verändert sich z.B. auch höchst
individuell innerhalb des primären Codes, obwohl Bezeichnetes und Bedeutetes
verwandt bleiben können. Das konkrete Zeichen-Exemplar (Sinzeichen)
folgt in diesen Fällen dem primären Darstellungscode eines kulturellen
Zeichens.
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b) Bezeichnung als kulturelle Semiotik
der Signifikation |
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Worauf ich mit allen aufgezeigten Beispielen zur Bezeichnung und Bedeutung
hinaus will, findet sich in der von Eco [vgl. 1991/22ff.] getroffenen Unterscheidung
zwischen der "Semiotik der Signifikation" und der "Semiotik
der Kommunikation". Diese Differenzierung spaltet nach Eco die Semiotik
nicht in zwei sich gegenseitig ausschließende Methoden, sondern sie
analysiert die Codierung der Signifikationsbeziehung zwischen Zeichen und
Objektbezug als Kultur, indessen sie die Bedeutung der bereitgestellten
Codes als konkretisierte Kommunikation ermittelt. Da Kommunikation das Konstituens
für Gesellschaft ist, werde ich später aufzeigen, daß die
»Semiotik der Kommunikation« die Frage des sozialen Interpretanten
und der Bedeutung berührt, während Kultur die Voraussetzung für
sozialorientierte Bedeutung und eben Gesellschaft bietet [s.S. 237].
Zunächst soll jedoch die »Semiotik der Signifikation« als
die kulturelle Bezeichnungscodierung von Bildern näher bestimmt werden.
Entsprechend der bisherigen Ausführung stellen auch gemäß
Eco kulturelle Signifikationscodes "... die Regel bereit, die
im kommunikativen Verkehr Zeichen als konkrete Gebilde genieren" [Eco
1991/77]. Solch ein Signifikationscode regelt zwar, womit und wie etwas
bezeichnet oder signifiziert wird, also die Beziehung zwischen Signifikant
und Signifikat (68), läßt aber offen, wie die Codierung der Signifikation
verstanden und interpretiert wird. Offensichtlich erreicht Signifikation
keinen kommunikativen Status, weil sie nicht die vollzogene Bedeutungsvermittlung
in Form einer kommunikativen »Verständigung« impliziert
[s.S. 115]. Eine Verständigung oder Zeicheninterpretation findet
in keinem Fall ohne Interpretant statt, d.h., ein Signifikationscode ohne
Interpretanten vermittelt niemals eine Nachricht [hierzu Krampen 1987/232].
Ein Signifikationscode ermöglicht zwar Verständigung in Form von
Codierungsregeln, strukturiert jedoch nicht die Beziehung von Bezeichnung
und interpretierter Bedeutung in einem sozial-pragmatischen Bezugsrahmen.
Zum Beispiel weiß niemand von steinzeitlichen Höhlenbildern mit
Sicherheit, welche Bedeutungen archaische Gesellschaften angesichts der
ikonischen und vermutlich auch symbolischen Bezeichnungen entwickelten.
Die Bedeutungen von kulturellen Zeichen und Objektbezügen, von Signifikanten
und Signifikaten konzipiert ein Individuum immer erst dann, wenn es in interpretativer
Leistung einen Interpretanten festlegt, der zudem überwiegend von internalisierten
Bedeutungskontexten seiner jeweiligen Gesellschaft bestimmt ist. Notwendigerweise
läuft ein kommunikativer Interpretationsprozeß erst dann ab,
wenn der Signifikationscode in erster und zweiter Ordnung entschlüsselt
werden kann. Denn ein Individuum muß die Bezeichnungsfunktionen in
seinen Kulturkontexten kennen(-lernen), um ein Verstehen der Bedeutungen
zu erwirken. Diese kommunikative Routine erwirbt der Mensch durch nichts
anderes als durch Kommunikation und soziale Erfahrung in seiner Gesellschaft,
dies gilt ebenfalls für die visuelle Kommunikation.
In der semiotischen Einführung [s.S. 37] wurde die Bezeichnungsfunktion
des Zeichens erläutert: wenn das Zeichen eine Vorstellung vom Objekt
beim Betrachter verwirklicht, dann erhält das Zeichen-Mittel eine Bezeichnungsfunktion,
die im Objektbezug ein Objekt oder beliebiges, nicht notwendig real existierendes
»Etwas« repräsentiert oder bezeichnet. Das Modell der visuellen
Kommunikation definierte diese Funktion in der theoretischen Verbindung
von Zeichenrepertoire und bezeichnetem »Etwas in irgendeiner Welt«
[s.S. 120]. Bei dieser Beziehung des Zeichens zum gemeinten Objekt,
also dem Objektbezug kommt es jedoch "... weniger auf das Objekt
der Bezeichnung an [den wirklich oder fiktiven Referenten] als vielmehr
auf die Beziehung des Zeichens zum Objekt, das heißt auf die 'Bezeichnung'
selbst" [Walther 1974/60]. Man kann schnell einsehen, wenn man sich
das Dreieck auf Seite 19 in Erinnerung ruft, daß der Objektbezug des
Zeichens inexistent wäre, wenn er ohne einem vom menschlichen Bewußtsein
konstituierten Interpretanten bliebe. Aufgrund der zwar kulturell wirksamen,
aber unwirklichen Verbindung von Zeichenmittel (Signifikant) und Objektbezug
(Signifikat), bleibt ein Signifikationscode "... ein autonomes
semiotisches Konstrukt mit einem abstrakten Existenzmodus, der unabhängig
ist von jedem möglichen kommunikativen Akt, den es ermöglicht"
[Eco 1991/29]. Dennoch "... setzt ... jeder Akt der Kommunikation
in Richtung auf oder zwischen Menschen ... [einen Signifikationscode] (69) als
seine notwendige Bedingung voraus" [Eco 1991/29], wenn er nicht erst
erschaffen wird, wie z.B. bei künstlerischen Bildern.
Obwohl Eco feststellt, daß die von einer Gesellschaft akzeptierten
Signifikationscodes eine "... »kulturelle« Welt setzen,
die - im ontologischen Sinn - weder wirklich noch möglich
ist" [Eco 1991/92; vgl. 28], weil es Zeichen sind (Drittheit/Notwendigkeit),
die auch ohne Referenten ihre kommunikative Weltkonstruktion erfüllen,
hat dies nichts mit der Möglichkeit der Interpretation eines Zeichens
zu tun. Für die bildliche Signifikationsbeziehung reicht es aus, daß
der Darstellungscode einen assoziierbaren Bezug zwischen dem Bild-Zeichen
und dem inhaltlichen Objektbezug herstellt, ganz egal ob der gemeinte Referent,
das Denotat, existiert oder nicht. Das semiotische Objekt einer Bildsemantik
ist das ikonisch bezeichnete Objekt, nicht der Referent im Gegenstand [vgl.
Eco 1991/93]. In allen Fällen signifiziert das Zeichen einen Objektbezug
oder ein Signifikat als eine »kulturelle Einheit«. Beispielsweise
korrespondiert das Bildzeichen, d.h. der Signifikant, »Bundesadler«
mit einer Reihe von kulturellen Merkmalen, die das Signifikat bilden, indem
sie die ikonische Ähnlichkeit, indexikalische Wirklichkeit, den symbolischen
Stolz und Scharfsinn kulturabhängig von einem wirklichen bzw. vorgestellten
Adler bezeichnen. Der von Eco [vgl. 1991/92ff.; 1972/74ff.] verwendete,
hermeneutische (70) Begriff der »kulturellen Einheit« deutet auf
die kulturell wirksame Verbindung von Signifikant und ikonischem Signifikat,
also auf optisch wiedererkennbare Merkmale hin. Dabei ist es ganz egal,
ob der Adler in symbolischen Konnotationen als fette Henne, Armutsvogel,
Wappentier oder Pleitegeier interpretiert wird. Die Existenz jener Verbindung
vom Signifikanten zur kulturellen Einheit, die die kulturelle Semantik des
ikonischen Signifikats "Adler" angibt, sichert die unablässige
Verwendung in einer Kommunikationsgemeinschaft. Da jedoch Hunderttausende
von Adlerbildern vorhanden sind, etabliert der repetierte Signifikationsbezug
lediglich die »ästhetische« Möglichkeit, eine ikonische
Adler-Semantik herzustellen. Dies begründet sich dadurch, daß
bei ikonischen Bildern sowohl der Interpretant keiner Regel folgt, die eine
sozialnormierte Interpretation erwarten ließe, als auch der semantische
Inhalt des Ikons, also die kulturelle Einheit, in einem Spektrum verläuft,
dessen unspezifische Vielfalt von der Assoziationsfähigkeit der Kulturmitglieder
abhängt. Insofern etablieren Bilder mittels ihrer Signifikationscodes
immer nur dann eine kulturelle Welt, wenn die Individuen durch ihre mögliche
Interpretationsreaktion einen Interpretanten bestimmen, der den ikonischen
Objektbezug als eine kulturelle Einheit von Merkmalen wiederkehrend bekräftigt.
Diese Formulierung folgt dem pragmatischen Kriterium der möglichen
Interpretation eines Bildes durch das Bewußtseinserlebnis eines möglichen
Interpreten, um zu betonen, daß sowohl der semantische Inhalt als
auch die pragmatische Bedeutung von Bildern einem offenen Konnex folgen
[s.S. 17].
Mit dem Begriff der Möglichkeit eines Signifikationsbezugs lassen sich
einerseits auch indexikalische Anzeichen, z.B. Handlungen, als Zeichen verstehen,
und andererseits reduziert der offene Signifikationsbezug eine Theorie der
visuellen Kommunikation nicht auf signifikante Bezeichnungsfunktionen des
Zeichens, wie sie eher bei der verbalen Sprache anzutreffen sind. Die Offenheit
des Signifikationscodes steht zwar - wie Nöth [vgl. 1985/194]
bemerkt - in einem Spannungsverhältnis zwischen Code und Nachricht,
weil der signifikative Code die Interpretation von Nachrichten beeinflußt,
und neue Nachrichten den Signifikationscode umstrukturieren. Diese Wechselwirkungen
grenzen jedoch die Offenheit des Signifikationscodes nicht ein, denn Innovationen
verändern in erster und zweiter Ordnung den Code ständig oder
aktualisieren erst »etwas« als kulturelle Einheit in uncodierter
Möglichkeit. Schließlich sind Menschen "nicht-triviale Maschinen"
[Förster 1993/140], da sie nicht einfach ihr statisch codiertes Programm
abspulen, sondern sich vergangenheitsabhängig in einer selbstreferentiellen
Weise organisieren, die eine individuelle Unvoraussagbarkeit aller weiteren
Kommunikationsoperationen beinhaltet.
Wie läßt sich der Signifikationscode bzw. die Funktion der Bezeichnung
im Objektbezug von Zeichen und Bildern lokalisieren? Wie bereits dargelegt,
bezeichnet das (bildliche) Symbol sein Objekt in willkürlicher, stark
konventioneller und unähnlicher Weise. Die Verweisungsfunktion des
Indexes besteht darin, daß er in direkter Beziehung zum vorhandenen
Objekt steht [vgl. Sauerbier 1977/125f.; s.S. 37]. Der ikonische Objektbezug
kommt dem bildlichen Zeichen in seiner wesentlichen Bezeichnungsfunktion
am nächsten, weil er sich in scheinbar sinnlich-augenfälliger,
aber eigentlich »konventioneller« Ähnlichkeit auf das Objekt
bezieht. Für den ikonischen Objektbezug ist »wiedererkennbare
Ähnlichkeit« als kulturelle Einheit konstitutiv. Die Bezeichnungsfunktionen
von Index und Symbol sichern andere Konventionen oder Regelmäßigkeiten.
Die ikonische Bezeichnungsfunktion erreicht für das Verständnis
der visuellen Kommunikation eine so substantielle Relevanz, weil sie im
Vergleich zu den beiden anderen Objektbezügen den höchsten Grad
an (optischer) Information über die gemeinte kulturelle Einheit (Objekt)
transportiert und repräsentiert [vgl. Bense u. Walther 1973/41]. Das
Symbol nämlich bezeichnet sein Objekt in konventionalisiert arbiträrer
Weise, wodurch es weniger als Information und mehr als Nachricht zu verstehen
ist. Auch der Index bietet vorwiegend sehr wenig Informationen von seinem
Objekt, weil er durch eine direkte Beziehung sein Objekt anzeigt. Ein Foto
wurde zwar in seiner kausal-mechanischen Beziehung zum Objekt als Index
beschrieben [s.S. 40], dies betont aber nicht den informativen Wert,
sondern den hohen Grad an unterstelltem Wirklichkeitsbezug in unserer Kultur.
Der informative Wert eines Fotos kommt durch die ikonische Information zustande,
die für uns dem Gegenstand in der optischen Struktur zu "ähneln"
scheint. Deshalb erreicht der ikonische Objektbezug für Bilder einen
so besonderen Status, denn ohne daß ein Bild optische Informationen
von einem wie immer gearteten Objekt bieten würde, wäre ein Bild
für unsere visuelle Wahrnehmung unsichtbar. Im Verhältnis zu anderen
Kommunikationsmedien kommt es bei Bildern darauf an, daß sie von ihrem
Objekt sehr viel mehr Informationen als Nachrichten veranschaulichen. Symbole
und Indizes (Hinweise) erreichen keineswegs die informationelle Substanz
von wirklichen Bildern, was nicht meint, daß Bilder keine Symbole
und Indizes enthalten oder nicht als solche in der Vorstellung (Idee) verstanden
werden. Die visuelle Kommunikation benötigt Symbole und Indizes, obwohl
diese im eigentlichen Sinne nicht das präsent Bildhafte der Bildfläche
und die visuell wahrnehmbaren Informationen im Objektbezug kennzeichnen.
Der »Grad der Präsenz des Objekts« bestimmt sich in der
ikonischen Bezeichnungsfunktion durch die Zeichen-Mittel, d.h. auf Bilder
bezogen, durch die materielle Farb- und Formsyntax des Quali- ,Sin- sowie
Legizeichens [vgl. Bense u. Walther 1973/41; Nöth 1985/150]. Dies kann
man für unsere Kultur daran erkennen, daß ein durch das Zeichen-Mittel
»Farbfotografie« illustriertes Objekt wesentlich wirklicher
repräsentiert scheint als in der Ölmalerei. Die Nachricht hängt
hier nicht ausschließlich von der ikonisch codierten Bezeichnungsfunktion
ab, sondern auch vom qualitativen Sosein des Zeichenmittels, also dessen
optischer Information. Denn hat sich über das Medium und die Realisationsform
des (Foto-)Bildes ein kultureller Konsens stabilisiert, dann übernimmt
die informationelle Qualität des Zeichenmittels eine authentisierende
Funktion. Diese besteht darin, daß der der Anwesenheit enthobene Gegenstand
in speziellen, vorab symbolisch bestimmten Zeichenmitteln (Medien) als ikonisch
repräsentierte Faktizität behauptet werden kann. Es ist also die
Realisationsform des Zeichens dasjenige, was im gegenständlichen Zeichenmittel
(materiellen Bild) wirklich wahrnehmbar ist, damit sich die ikonisch sichtbare
Bezeichnungsfunktion des Bildes erfüllt. Die optische Informationsmenge
und Gestaltung erlangt deshalb für ikonische Bezeichnungen eine grundlegendere
Geltung als für indexikalische oder symbolische Bezeichnungsfunktionen.
Beispielsweise kann ich einem Freund mit nebenstehender, ikonischer Zeichnung
[Abb. 7] auf vorrangig symbolische Weise zu verstehen geben, daß ich
die Frau mit den langen Haaren liebe; er wird es aber kaum verstehen, wenn
ich ihn aufgrund dieser Zeichnung mit optisch eher niedriger Informationsmenge
um die Einschätzung bitte, ob er sie nicht auch sehr schön findet.
Hier zeigt sich, daß bei der symbolischen Bezeichnungsfunktion eines
Bildes das Zeichenmittel unbedeutender und die Ähnlichkeit (Ikonizität)
wesentlich geringer sein darf als bei einer rein ikonischen Mitteilung,
die über die kulturelle Einheit (das Aussehen des Objekts) optisch
benachrichtigen will.
Für die Würdigung der Schönheit jener Frau reicht zwar ein
Foto nicht wirklich aus, aber es bietet in der ikonischen Bezeichnungsform
so viel visuelle Information, daß sich in heutiger Zeit zahlreiche
Individuen zu einer Stellungnahme befähigt fühlen würden.
Wenn ich dem besagten Freund das Foto ohne weitere Erläuterung gezeigt
hätte, würde er möglicherweise denken: Hübsche Frau
und was weiter? Bis auf die optische Information wäre also fast nichts
von den Bedeutungen kommunziert worden, die eigentlich mitgeteilt werden
sollten. Dieses Beispiel kündigt schon an, daß es mehrere Stufen
der Ikonizität gibt, um nicht nur ikonische Bezeichnungsformen, sondern
auch differenzierte Bedeutungen zu kommunizieren. Im weiteren beeinflußt
der zeichenwirksame Umgebungsraum die Bezeichnungsfunktion in geringerer
Weise als die Bedeutungsfunktion. Dies wird dadurch offenkundig, daß
jenes Frauenfoto in meinem Portemonnaie für Individuen des westlichen
Kulturkreises relativ eindeutig wäre. Sie würden es als Bild meiner
Frau oder Freundin interpretieren, obwohl die monosemantische Bezeichnungsfunktion
unverändert bliebe. Das Portemonnaie funktioniert de facto als ein
symbolischer Kontext für solche polypragmatischen Fotos.
Allmählich wird präzisierbar, daß das Zeigen von Bildern
im Unterschied zu anderen Kommunikationsformen in der Bezeichnungsart wesentlich
mehr Informationen als Nachrichten über sein Objekt offeriert. Die
visuelle Kommunikation bezeichnet vielfach Objekte, ohne daß eine
Zeichenbedeutung vom Betrachter aktualisiert wird. Neben der Musik gibt
es wenige Kommunikationscodes, welche durch ihre Bezeichnungsart mehr ästhetische
Informationen ermöglichen und bezwecken als die visuelle Kommunikation.
Offenbar transportieren die visuellen Medien der Kulturindustrie eine Informationsflut
und nicht etwa Nachrichten, und hinzu kommt, daß sich die Informationen
im Gegensatz zu den Nachrichten sogar jedesmal erstmalig präsentieren.
Bereits hier wird transparent: eine Informationsgesellschaft, die sich der
Sensation von visuellen Ereignissen hingibt, kommuniziert keine folgenreichen
Nachrichten. Im hypothetischen Extremfall kommuniziert sie, bis auf den
konsensuellen Bereich eines diffusen Gefühls von Gemeinsamkeit infolge
der decodierten Wahrnehmungsinformation, überhaupt nichts von weiterer
Relevanz. Auf einem solchen Niveau erreicht visuelle “Kommunikation”
jedermann, da ihre unreduzierte Trivialität hier niemandem die Möglichkeit
versperrt, komplexe Bilderwelten direkt wahrzunehmen. Phasenweise verwirklichen
die Bilderwelten vermutlich sogar ein visuelles Massenerlebnis (Infotainment),
an das sich eine bedingt sinnvolle Gemeinsamkeit anschließt. Bedingt
sinnvoll treten die inszenierten Bildermassen auf, weil sie zwar jedermann
an den Voraussetzungen für visuelle Kommunikation teilhaben lassen,
letztendlich dann aber spärlich kommunikative Botschaften mitteilen.
Auf dieser Stufe erreichen die Bildbetrachter ein diffuses Wir-Gefühl,
indem sie sich als Erlebnisgemeinschaft an das gleiche Erfahrungsmedium
ankoppeln [s.S. 345].
Es wird in den nächsten Kapiteln zu untersuchen sein, wie der konsensuelle
Bereich der optischen Bezeichnungsfunktion, also vorrangig die ikonische
Signifikation, sich in einer Kultur manifestiert. Wenn ich dort auf die
Wahrnehmung und Produktion von bildlichen Bezeichnungsfunktionen, also auf
die semantischen Aspekte eingehe, ist trotzdem nicht davon auszugehen, daß
sich die semantische Dimension ohne Bedeutung bzw. ohne Pragmatik und Kommunikation
ereignet. Unter dem Gesichtspunkt der Bezeichnungsfunktion wird der kommunikative
Aspekt des Zeichens nicht relevant, weil es vorerst noch darum gehen soll,
wie eine Kultur ihre optischen Zeichenmittel in der ersten Ordnung des Bildes
anschlußfähig hält, um in der zweiten Ordnung als Zeichen
eine kulturelle Einheit zu bezeichnen. Die nächsten Kapitel kümmern
sich also weiterhin um Signifikationscodes und weniger um die Kommunikation
infolge interpretierter Nachrichten.
Aufgrund
der vielseitigen Verwendung gerät der Codebegriff ins Zwielicht. Ihn
möchte ich kurz anhand des semiotischen Dreiecks spezifizieren. Wenn
ein Medium in erster Ordnung so encodiert wurde, daß es in seiner
primären Darstellungsform als zweite Ordnung von kommunikativen Zeichen
erkannt werden kann, dann sollen die regelhaften Mechanismen der materiellen
Umsetzung als primärer Darstellungscode und die regelhaften Mechanismen
des Erkennens als primärer Erkennungscode von Zeichen benannt werden.
Der sekundäre Code [s.S. 15] erläuterte sowohl eine Regel
im Objektbezug (Signifikat) als auch eine im Interpretantenbezug. In zweiter
Ordnung beschreibt der sekundäre Code somit die Bezeichnungsfunktion
eines Zeichens, also die Beziehung vom Zeichen zum Objektbezug, vom Signifikant
zum Signifikat. Diese Beziehung wurde als Signifikationscode einer Kultur
verstanden [s.S. 132]. Da Signifikationen nicht ohne interpretierte
Bedeutungen auskommen, fasse ich diese weitere Beziehung als Interpretationscode
einer Gesellschaft auf. Auch dieser letzte Code im Interpretanten eines
Zeichens gehört zum sekundären Code, weil finale Interpretanten
auf Objektbezüge im kommunikativen Bereich angewiesen sind. Ob diese,
hier als Code gefaßten Zeichenaspekte, in jeder Hinsicht regelhaften
Strukturen folgen, bleibt auf die Gesamtheit von Bildern bezogen fraglich.
Um aber zu klären, warum es fraglich ist, meine ich, daß die
vorgeschlagene Differenzierung mehr Orientierung als Desorientierung bietet.
----Fußnoten----
(67)
Es liegt schon ein gewisser Witz darin, wenn Morris einen Hund auf ein Futterzeichen
konditioniert, aber nach einiger Zeit das Denotat "Futter" nicht
mehr bereitstellt und dann selbst das signalisierte Denotat verleugnet,
obwohl der Hund das Denotat, den bedeuteten Sachverhalt des indexikalischen
Zeichens, durchaus noch erinnerte.
(68)
Diese von Saussure [vgl. 1931/78] eingeführte semiologische Unterscheidung
bleibt aufgrund von Ecos Vw?erwendung und dem angestrebten »Signifikationscode«
schwer zu umgehen. Unter dem Vorbehalt, daß ein Bild sich selbst
als Zeichen seiner Funktion anzeigt, kann mit Schönrich für
die normale Zeichenbeziehung zum Objekt gesagt werden: "Der Signifikant
beschreibt ersichtlich den Zeichenmittelbezug, das Signifikat den Objektbezug.
Für die Vermittlung beider Momente unter dem Gesichtspunkt der Drittheit
reserviert Saussure den Ausdruck »Zeichen (signe)«" [Schönrich
1990/287]. Nach Nöth [vgl. 1985/65] bleibt dies umstritten, weil
dann die Saussuresche Dyade zur Triade würde, was zufolge hätte,
daß die Peircesche Triade als Tetrade aus Zeichen, Repräsentamen,
Objekt und Interpretant aufzufassen wäre.
(69)
Eco schreibt hier "Signifikationssystem". Codes unterstützen
zwar Systeme, sie selbst verlaufen jedoch selten in funktionalen Erwartungserwartungen
eines sozialen Systems. Soziale Systeme vertragen auch uncodierte Kommunikation.
(70)
Hier möchte ich Bense zuvorkommen, der an Ecos Begriff der »kulturellen
Einheit« und "Barthes' strukturalistische Transzendierungen
des Zeichenbegriffs ... [bemängelt], daß diese Autoren
beständig Semiotik mit Hermeneutik verwechseln" [Bense 1979/17].
Diese Kritik trifft zu, jedoch müßte Bense sich die Frage gefallen
lassen, was seine Semiotik außer den operationalisierten Klassifikationen
seines Theoriezirkels beinhaltet.
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2.5. Wie muß man etwas kennen,
um nicht blind zu sein? |
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In etymologischer Beschreibung kennzeichnet das Verb »wissen«
die Folgeerscheinung von »erblicken« und »sehen«
als »wissen« im Sinne von »gesehen haben«. Demnach
entsteht Wissen dadurch, daß etwas aus der sinnlichen Anschauung hervorgeht
und erinnert werden kann. Dieses Eigentum, das sich aus persönlichen
Erfahrungen kondensiert, behält ein Individuum als etwas, welches für
das bereits vergangene »Etwas gesehen haben« steht. Man bemerkt
hier die Definition des Zeichens: ein Individuum behält Wissen als
kommunizierbares Zeichen für »etwas anderes« und »Vergangenes«,
worauf es mit dem Zeichen rekurrieren will. Andererseits können Individuen
von etwas wissen, was sie niemals direkt mit den Augen verfolgt haben. In
einem solchen Fall würde niemand behaupten, daß die Gegenstände
von der sinnlichen Anschauung her bekannt wären, sondern man würde
behaupten, daß man von ihnen wüßte, oder daß man
sich von ihnen eine bewußte Vorstellung machen könnte. Zwar spricht
man heutzutage manchmal schon vom »Kennen« eines Gegenstandes,
wenn lediglich eine Repräsentation (Bild) von ihm gesehen wurde. Dennoch
merkt jeder sehr schnell im direkten Anblick des vermeintlich bekannten
Gegenstandes, daß er nur gewußt wurde. Offenbar kommt Wissen
ohne die direkte Anschauung aus und ist mittels Zeichen darstellbar.
Im Unterschied zum »Kennen«, welches seinen Gegenbegriff im
»nicht Kennen« bzw. der »Unkenntnis« hat, verfügt
»Wissen« über zwei Gegenbegriffe, nämlich über
den des »Irrtums« und den des bewußten »Nichtwissens«
[vgl. Ebert 1974/44f.]. Wenn man allein von Gegenständen etwas weiß,
ohne sie selbst gesehen zu haben, befindet man sich mitunter im Irrtum über
ihre reale Faktizität [s.S. 25 (Non-Ego)]. Beim »Kennen«
ist das anders, der Kenner(-blick) hat durch Erfahrung etwas zur Kenntnis
genommen, was er nicht kannte; wenn er es aber kennt, wird er sich nicht
im Irrtum darüber befinden, daß er es auch tatsächlich erfahren
hat. Er kann sich täuschen. Trotzdem wird ihm die Wahrnehmung einer
Täuschung, die eventuell zum interpretierten Irrtum [Drittheit] führt,
keine Erfahrung [Zweitheit] sein, die nicht erfahren wurde. Auch Sinnestäuschungen
führen zu "wahrhaftigen", wirklichen Erfahrungen, indessen
Irrtümer nicht zu wahrhaftigem Wissen führen. Selbstverständlich
besteht die Möglichkeit, nicht mehr zu wissen, daß man etwas
kennt oder weiß, was ein »Vergessen« wäre, und andererseits
kann man bemerken, daß erstens schon etwas bekannt war, was einem
»Wieder-erkennen« gleichkäme, und zweitens kann etwas »wieder-erinnert«
werden, das schon »Wissen« war.
Worauf ich hinaus möchte, ist, daß »Kennen« auf der
an ein Individuum gebundenen direkten Wahrnehmungspraxis eines Bildes beruht,
demgegenüber »Wissen« nicht zwangsläufig die direkte
Bild- und Gegenstandserfahrung involviert. »Wissen« entdeckt
eine Person auch ohne die tatsächliche Wahrnehmung eines Gegenstandes,
wohingegen »Kennen« zunächst aus dem individuellen Bewußtseinsereignis
einer Wahrnehmungskonstruktion entsteht und dann als »Wissen«
mittels Zeichen kommunizierbar wird. »Etwas Kennen« kann keinesfalls
durch Zeichen allein vermittelbar sein, weil »Kennen« erst im
direkten Gegenüber des Gegenstandes erlernt und internalisiert wird;
»Wissen« benötigt den Gegenstand nicht, weshalb es auch
anhand von Zeichen mitteilbar und entäußerbar ist. Dies führt
zur folgenden Differenz: Wissen (Wissenschaft?) vermittelt sich durch Zeichen,
Kennen (Kennerschaft) bedarf der direkten Kontakt-Erfahrung eines Gegenstandes,
weshalb sich Kennen nicht ausschließlich kraft Kommunikation vermitteln
läßt. Auf die Gefahr hin, im Irrtum zu sein, kann man etwas von
Bilder- und Lebenswirklichkeiten wissen oder sich vorstellen, ohne etwas
von ihnen kennengelernt und erfahren zu haben. Im Gegensatz dazu hat man
beim »Kennenlernen«, auch wenn man einer Sinnestäuschung
unterlag, dennoch in der Anschauung einen Gegenstand oder eine Situation
bei körperlicher Anwesenheit [Zweitheit] erfahren. »Kennen«
geht also aus praktischer Anschauung und Handlung hervor, während diese
spezifische Praxis für zeichenvermitteltes »Wissen« verzichtbar
bleibt.
Hier bekräftigt sich: die zeichenvermittelte Kommunikation von kulturellem
»Wissen« kann nicht auf die psychische Wirklichkeit eines Individuums
reduziert werden, weil Kulturen mittels Zeichen bzw. Bildern vielfach unüberblickbares
Wissen über solche Gegenstände angehäuft haben, die schon
lange nicht mehr von einem Menschen im ursprünglichen Milieu kennengelernt
werden können. Deshalb verlangen die segmentierten Zeichenspuren unentwegt
nach einer Interpretation des sedimentierten Wissens durch andere Zeichen,
die natürlich den Irrtum keinesfalls ausschließen, sondern ihn
vielfach sogar fördern [s.S. 21].
Insofern der »Beziehungsaspekt« von Kommunikation dirigiert,
wie der Darstellungscode selbst eine dynamisch erfahrene Botschaft übermittelt,
unterstützt er die Besonderheit von »Kennen« [s.S. 114].
Zunächst muß eine Person nämlich zum syntaktischen Code
eine Beziehung aufnehmen, damit ihr das Kennengelernte etwas anderes bezeichnen
kann. Ohne erlernte Syntax bezeichnet ein Zeichen lediglich in Ausnahmefällen
»etwas anderes«. Dieses besondere Ereignis impliziert »Kennen«
eigens dadurch, daß ihm ein »Beziehungsaspekt« in der
Kommunikation zugrunde liegt, der über reine Kommunikation von symbolischem
Wissen keinesfalls nachholbar ist. Denn im Beziehungsaspekt der Kommunikation,
im expressiven Ausdruck der Darstellungsformen selbst wird ein direktes
und sinnliches Kennenlernen der Lebensweltkontexte (Sozialintegration) notwendig,
über den der »Inhaltsaspekt« von Wissen allein Unzureichendes
vermittelt. Dies stützt sich darauf, daß unter dem Beziehungsaspekt
die Darstellungsweise als Index ("Signal") fungiert, der eine
vage Stimmung, ein ungenaues Gefühl direkt bewirkt, weshalb er vorrangig
an biographische Lebensweltkontexte und Lernsituationen gebunden bleibt.
So werden beispielsweise die religiösen Malereien des Mittelalters
niemals unter dem damaligen Beziehungsaspekt betrachtet werden können,
weil wir heutzutage andere Darstellungscodes internalisiert haben, die jener
Darstellungsform eine eher unterhaltsame Wirkung und eine unbeholfene Weltsicht
zuschreiben. Der Ernst jenes tief religiösen Weltbildes dürfte
deshalb heutzutage selten so nachfühlbar oder nacherlebbar sein, wie
er vermutlich damals gemeint war. Aus diesem Grund meine ich, daß
zeichenwirksame Zeitspannen den Beziehungsaspekt wesentlich drastischer
betreffen als den Inhaltsaspekt der Darstellung. Denn die Eigenkommunikation
der bildlichen Darstellungscodes verändert sich in Graden ständig
und bewirkt - selbst nach kurzen Perioden - jeweils andere Erfahrungen,
die in der Kommunikation von Wissen nur ungleichwertig nachholbar sind.
Darüber hinaus indiziert der kennengelernte Beziehungsaspekt von Darstellungscodes
auch, auf welchem kommunikativen Niveau ein Bild gemeint ist. So müssen
beispielsweise gegenwärtig ernst gemeinte Nachrichtensendungen auf
die Bildgeschwindigkeit von alten Stummfilmen verzichten, weil deren damals
unfreiwilliger Slapstick, der mit der Tücke des Objekts zu kämpfen
hatte, heutzutage über eine Komik verfügt, die die emotionale
Interpretation des Lachens provoziert.
Die Diskrepanz zwischen »Kennen« und »Wissen« weisen
auch kunstwissenschaftliche Bücher auf, die mittels Fotografien von
Bildern neben anderen Zeichen ausschließlich »Wissen«
über bildliche Gegenstände ausrichten; solche Bücher kommunizieren
visuelle Kommunikation über visuelle Kommunikation. Oftmals läßt
sich sogar ihr kulturelles Hochglanzwissen im Hinblick auf die kennengelernten
Bildwirklichkeiten kaum so bestätigen, wie es z.B. viele Kunstkataloge
gegenüber dem bleichen, auf Papier getuschten Bild "Der Schrei"
von Edvard Munch behaupten. Künstler indessen »kennen«
das Problem der zeichenhaften Vermittlung, weshalb sie auch kopräsente
Kenner schätzen, da sie ihnen mittels anderer, z.B. sprachlicher und
bildlicher Zeichen, wenig und am besten gar nichts über Bildgegenstände
mitteilen müssen. Um Bilder »kennenzulernen«, sind ihre
metakommunikativen Beziehungsaspekte direkt zu erfahren. Dies begründet
teilweise, warum moderne Kunst mit Verstehensproblemen zu kämpfen hat.
Sie vollbringt es immer weniger, emotionale Erlebnissituationen so zu gestalten,
daß sich ungestörte Beziehungsaspekte zur materiellen Syntaktik
von Kunst und zum Künstler ergeben. Sobald diese direkten Kontakte
mit bildnerischen Konzeptualisierungsakten und künstlerischen Lebenskontexten
ausbleiben, erlebt das Publikum den kulturellen Beziehungsaspekt der Formen
selten dem Künstler verwandt [hierzu Bourdieu 1982/120f.]. Daher kompensiert
das Publikum dieses Beziehungsdefizit: es versteht manche Kunst der letzten
Jahrzehnte vielfach über verbalisiertes Wissen und Inhaltsaspekte,
wohingegen es Beziehungsaspekte eher als Distanzerfahrung zu Lebenskontexten
von Künstlern verspürt. Doch ohne Beziehungsaspekte, d.h. frei
von Eigenkommunikation der heutzutage schöpferischen und damaligen
kultischen Farbe und Form, wird moderne Kunst vermutlich ihre kommunikative
Anbindung an das Publikum verlieren, denn genau diese metakommunikative
Ausdruckskraft war ihr kommunikatives Leistungsmerkmal. So wie Musik ohne
Ton stumm bleibt, so zieht Kunst ohne jede Ausdruckskraft niemanden mehr
in den Bann, der in persönlicher Betroffenheit noch Beziehungsaspekte
zum Werk oder zum Künstler verwirklicht.
Beim Massenmedium »Fernsehen« verhält es sich anders. Dessen
regelhafter Darstellungscode in der Perspektive verwirklicht einen Beziehungsaspekt,
der sich nicht auf individuelle Phantasie ausrichtet, sondern über
vorgetäuschte Wirklichkeit. Und zur Wirklichkeit hat erstens jeder
eine Beziehung, und zweitens verführt sie in Graden jeden zur Betroffenheit.
Infolge der großen Zeitspannen, die Individuen für den täglichen
Konsum von Fernsehbildern aufwenden, werden die Zuschauer zur echten Kennerschaft
elektrifizierter Bilderwelten verleitet, weshalb sie von der "wirklichen"
Welt auch mehr »wissen« als »kennen«. Der soziale
Erfolg besteht bei solcher Kennerschaft der Bilder in wenig mehr als darin,
eine kommunikative Beziehungsroutine voranzutreiben, die ein Wissen darum
ermöglicht, wie sich etwas dem Anschein nach in der Ferne vorgestellt
werden soll. Es wird daher mehr über die Welt gewußt, als in
der naheliegendsten Lebenswirklichkeit gekannt wird. Andererseits kann sich
die Idee einer Weltgesellschaft nur dann realisieren, wenn sie durch Wissen
über eine ansonsten in der Komplexität unerfahrbare Welt verwirklicht
wird. Einem solchen Vorhaben kommen interkulturelle Kommunikationsmedien,
wie die Television eines ist, zumindest entgegen. Sie verkünden aufgrund
ihres hohen Bekanntheitsgrades ein annährend weltweites und zeitgleiches
»telepräsentes Wissen«. Jedoch geben die elektronisch konzeptualisierten
Bildzeichen nicht nur Nachrichten in Echtzeit als »telepräsentes
Wissen« weiter, sondern verbreiten außerdem auf einfachste,
wenn auch vergänglichste Weise, optische Informationen. Denn der für
Bilder ausschlaggebende Umstand besteht darin, daß sie mittels optischer
Information eine Wahrnehmungserfahrung erzeugen, die sich nicht auf Wissen
reduzieren läßt, da sie auf das persönliche Kennenlernen
präsenter Bilderwelten angewiesen ist. Daher verwirklichen Bilderfahrungen
im jeweiligen "Jetzt" weltweite Beziehungsaspekte zum televisionären
Kommunikationsmedium, das eine Realitätskonstruktion als optische Wirklichkeit
vorzutäuschen sucht.
Nachdem kulturelle Beziehungsaspekte der Kommunikation berührt wurden,
haben Kennen und Wissen ebenfalls eine epistemologische Relevanz. Denn aus
dem Unterschied zwischen »Kennen« und »Wissen« wird
meines Erachtens verstehbar, warum Gibson behauptet, daß "... das
kantische Dogma 'Erfahrung ohne Begriffe ist blind' über Bord zu werfen ..."
[Gibson 1982/4] sei. Für die wahrnehmungstheoretische Position Gibsons
leuchtet ein, daß wir es im Wahrnehmungszyklus in bezug auf Bilder
lernen, Empfindungen als Wahrnehmung zu differenzieren. Ebenso bleibt vertretbar,
wenn die Kindesentwicklung betrachtet wird, daß das Sehen sich infolge
direkter Kontakt-Erfahrungen mit figural-qualitativen Gegenständen
(Bildern) spezialisiert und erste Begriffe aus einem »Kennenlernen«
von Gegenständen (Bildern) teilweise hervorgehen [s.S. 53 (Metzger),
S. 87 Fußn. 41, S. 61 Fußn. 19]. Allein
aus apriorischen Ideen können sich Individuen ebensowenig auf Sehen
spezialisieren, wie sie Steuerung eines Drei-, Zwei- oder Einrades ohne
Gegenstand, ohne »pragmatic turn«, kaum mit Erfahrungssicherheit
lernen werden. Mit der heutigen Gier nach Zeichen und nach vermitteltem
Wissen verabschiedet sich unsere Kultur zwar scheinbar von der Selbstverständlichkeit
individueller Körperlichkeit, jedoch stehen diesem Entkörperlichungsversuch
die besonderen Wahrnehmungsanforderungen entgegen. Auch wenn Bilder die
verbreiteten Produktions- und Perzeptionsbedingungen annehmen, die zur leiblichen
Enthaltsamkeit treiben, so trainieren Bilder trotzdem das Betrachterauge
beim zunehmend "entkörperlichten" »Kennen«. Selbst
bei modernen Wahrnehmungsangeboten, die die Körperlichkeit in den Hintergrund
drängen, verwirklicht sich eine strukturelle Kopplung an Bildgegenstände
der direkten Umgebung. Wäre dies ausgeschlossen, könnten Individuen
nichts kennenlernen bzw. keine gegenstandsbezogene Praxis realisieren. Diese
Wahrnehmungspraxis basiert unverkennbar auf einer visuellen Gewohnheitsbildung
(Assimilation). Die Wahrnehmungspraxis sollte trotzdem keinesfalls so verstanden
werden, als ob »Kennen« oder Können schwankungslos vorkommen,
da nach wie vor syntaktische Codeabweichungen (Sinzeichen) im Bild einen
indexikalischen Aufmerksamkeitszwang hervorrufen und obendrein einen gewissen
"Könnenszweifel" [Tenbruck 1989/23] übrig lassen.
Um die Komplexität von Bildern wahrnehmen zu können, benötigen
Individuen eine Wahrnehmungsfertigkeit, die sie kaum durch zeichengebundene
Wissensvermittlung erlernen. Fertigkeiten sind Grundelemente der körperlichen
Handlungsweisen, die auch im Fall der Bilder am Gegenstand kennengelernt
werden. Hierzu meinen Schütz und Luckmann recht treffend: "So
sind die Grenzen des Körpers und sogar die Erfahrung des Körpers
als einer Einheit nicht in gleicher Weise und nicht einmal im gleichen Grad
gesellschaftlich (d.h. vor allem sprachlich) objektiviert" [Schütz
u. Luckmann 1979/143]. Aus diesem Grund stimme ich Gibsons Kritik an Kant
in einer Erweiterung um Zeichen zu, die dann lautet: sehen ohne Zeichen
bleibt nicht blind, weil Zeichen (Vorstellungen, Begriffe) von dem, wie
etwas aussieht, im Ursprung Symptome des Sehens von körperlich kennengelernten
Bildern und Gegenständen sind. Um Bilder in ihren optischen Segmentierungsformen
kennenzulernen, müssen sie direkt gesehen werden; ausschließlich
das unerfahrene oder das von Vorstellungen, Zeichen und Begriffen befangene
Auge sieht wenig.
Mit Blinden wird man niemals visuell kommunizieren können, da sie das
Sehen nicht kennenlernen. Auf der anderen Seite wird man aber ebenfalls
niemals mit jemanden erfolgreich kommunizieren, wenn derjenige gegenüber
gesehenen Zeichen keine oder unangemessene Interpretanten bzw. Begriffe
verwendet. Mit der berechtigten Feststellung, daß wahrnehmungsmäßiges
Sehen ohne Begriffe auskommt, hoffte Gibson das Kantische Dogma "Erfahrung
ohne Begriffe ist blind" aus dem Weg zu räumen. Hiermit schrieb
er die Sehfähigkeit dem Wahrnehmungssystem zu. In diesem verwirklichen
sich optische Informationen zur Bewußtseinsfähigkeit [Zweitheit],
wodurch wir kennenlernen, »wie« wir Informationen sehen können.
Demgegenüber vernachlässigte Gibson aber, daß wir ohne Begriff,
Intention, Idee oder Vorstellung nicht wissen, »was« wir sehen.
Kant begründete nämlich, inwiefern eine sinnliche Anschauung [Zweitheit]
zu einem Begriff des reflektierenden Verstandes [Drittheit] wird. Dies zeigte
Kant folgendermaßen auf und wurde von Peirce [s.S. 31] beachtet:
"Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals
anders als sinnlich sein kann [Zweitheit] ... Dagegen ist das Vermögen,
den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand [Drittheit].
Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit
[Zweitheit] würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand [Drittheit]
keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne
Begriffe sind blind." [Kant 1974:III/B75,76, A51,52]
Was Kant hier Begriff nennt, kann ohne Schwierigkeit als Semiotisierung
eines Gegenstandes aufgefaßt werden. Denn mit dem Begriff versteht
ein Individuum das wahrgenommene Bild als Zeichen. Mit dieser Erweiterung
dienen - innerhalb der sinngebenden Instanz des Verstandes - die
Zeichen erst dann der konzeptualisierten Erkenntnis, wenn sie sich mit der
Anschauung der (Bild-)Gegenstände verbinden, und zwar der Anschauung
der (Bild-)Gegenstände, deren "... Wahrnehmungen (mit Empfindung
begleitete Vorstellungen) sind ..." [Kant 1974:III/B148].
So ausgelegt, ermöglicht das Wahrnehmungssystem dem Individuum Zeicheninterpretationen
(Begriffe), insofern Bildgegenstände aus der Erfahrung bekannt sind
oder werden. Der Verstandesbegriff von Kant, in dieser Weise interpretiert,
bedeutet: Wahrnehmung ohne das Erkennen von Signifikationen versteht keine
Zeichen, denn der Verstand bedient sich Vorstellungen, also eines »Wissens«,
das in Zeicheninterpretationen (Vorstellungen, Begriffe) Wirklichkeit per
Urteil erfaßt. Darum deutet die Feststellung Gibsons auf eine visuelle
Wahrnehmung, die nicht im Sinne eines Kantschen Verstandesbegriffs existiert,
sondern auf der Ebene der Kontakt-Erfahrung [Zweitheit] ein persönliches
»Kennen« charakterisiert, welches aus den Qualitäten [Erstheit]
eines Bildgegenstandes hervorgeht. Ohne die zeichenhafte Abstraktion von
wahrgenommenen Qualitäten bleiben Vorstellungen weitgehend bilderlos
und annähernd unanschaulich. Die scheinbar ausschließliche Trennung
einer gewissen Gleichursprünglichkeit und -zeitigkeit ist folgende:
Mit Kant erklärt sich, wie Bilder in sinnlicher Anschauung zu Zeichen
der sinngebenden Instanz eines Verstandes werden, der eine Zeichenbedeutung
des »Wissens« konstituiert. Gedanken [Drittheit] ohne konzeptualisierte
Vorstellungen oder interpretierte Zeichen bleiben leer.
Gibson definiert hingegen die sinnliche Erkenntnis, die das empirische Individuum
aufgrund der Auffassungsschemata im visuellen System als Information gewinnt.
Gibson hat somit die Grundlage für den Kantschen Verstandesbegriff
geebnet. Denn ohne Wahrnehmungssystem und Informationen [Zweitheit] wäre
Verstand gedankenlos. Das ungeschulte Auge erkennt den Darstellungscode
eines Bildes nicht, weshalb es solange in der Wahrnehmung verweilt, bis
es etwas als Gestalt von etwas anderem erkennt (71), bis es ein ikonisches Zeichen
sieht.
Die Diskrepanz von Sehen und Zeichen/Vorstellen/Verstehen hat Pawek in griffiger
Formel dargestellt: "... im Akt des Sehens überwältigt
uns die Wirklichkeit - mit dem Begriff [Zeichen] bewältigen wir
die Wirklichkeit (oder meinen wir, sie zu bewältigen)" [Pawek
1963/93]. Aus dieser Differenz wird ersichtlich, daß Bilder auf die
sinnliche Erkenntnis eines Bewußtseins angewiesen sind, welches die
Bilderwelten seiner Kultur persönlich »kennengelernt« hat.
Ein Individuum, welches von Bildern »weiß«, weil es sich
von diesen im Verstand einen Begriff oder eine Vorstellung machen kann,
wäre in der Tat blind hinsichtlich bildlichen Darstellungsweisen und
äußerst wahrscheinlich im Irrtum über das, was es zu sehen
gibt. Infolge optischer Ursachen ist anzunehmen, daß Individuen einer
Gesellschaft ihre Bilder kennenlernen und dadurch ihr Wahrnehmungssystem
vorbewußt in struktureller Kopplung an das Bildmedium gewohnheitsmäßig
anpassen, um so die optisch codierten Informationen zu erkennen und Zeichen
in Bildern bzw. Bilder als Zeichen zu verstehen. »Kennenlernen«
von Bildern bedeutet: etwas wird in der Weise gesehen, wie es in vorhandene
Strukturen der visuellen Schemata bereits paßt, indem es wiedererkannt
wird oder in assoziierter Relation einer Ähnlichkeit steht. Dies erreichen
wir, wenn wir ein »Kennen« darüber erlangt haben, wie wir
unseren Wahrnehmungskörper koordinieren müssen, "... damit
eine mögliche Wahrnehmung zu einer wirklichen wird" [Pape 1989/106].
Im Kennenlernen erwirbt ein Individuum demnach die kommunikative Zeichenkompetenz,
die es in der visuellen Kommunikationssituation benötigt, um Beziehungs-
und Inhaltsaspekte von Bildern zu sehen und zu verstehen.
Unumgänglich verliert ein Individuum mit der vorbewußten Kopplung
an ein Bildmedium die "Unschuld" eines unverstellten Blicks, welcher
als die Erfahrenheit der visuellen Auffassungsgabe und nicht - wie
es häufig mit dem Begriff der Schuld geschieht - als Verfehlung
beurteilt werden sollte, wie es z.B. Bourdieu [vgl. 1974/162, 180] durchschimmern
läßt. Bei dieser visuellen Auffassungsfähigkeit des Blicks
muß jedoch unterschieden werden zwischen einem Kennerblick, der viele
verschiedene Differenzen wahrnimmt, und einem Blick, der alles als Zeichen
erkennt und als Zeichen zu begreifen weiß, aber eigentlich wenig Differenzen
wahrnimmt. Mit einer solchen Unterscheidung können wir dann Bilderwelten
kennenlernend wahrnehmen und benötigen außerdem nicht die Ansicht,
daß "... wir zwar Wörter ohne eine Welt haben [können],
aber keine Welt ohne Wörter oder andere Symbole" [Goodman 1984/19].
Wer die Welt als Zeichen oder Sprache hat, hat Zeichen, sieht aber keinesfalls
seine Welt oder seine Bilderwelt als Gegenstand seiner körperlichen
Erfahrungen, von dessen Wirklichkeit aus er Welt erst konstruieren kann.
Auch Goodman hatte dies einmal erkannt, als er feststellte: "Reden
schafft nicht die Welt und auch keine Bilder, aber Sprache und Bilder sind
an der Schaffung ihrer selbst und der Welt, wie wir sie kennen, beteiligt"
[Goodman 1973/98]. Und wie diese zeichenhafte Welt, die nicht die Weltwirklichkeit
ist, optisch in Kulturen codiert wird, dazu jetzt.
----Fußnote----
(71)
Ein vorzügliches Beispiel hierfür geben brillenlos sichtbare 3-D
Bilder [vgl. Baccei 1994].
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