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Visuelle Wahrnehmung wurde als eine Bewußtseinsweise aufgefaßt,
die auf den sinnlichen Kontakt mit Bildformen angewiesen ist. Auch wenn
im folgenden Wahrnehmung als kognitive Konstruktion beschrieben wird, spreche
ich trotzdem mit Husserl [vgl. 1980/79 §43] das wahrgenommene Raumding
in seiner Leibhaftigkeit als bewußtseinsmäßig Gegebenes
an. Der Gegenstand Bild trägt zwar ein indexikalisches Zeichen für
seine Funktion, doch ist der Gegenstand Bild außerdem ein Gegenstand,
der erst einmal wahrgenommen sein will, bevor Zeichen verstanden werden.
Das Wahrnehmungsbewußtsein ist nicht gleich ein Bewußtsein von
Zeichen oder gar ein abbildendes Bewußtsein. In diesem Punkt folgt
meine Arbeit nicht der Semiotik von Peirce [vgl. 1960/5.283ff.], da er dem
Wahrnehmungsbewußtsein ein Gedankenzeichen (40) zuschreibt. Im weiteren
verstehe ich die visuelle Wahrnehmung als direkte - also möglicherweise
zeichenlose - Erfahrung einer individuellen Wirklichkeit, die überdies
auch dann wirklich erfahren wird, wenn Wirklichkeit auf einer kognitiven
Konstruktion des psychischen Systems basiert. Bewußtsein ist auch
im konstruktivistischen Ansatz die Ausgangsprämisse für die Frage
nach der visuellen Wahrnehmung von »etwas«, Dingen und Bildern.
Im vorherigen Kapitel 2.2. "Kann Sehen Sprache sein ..."
legte ich dar, wann sich Wahrnehmung von Bildern der Voraussetzung von Sprache
und Zeichenbedeutung weitgehend enthalten kann. Dennoch ist Wahrnehmung
immer mit Aufmerksamkeit verknüpft, die, wenn nicht notwendig auf eine
Zeichenbedeutung, zumindest auf eine Gegenstandsbedeutung und Form angewiesen
ist. Da der Teil II dieser Schrift ein Erklärungsmodell für
eine kulturgeprägte Wahrnehmung bieten wird, folgt nunmehr der Bereich,
der eine Beeinflussung der Wahrnehmung erst ermöglicht. Dieser Bereich
wird das Wahrnehmungssystem des Individuums sein, das durch Formen einer
Kultur und Bedeutungen einer Gesellschaft in seiner Aufmerksamkeit beeinflußt
wird. Auch wenn Wahrnehmung von Kommunikation maßgeblich inspiriert
wird, darf sie nicht als eine verstanden werden, die in Kommunikation aufginge.
Wahrnehmung bedarf der Kommunikation, ebenso wie Kommunikation der Wahrnehmung
bedarf. Gleichwohl wird nicht jede Wahrnehmung als Kommunikation konzeptualisiert,
zeitweilig dauert sie vorkommunikativ im Bewußtsein an [s.S. 66
(vorkommunikatives Bewußtsein)]. Als vorkommunikativ fasse ich den
Bereich individueller Wahrnehmung auf, der außerhalb von Zeichenbedeutung
erfahren wird, im genaueren also die Wahrnehmung optischer Gegenstandsform.
Um dies zu begründen, geht folgender Abschnitt ausführlich auf
die visuelle Wahrnehmung ein.
Die ältere Lehrmeinung innerhalb der Psychologie betrachtete visuelles
Wahrnehmen als rein vom Auge in Verbindung mit dem Gehirn abhängig.
Für einen Begriff des visuellen Wahrnehmens, der auch für die
Soziologie und die Bildbetrachtung an Tragweite gewinnen soll, ist ein umfassenderer
Bezugsrahmen zu wählen. Gibson und Neisser zeigen in ihren Theorien,
wie dieser Bezugsrahmen zu beschreiben ist.
Gibson versteht visuelle Wahrnehmung als eine Tätigkeit, die das ganze
Individuum, also auch dessen Körper einbezieht. Der innovative Ausgangspunkt
liegt in der natürlich bedingten Feststellung, daß sich zwei
Augen in einem Kopf entgegen der Schwerkraft auf einem beweglichen Rumpf
befinden und die leibliche Voraussetzung des menschlichen Sehens bereitstellen.
Mit dieser Einsicht versucht Gibson [vgl. 1982/1f.] seinen ökologischen
Ansatz der visuellen Wahrnehmung von der Vorstellung des erstarrten Blickfeldes
zu lösen, welches nur verarmte Informationen über die Umwelt liefern
kann. Sehen beinhaltet nicht die isolierte Sicht von Dingen, sondern ein
panoramaartiges und während lang andauernder Fortbewegung anhaltendes
visuelles Erfassen von Beziehungen zwischen den Dingen und uns selbst. Wie
John Berger [vgl. 1974/9] bemerkt, richtet sich der Blick in ständiger
Aktivität und Bewegung auf Dinge, wodurch sie erst für uns jeweils
gegenwärtig werden. Ein solcher Begriff des Sehens drängt zum
einen darauf, daß virtuelle Welten oder erfolgreiche Virtualitäten
den ganzen Körper miteinschließen müssen, und zum anderen,
daß bildliche Zeichen und Bilder in den jeweiligen räumlichen
Kontexten fungieren, also kontextabhängig sind. Der durch den Leib
erfahrene Raum, in dem das Bild vorhanden ist, konstituiert daher den vorkommunikativen
Kontext der Farb- und Formerfahrungen des Gegenstandes Bild. Doch bedarf
das Bild im Raum einiger Zeichen, denn sobald alles als Bild gesehen würde,
wäre nichts mehr ein Bild.
In Verbindung mit dem Leib, dem Auge und der Funktion des Gehirns, das als
zentrales Organ die visuelle Wahrnehmung koordiniert, spricht Gibson [vgl.
1982/263ff.] von einem »Wahrnehmungssystem«. Dieses geht in
seiner Eigendynamik über die Sinnesleistung des Sinnesapparats "Auge"
hinaus. Gibson folgend, ist das Wahrnehmungssystem durch aktive Anpassungsfähigkeit
an Umweltsituationen gekennzeichnet; die Sinnesleistung der visuellen Rezeptoren
ist indessen eine passive des Sinnesapparats, dessen sich das Wahrnehmungssystem
bedient.
Die Unterscheidung des Sinnesapparats und des Wahrnehmungssystems verlängert
sich in der psychologischen Divergenz des Empfindens und Wahrnehmens. Empfindungen
beruhen auf der Sinnesleistung des Sinnesapparats, der durch die Anhäufung
von Rezeptoren oder rezeptiven Einheiten definiert ist. Durch lokale Reizung
auf der Sinnesfläche des Sinnesapparats, also der Retina, wird eine
ebenso lokalisierte Erregung im sogenannten Projektionszentrum des Gehirns
erzeugt [vgl. Gibson 1982/264]. Mit der Voraussetzung der genetisch (41) bedingten
Sensibilität (42) entsteht nichts anderes als eine zweite Form (43) der Reizbarkeit,
die den Organismus befähigt, die Einwirkungen der Umwelt als Signalfunktion
in bezug auf sich selbst wahrzunehmen.
Auf der reinen Sinnes- oder Empfindungsebene bleibt das Subjekt passiv den
Reizungen ausgesetzt, die es selbst nur als Reizung empfindet. Die Stufe
der Wahrnehmung von Gegenständen und besonders von Bildern stellt schon
einen höheren Prozeß als die sinnliche Sensibilität dar.
Denn in der Wahrnehmung werden empfundene Reize zu »etwas« gebündelt.
Deshalb kann das Individuum die Empfindungen nur insoweit seinem eigenen
Willen unterwerfen, wie es bereit ist, sich Reizung zu verschaffen, um Informationen
zu gewinnen. Doch die Information, die das Wahrnehmungssystem aus Reizenergie
konstruiert, steht in kaum einer Abhängigkeit, die auf die Stärke
oder Beschaffenheit der Reizung zurückzuführen ist. Trotz radikaler
Änderung des Reizes kann der informative Wert gleich sein. So sieht
man beispielsweise im Fernsehen trotz schlechten Empfangs immer noch das
Bild eines Sprechers, obwohl er nur verschwommen zu erkennen ist. Diese
visuelle Information ist eine Fähigkeit des Wahrnehmungssystems, das
Empfindungen in eigener Dynamik zu Informationen strukturiert. Darum kennzeichnet
Gibson [vgl. 1982/261, 279] die wahrgenommenen Qualitäten von Gegenständen
- und hier sind gleichfalls Bilder einbezogen - als Informationen,
die vom Wahrnehmungssystem extrahiert werden. Bildperzeption verwirklicht
sich somit mit einer quasi zweiten Bildproduktion, die im Wahrnehmungssystem
und nicht im Auge konstruiert wird. Deshalb disponiert das Wahrnehmungssystem
des Betrachters, welche Informationen das Bild bei Beleuchtung verwirklicht.
Experimente mit halluzinogenen Drogen zeigten, wie das Wahrnehmungssystem
durchaus verändert werden kann, um andere Informationen als bisher
aus den Qualitäten der bildlichen Gegenstände aktiv zu konstruieren.
Wenn die Extraktion von Informationen die passive Empfindung des Sinnesapparats
voraussetzt, ist damit nicht gesagt, nach welchen Leitstrukturen das Wahrnehmungssystem
ausgerichtet ist bzw. ab welchem Grad von einer Wahrnehmung gesprochen werden
kann. Obwohl Rubinstein [vgl. 1966/68] eine heutzutage nicht mehr akzeptable
Abbild- oder Widerspiegelungstheorie der Wahrnehmung vertrat, erkannte er
doch im gewissen Sinne den Übergang von der Empfindung zur Wahrnehmung.
Er verstand unter Wahrnehmung nur den sinnlichen Eindruck, der uns eine
Eigenschaft (Form, Größe) in Relation zum Gegenstand vermittelt.
Von Wahrnehmung oder sinnlicher Erkenntnis kann (auch von einem konstruktivistischen
Standpunkt aus) demnach erst gesprochen werden, wenn eine Form des Gegenstandes
aus den visuellen Empfindungen extrahiert bzw. konstruiert wurde. Nach dem
Dafürhalten Rubinsteins steht das Erkennen von Empfindungen dem Prozeß
der sinnlichen und rationalen Erkenntnis nicht isoliert gegenüber,
vielmehr betrachtet er den Erkenntnisprozeß als einheitlichen Prozeß
aus unterschiedlichen Gliedern. Allerdings bemerkte er einen "gewissen
Sprung" [Rubinstein 1966/65ff.] von der sinnlichen zur rationalen Stufe
der Erkenntnis. Mit dieser Entgegensetzung einer in sich verquickten Gleichursprünglichkeit
unterscheidet Rubinstein die rationale oder abstrakte Erkenntnis (ich nenne
sie konzeptualisierte Erkenntnis) von sinnlicher Erkenntnis. Diese Sinnlichkeit
eröffnet den Wahrnehmungsboden von Gegenstandsformen, der mit Hilfe
von abstrakten Zeichen (Rubinstein schreibt Begriffen) in den strukturierenden
Erkenntnisprozeß des Verstehens und Analysierens zergliedert wird.
Die Differenz von Wahrnehmungswelt und konzeptualisierter Zeichenwelt spricht
Piaget an. Dessen Studien der Kindheitsentwicklung beschreiben, daß
kindliche Malereien eine Unvereinbarkeit von visueller Wahrnehmung und figurativer
Erkenntnis bemerken lassen. Die figurative Erkenntnis, die die beobachteten
Kinder in den Darstellungsmodalitäten ihrer Bilder mitteilten, ist
nach Piaget kaum auf ihre Wahrnehmungsfähigkeiten oder auf den perzeptiven
Ursprung zurückzuführen. Vielmehr sieht er für die Kindesentwicklung
bestätigt, daß auch Bilder schematisierten Konzeptualisierungen
entsprechen, weil es der "... symbolische Charakter des Bildes
erlaubt, sich mit ziemlich gewagten Annäherungen zu begnügen"
[Piaget 1978/478; s.S. 205]. Bildliche und alle anderen Zeichen markieren
daher eine Eigenständigkeit, die sich in Konzeptualisierungen von der
Wahrnehmungswelt enthebt. Allerdings nimmt diese Enthebung bezüglich
ikonischer Zeichen einen Sonderfall ein. In ihnen werden figurative Erkenntnisse
von möglichen Ähnlichkeiten zu irgendwelchen Welten kultiviert,
in dem sie wiederum ihrerseits zahllose Wahrnehmungswelten eröffnen.
Bilder changieren infolgedessen zwischen Wahrnehmungs- und Zeichenwelt.
Aus diesem Grund sind weitere Überlegungen zur Wahrnehmung unumgänglich.
In jener Verquickung von sinnlicher Erkenntnis und konzeptualisierter Zeichenerkenntnis
liegt auch der Grund, warum Wahrnehmung nicht selbst in Kommunikation zu
überführen ist. Die im Denken konzeptualisierten Zeichen benennen
lediglich Gegenstände, ohne selbst für ein Gegenstandsbewußtsein
der körperlichen Erfahrung konstitutiv zu sein. So zeigen alle Zeichen,
also auch die bildlichen, nicht die Gegenstände oder die Erfahrung
direkt, sondern verweisen allenfalls auf wichtige Merkmale sinnlicher Erkenntnis
von Gegenständen indirekt. In zeichenhafter Strukturierung obliegt
es dem Individuum, wie es die Zeichen für die sinnliche Erkenntnis
und Erfahrung, in Beziehung zu seinem restlichen Zeichenrepertoire und dem
der Gesellschaft, zu erfassen sucht. Insofern besteht die Welt auf der letzten
Stufe der zeichenhaften Erkenntnis aus Strukturen, die in Zeichen der Struktur
erfaßt sind. Auch Bilder unterliegen einer solch kulturellen Darstellungsstruktur,
in der sie zum Zeichen werden. Walter Koch [vgl. 1971/3] verweist auf diese
Einsicht innerhalb seiner semiotischen Untersuchungen, wenn er behauptet,
daß unsere Weltkonstruktion aus Strukturen (44) besteht.
Die als Strukturen aufgefaßten, verbindenden Relationen von Elementen
stehen fortwährend in Zusammenhang mit den Elementen selbst [vgl. Klaus
1968/625]. Für das psychische System heißt dies, daß dessen
Struktur dafür verantwortlich ist, welche Elemente es anerkennt, da
es selbst diese Elemente konstruiert und in Relation setzt. Aus diesem Grund
sind in der Struktur der Zeichen nur Zeichen anerkannt, denen eine Bedeutung
im zeichenhaften Denken zugeschrieben werden kann. Ähnlich wie die
Zeichen ein Element der zeichenhaften Erkenntnisstruktur sind, kann für
Elemente der sinnlichen Erkenntnisstruktur vermutlich gelten, daß
ihre Bedeutung vom Wahrnehmungssystem abhängt. Aufgrund der sensorischen
Erregungsstruktur, die aus der visuellen Empfindung des reflektierten Lichts
hervorgeht, entstehen für jedes Individuum Formen, die mit bedeutungsgeleiteter
Aufmerksamkeit erforderlicherweise verbunden sind [vgl. Roth 1991/368; Rubinstein
1966/5]. Diese aktive Verbindung zur Umwelt tritt dort hervor, wo das handelnde
oder verhaltende Individuum in sinnlicher Erkenntnis die visuelle Informationen
strukturiert, die für die Wahrnehmung des Gegenstandes und dessen Bedeutungskontext
als "wichtig" erachtet werden. Optische Information, die nicht
in eine bestehende Struktur paßt oder keine nach sich zieht, geht
ungenutzt vorüber, sie wird weder sinnliche und noch figurative Erkenntnis.
Andererseits kann jeder aus gleichen Kontexten heraus auch unterschiedliche
Bezeichnungsformen in Bildern wahrnehmen und Bedeutung beimessen, obwohl
das Bild materiell (für uns) identisch andauert.
Das bekannteste Beispiel für eine bistabile und biaspektische Bezeichnungszuweisung
an eine optische Struktur ist das Figur-Grund Bild [s.S. 163 Abb. 10],
bei dem man zu entscheiden hat, ob man zwei weiße Gesichter vor dunklem
Grund oder eine schwarze Vase auf hellem Grund wahrnehmen will. Ein ähnliches
Phänomen, in dem Attraktoren des Wahrnehmungssystems bei einer Form
zwei mögliche Bezeichnungen zuweisen, ist gleichfalls bei nebenstehenden
Enten- oder Hasenkopf zu beobachten. (45)
Unrichtigerweise ziehen viele diese biaspektische Bezeichnungszuweisung
als Beispiel für bistabile Bedeutungszuweisung heran, so z.B. Stadler
[vgl. 1991/250ff.]. Die Bedeutung, die die Wahrnehmung der Enten- oder Hasenkopf-Bezeichnung
auf zwei Aspekte lenkt, ist aber keineswegs bistabil, sondern interpretativ
offen oder polypragmatisch; denn die ikonische Bezeichnung kann in der Bedeutung
von Hase, Ente, Hasenkopf, Entenkopf, gezeichneter Entenkopf oder "ich
sehe das jetzt als Bildhasen" [Wittgenstein 1990/369] usw. interpretiert
werden.
Ein anderes, sehr gutes, weil allgemein kulturelles Beispiel, in dem tatsächlich
stabile Bedeutung bildliche Konzeptualisierung vorsteuert, zeigt Metzger
[vgl. 1953/184ff.] mit dem Hinweis auf Schattierungen in Bildern auf. In
Bildern, die vor dem 15. Jahrhundert entstanden, wurde darauf verzichtet,
die Farben von Objekten entsprechend der vorhandenen Lichtverteilung zu
verändern. Schatten und Schattierungen (abgesehen von Falten) hatten
keine Bedeutung und wurden nicht dargestellt, so Metzger, weil sie nicht
der auch uns gewohnten Farbbeständigkeit der Dinge entsprechen. Offensichtlich
konnten oder wollten die Maler vor dem 15. Jahrhundert ihre Zeichen
nicht so konzeptualisieren, daß diese ihrer anzunehmenden, sinnlichen
Erkenntnis von Schattenperspektive gleichen. Dies taten sie möglicherweise,
weil sie die Lichtverteilung auf den Dingen als unwichtig erachteten oder
als zu flüchtige Eigenschaft ansahen. In der heutigen fotografischen
Bildherstellung tritt dieses Problem so nicht mehr auf: die Kamera glaubt
alles, was sie faktisch "sieht". Deshalb haben Fotografen häufig
mit mißlichen Schattenwürfen zu kämpfen, ganz im Gegensatz
zu Ärzten, die in Tomographien vorsätzlich nach teuflischem Dunkel
fahnden. Insofern z.B. indische oder chinesische Maler nicht die europäische
Malerei nachahmen, verzichten sie noch heute weitestgehend auf die "natürlichen"
Lichtverhältnisse in der Malerei. Sie glauben sowieso nicht an eine
kraft sinnlicher Wahrnehmung zu erreichende "wahre" Erkenntnis,
weshalb sie ihre Bilderwelten in spärlicher Ähnlichkeit zu Wahrnehmungswelten
in meinen "Augen" konzeptualisieren. (46)
Das letztere Beispiel zeigt zwei wichtige Auffassungsgaben: erstens die
sinnliche Erkenntnis in der Wahrnehmung von wirklichen Dingen, wie etwa
den Gegenstand Bild, und zweitens die konzeptualisierte Umsetzung der Wahrnehmung
in der Bildproduktion. Die erstere Fähigkeit zieht weder die zweitere
nach sich, noch legt sie zweitere in den Ausdrucksformen fest. Üblicherweise
nehmen wir mehr wahr, als wir in Bildern darstellen können, und andererseits
entwickeln wir mit Bildern in nahezu jedem Fall andere Formen, als wir wahrnehmen.
Tatsächlich sehen Inder im Alltag gewiß Schatten, obwohl sie
ihnen in Bildformierungen kaum kommunikative Relevanz beimessen.
Momentan gilt das Interesse der Wahrnehmungsseite, die die konzeptualisierte
Darstellungsseite von Bildern und Zeichen unterschreitet, denn die Wahrnehmungsseite
muß sich dafür verantwortlich zeigen, daß wir im semantisch
bistabilen Muster des Enten-Hasenbildes zwei Bezeichnungen visuell decodieren.
Wahrnehmung ist zwar an die Zuweisung von Bedeutung gebunden, aber deren
pragmatische Interpretationsbreite ist deutlich geringer limitiert als die
zwei sichtbaren Bezeichnungen jener semantischen Kippfigur. In dieser wird
nämlich in sinnlicher Erkenntnis (47) der Form bzw. Farbe oft etwas gesehen,
was in seinen Sinnesqualitäten zu Eigenschaften zweier ikonischer Objektbezüge
extrahiert oder im Wahrnehmungssystem prozessiert wurde. Für die Identifikation
der zwei ikonischen Objektbezüge ist weniger ausschlaggebend, welche
mögliche Bedeutung interpretiert wird, sondern entscheidend ist, daß
Unterschiede der Form beispielsweise zum Hintergrund wahrgenommen werden,
damit der optische Objektbezug in Begleitung noch adäquater Bedeutung
erkannt wird. Daher verläuft ein ausschlaggebender Teil aller Bildinterpretation
innerhalb der sinnlichen Erkenntnis, die in erster Differenzierung eine
Zweitheit konstruiert, um ikonische Objektbezüge und Gegenstände
wahrzunehmen. Konzeptualisierung von Zeichenbedeutung und Darstellung in
Zeichen ist demgegenüber eine Drittheit, die erkenntnistheoretisch
relevant wird [s.S. 30 (Repräsentation)]. Beschreibt man Bilder
ausschließlich als Zeichenkommunikation [Drittheit], dann versteht
man nur das halbe Ereignis der visuellen Kommunikation. Denn ohne sinnliche
Erkenntnis enthalten sich Bilder aller visuell kommunikativen Bezeichnungen,
deren sensorische Wirkungen im Augenscheinlichen informieren. Visuell unsichtbare
Bilder dauern lediglich in der Vorstellung (48) an, und es ist vor dem Hintergrund
der Hirnforschung sicher fraglich, ob sie sich dort wie wirkliche Bilder
präsentieren. Mögen auch bildliche Vorstellungen und Träume,
die im Träumen oft gar nicht wie Traumzeichen, sondern wie trügerische
Traumwirklichkeiten erlebt werden, manchem wie Bilder erscheinen, aufgrund
ihrer bewußtseinsexternen Immaterialität werden sie nicht zwischenmenschlich
kommunikativ.
Basiert die Bildwahrnehmung eines Individuums auf Materialität, dann
kann sie in der Formulierung Gibsons als eine gelten, die Reize als Ursache
der Qualitäten eines Dings empfindet und ihnen den Charakter eines
Gegenstandes in der Außenwelt zuschreibt, also anfängt, in irgendeinem
Verhalten der Außenwelt aktiv gegenüberzutreten. Durch diese
Aktivität des Individuums können - müssen nicht -
die Anpassungsleistungen des Wahrnehmungssystems in unterschiedlichen Stufen
beeinflußbar sein. Teilweise umfassen die von Gibson festgestellten
Anpassungsleistungen rein vorbewußte, organische Voraussetzungen und
Bewegungen, wie etwa Kompensationsbewegungen, Konvergenzeinstellung, Fixation
und Umherschauen etc. Die für die Bildbetrachtung wichtigen Leistungen
sind: das Reifen und Lernen des Wahrnehmungssystems nach dem Assoziationsgesetz,
Empfindungen einer Modalität mit Empfindungen einer anderen zu kombinieren
und die Signale bestimmten Qualitäten der Außengegenstände
zuzuordnen. Aber von besonderer Relevanz für die Bildbetrachtung ist,
daß das Wahrnehmungssystem von einer Aufmerksamkeit durchdrungen wird,
deren Ausrichtung und stets weitergebildete Fertigkeiten Gibson in solchen
Begriffen, "... wie Mitschwingen, Extrahieren, Optimieren, Symmetrieren
und auch Aktivitäten, wie sich Orientieren, Erkunden, Untersuchen oder
sich Anpassen ..." [Gibson 1982/265], zu umschreiben sucht. Des
Erachtens von Gibson
"... extrahiert das Wahrnehmungssystem im Fall der Beständigkeit
eines Objekts einfach nur die Invarianten aus dem Fluß der optischen
Anordnung: es läßt sich von den Invarianten in der Struktur anregen
(resonates) oder stimmt sich ab (is attuned)." [Gibson 1982/268]
Invarianten [Zweitheit] bezeichnen hier die optische Struktur, die ein Individuum
die Anwesenheit des Gegenstandes wahrnehmen lassen. In sprachlicher Abstraktion
heißen Invarianten oft Farbe und Form. Der Unterschied ist der, daß
Invarianten eine Abstraktionsleistung des wahrnehmenden Bewußtseins
sind, gleichwohl die sprachliche Abstraktion jene Abstraktionsleistung mit
den Begriffen Farbe und Form benennt. In der Wahrnehmung von Invarianten
der optischen Struktur verläßt sich das Wahrnehmungssystem nicht
ausnahmslos auf gespeicherte Erinnerungen (Gedächtnis eines "Könnens"),
sondern extrahiert und abstrahiert eigendynamisch innovative Strukturen
im wahrnehmungsmäßigen Sehen [vgl. Gibson 1982/278]. In diesem
Sinne ist das wahrnehmungsmäßige Sehen als konstruktive, synthetisierende
Aktivität aufzufassen, die Neisser [vgl. 1974/124] zufolge die Aufmerksamkeit
auf bestimmte Eingangsinformationen fokussiert. Beim wahrnehmungsmäßigen
Sehen lenkt das Individuum seine fokale Aufmerksamkeit auf die Beständigkeit
von Strukturen innerhalb des visuellen Feldes, wodurch neue Strukturen zu
einem kognitiven Schema werden können, das mit den alten Gedächtnisstrukturen
zu neuen Schemata fusioniert [vgl. Neisser 1974/117].
Neisser betont ausdrücklich, daß das Sehen selbst eine konstruktive
Aktivität ist. Im Ursprung arbeitet Wahrnehmung nicht mit Schemata
der Erinnerung, sondern das Wahrnehmungssystem kreiert vermutlich von sich
aus welche [vgl. auch Gibson 1982/274].
"Ein Schema ist jener Teil des ganzen Wahrnehmungszyklus, der im Inneren
des Wahrnehmenden ist, durch Erfahrung veränderbar und irgendwie spezifisch
für das, was wahrgenommen wird. Das Schema nimmt Information auf, wenn
sie bei den Sinnesorganen verfügbar wird, und es wird durch diese Information
verändert." [Neisser 1979/50]
Zu Beginn ist die Informationsaufnahme grob und wenig erfolgreich, erst
als Produkt der individuell möglichen Wahrnehmungserkundungen entstehen
im Verlauf der Entwicklung zunehmend feinere Schemata. In diesem Sinne geht
das wahrnehmungsmäßige Sehen mit dem Medium Bild eine "strukturelle
Kopplung" [Maturana 1991/102; vgl. 1987/186] ein. Die strukturelle
Kopplung bezieht sich darauf, daß sich die Schemata im Wahrnehmungszyklus
stabilisieren, um der körperlich bewegten Person eine erfolgreiche
Wahrnehmung des Gegenstandes Bild bewußt werden zu lassen. Es findet
hier eine erste organisatorische Konstruktion von Formen statt, die im optischen
Medium Bild in Abgrenzung zum Bildhintergrund gesehen werden. Wie sich diese
Entwicklung vollzieht, erklärt Neisser im Wahrnehmungszyklus, der die
Grundlage für die individuelle Wahrnehmung von Bildern im weiteren
Fortgang bilden soll [s.Abb. 5].
Neissers Entwurf folgend, ist die Wahrnehmung "... tatsächlich
ein konstruktiver Prozeß, aber was konstruiert wird, ist nicht ein
Vorstellungsbild, im Bewußtsein erscheinend und dort vom inneren Menschen
bewundert" [Neisser 1979/26]. Statt dessen ist die Wahrnehmung eine
vom Schema gelenkte Differenzierung der visuellen Empfindung, die es ermöglicht,
daß die Wirklichkeit eines Gegenstandes in der Anschauung konstruiert
werden kann. Anschauung kommt keiner Vorstellung gleich, wie der Gegenstand
bei Abwesenheit aussehen könnte. Sehen basiert auf visuellen Empfindungen,
aus denen die Informationen im Schema erlernt und strukturiert werden, die
auch verfügbar sind. Der Mensch lernt allerdings nicht die Netzhautpunkte
einander zuzuordnen, um die dritte Dimension zu sehen.
"Was wir vorrangig lernen, ist die 'Identifikation' der Merkmale visueller
Reizung, die den wichtigsten Merkmalen der materiellen Umwelt entsprechen."
[Gibson 1973/323; vgl. Plonner 1980/212]
Von realen "Entsprechungen" kann vom konstruktivistischen Standpunkt
her zwar keine Rede sein, aber die Verfügbarkeit von »Identifikation«
begründet dennoch den eigentlichen Gehalt der sinnlichen Wahrnehmung
im Zyklus.
Den konstruktiven Prozeß
der Wahrnehmung beschreibt Neisser [vgl. 1979/26ff.] als interaktiven Fluß
zwischen dem Schema, der Erkundung und dem Objekt in einem Wahrnehmungszyklus.
Der Wahrnehmungszyklus beginnt mit ersten Wahrnehmungsprozessen (49), in denen
zunächst einfache Schemata erstellt werden. Diese ersten antizipierten
Schemata der Gestalt veranlassen zu neuen Erkundungen über optische
Strukturen. Indem die bereits erworbene Information bestimmt, worauf sich
die Aufmerksamkeit als nächstes richten wird, erweitern die so angeregten
Erkundungen das ursprüngliche Schema in einem konstruktiven Prozeß,
der ständig neue Antizipationen der visuellen Information anregt und
strukturiert. Somit sind die Erkundungen von zuvor konstituierten Schemata
beeinflußt, indem sie nach "vorbestimmten" Informationen
fahnden. Im zeitlich ununterbrochenen Rücklauf visueller Informationen
optimiert sich das Schema im Wahrnehmungszyklus, und führt so ständig
neue Erkundungen aus. Dieser immerwährende Kreislauf charakterisiert
den Wahrnehmungszyklus. In dessen umweltoffener und deshalb veränderlicher
Selbstreferenz ist inbegriffen, daß die für das Sehen entscheidenden
kognitiven Strukturen sowohl antizipierte als auch optimierte Schemata der
visuell konstruierten Welt sind.
Die kognitiven Strukturen, die die Wahrnehmung ermöglichen, lassen
sich natürlich nie selbst wahrnehmen, weshalb ich sie als visuelles
Vor-Bewußtsein [Erstheit] verorten möchte. Indessen soll Wahrnehmung
als Zweitheit eines Bewußtseins aufgefaßt werden, wie es auch
für soziologische Untersuchungen relevant wird. Wenn Handeln heißt,
Beziehungen stiften, bewußten und unbewußten Motiven oder Antrieben
folgen, dann kann auch die Leistung der sinnlichen Erkenntnis im Wahrnehmungszyklus
als Handeln erfaßt werden, denn die Schemata werden von den Erkundungsbewegungen
in unbewußter und bewußter Weise motiviert. Dies erklärt
sich nach Neissers Ansicht daraus, daß die im Zyklus eingebetteten
Schemata herausgelöst werden können, und von diesem Ursprung aus
in die höheren geistigen Prozesse, wie Planen, Vorstellen und Vorhaben,
eingegliedert werden [vgl. Neisser 1979/28]. Dennoch erfolgt bei jenem Wahrnehmungshandeln
oder visuellem Handeln (Wallbott [vgl. 1979/59ff.] schreibt "Verhalten")
keine "visuelle Interaktion", wenn wechselseitige oder kulturgeleitete
Zeicheninterpretationen zunächst ausbleiben.
Wenn Wahrnehmung eine Handlung sein kann und Planen, Vorstellen bzw. Vorhaben
von Zeichenkonzepten angeleitet werden, dann kann auch Zeichenkommunikation
zur Übernahme einer bestimmten Handlung, sprich Wahrnehmung, auffordern.
Diese Formulierung folgt Hubert Zimmer, mit dem Unterschied, daß er
den handlungsstiftenden Einfluß der Sprache betrachtet, und dabei
die Einflußnahme von bildlichen Zeichenverständigungen vernachlässigt.
Unter dem Handlungsaspekt der Wahrnehmung kann man "... einem
Wahrnehmenden das Handlungsziel, d.h. die Strukturen und Beziehungen, die
er herstellen soll, angeben" [Zimmer 1983/72]. Dieser Standpunkt skizziert,
wie die Einflußnahme auf Wahrnehmungshandlungen des psychischen Systems
durch Gegenstände, Bilder, Sprache und andere Zeichenvorgänge
ermöglicht wird, sobald Aufmerksamkeit von kulturellen Zeichen- und
Gegenstandsthematisierungen auf optische Strukturen gelenkt wird. Die bildbezogene
Wahrnehmungshandlung eines Individuums bleibt zwar selbst kontingent, also
eine mögliche Wirklichkeit [Zweitheit], sie wird jedoch innerhalb pragmatischer
Kommunikation nur insoweit toleriert, wie aus ihrer Konzeptualisierung noch
kommunikativ anschlußfähige Zeichen folgen. Ein Phantast beispielsweise,
der das christliche Kreuz auf einem Bild als Farbfleck oder als ungewöhnlichen
Stuhl wahrnimmt, wird sicherlich schnell darüber aufgeklärt werden,
wie dieser Farbfleck als Kreuz-Zeichen wahrzunehmen ist und wie dieses als
Symbol interpretiert wird. Dies gilt nicht notwendigerweise für künstlerische
Bilder. Sie sind in mancher Hinsicht darauf angelegt, eine Reihe von möglichen
Wirklichkeiten dem Betrachter offenzulassen, um ein großes Spektrum
von Gefühlsinterpretationen (Möglichkeit der Drittheit) zu gewähren.
Daher erretten sich Kunstwerke einen kontingenten Wahrnehmungsbereich, der
sich kaum durch interpersonale Bildinterpretation definiert, sondern der
sich hauptsächlich infolge subjektiv allgemeiner Interpretationshandlung
- d.h. noch legitimer Subjektivität - den kommunikativen
Anschluß in Zeichen sichert. Der gesellschaftliche Umgang mit der
Malerei von "Geistesgestörten" (Art brut) führt vor,
wo die Klippe der legitimen Subjektivität und damit des kommunikativen
Anschlußes an unsere Zeichenkultur unterschritten wird, denn diese
Malerei zerfließt ohne Kunststatus und Historie im Dasein [hierzu
Spitz 1991/114ff.].
Vor der Schwelle zur semiotischen Funktion (Zeichen) kann das »Bewußtwerden
der Umwelt« als ein privates Phänomen des Individuums beschrieben
werden, da es sich im individuellen Engagement eigene Strukturen in primordialer
Erfahrung [s.S. 59 Fußn. 18] erarbeitet. In diesem von Piaget
[vgl. 1974a/345] benannten »optischen Realismus« erscheinen
auch bildliche Gegenstände in direkter Wahrnehmung so, wie jemand sie
sich selbst vergegenwärtigt, bevor sie in eine Codierung von Zeichen
eingegliedert und damit semiotisiert werden. Die Interdependenz von Bild-
und bildaffirmativen Wahrnehmungsstrukturen erhält hier eine gewisse
kreative Autonomie, also eine Selbstgesetzlichkeit, der notwendigerweise
keine Strukturen des Gedächtnisses vorgegeben sein können. Vorschnell
darf jedoch nicht gefolgert werden, daß Individuen in ihrer Entwicklung
eigener Wahrnehmungsstrukturen von der optischen Ordnung der Umwelt und
Bildumwelt unabhängig sind. Mit dem Entwurf des Wahrnehmungszyklus
folgt Neisser [vgl. 1979/49] der Theorie Piagets, indem er vermutet, daß
das Kind und - wie ich denke - jeder andere naive Betrachter in
seinen visuellen Schemata die figurativen Aspekte der Umwelt im Prozeß
der Akkommodation konstruiert und speichert, ohne daß diese Schemata
schon in interpersonalen Konzeptualisierungen begriffen werden, obwohl sie
von optischen Gegenständen und gerade Bildern einer Kultur geprägt
sein können.
In visueller Akkommodation ("Angleichung") verändert das
Individuum seine bisherige Sichtweise [vgl. Piaget 1983/32ff.; 1974/38ff.;
Glasersfeld 1994/32f.; Buggle 1993/24f.]. Es paßt sich den optischen
Gegebenheiten eines kulturellen Bildes an, indem es dessen Umrisse, Kanten,
Formen, Einheiten, also Invarianten neu gliedert, entdeckt und erstmalig
konstituiert. Im Wahrnehmungsergebnis behält die Akkommodation unaufhörlich
einen geringen Grad an konstitutiver Neuheit, sofern die vorkonstruierte
Erwartungshaltung des Individuums partiell unerfüllt bleibt. Demgegenüber
versteht Piaget das sich selbsterfüllende Wahrnehmungsereignis als
Assimilation ("Ähnlichmachung"). Bei diesem operativen Tun
werden Umweltdaten in bestehende Schemata quasi einverleibt. Im assimilierenden
Wahrnehmungshandeln formt oder konstruiert sich das Individuum seine (Bild-)Wirklichkeit
- im überzogenen Sinne - selbst. Für Bilder folgt daraus:
das Individuum nimmt die Bild-Elemente (-Einheiten) wahr, die mit bereits
vorkonstruierten Wahrnehmungsschemata harmonieren. Das Bild ermöglicht
zwar visuelle Empfindungen, aber wahrgenommen wird das, was im Wahrnehmungszyklus
"um-gestaltet" wird. Bildperzeption verwirklicht hier eine zweite
Bildproduktion, indem das Individuum solche assimilierten Schemata nutzt,
die ihm schon einmal die Wahrnehmung einer Bildwirklichkeit ermöglicht
haben. Es sieht also mit den Augen seines Gedächtnisses, das nach eigenen
Plausibilitätskriterien verfährt. Insofern wird das Bild bei der
Assimilation der erlernten Wahrnehmungsfähigkeit des Individuums unterworfen
[vgl. Piaget 1974/38f.]. Vielfach durchbricht aber die kulturelle Welt unstimmige
Assimilationsschemata eines Individuums. Aus pragmatischen Gründen
hat es sich den bildlich-perspektivischen Zeichenstrukturen anzugleichen,
wenn es ohne negative Sanktionen an Kommunikation teilhaben will. Wobei
gegenüber künstlerischen Bildern der besagte Freiraum toleriert
wird, so daß gerade nonkonforme Sichtweisen positiv sanktioniert werden.
Im Entwicklungsprozeß eines Individuums verfeinern sich die Schemata
im Wahrnehmungszyklus durch den gerichteten Prozeß auf besondere Wirklichkeitszustände,
wodurch jede neue Situation die alten Strukturen verändert und Identifikations-
und Vergleichsorientierungen ermöglicht werden. Die vergangenheitsabhängige
Strukturierung findet mit Hilfe von Akkommodationen statt, die assimilierte
Schemata spezifizieren, weshalb sie nicht vollständig neu sind, sondern
nur einen Grad von Neuheit mit sich bringen. Falls wir Dinge wiedererkennen,
also nicht immer komplett neuartige Schemata erstellen, und andererseits
aber auch nie gesehene Dinge wahrnehmen lernen, kann es "... keine
Assimilation ohne Akkommodation und umgekehrt keine Akkommodation ohne Assimilation
geben ..." [Piaget 1974/38].
Formuliert man den Wahrnehmungszyklus in seinen akkommodierenden und assimilierenden
Prozessen semiotisch, folgt daraus: in der visuellen Akkommodation konstruiert
das Individuum kognitiv Quali- und Sinzeichen als (einmalige) Erstheit eines
Bildes, und in der Assimilation möchte ein Individuum Quali- und Sinzeichen
als Legizeichen in der Erstheit "bestätigt wissen", es versucht
das zu sehen, was ihm zu einer visuellen Gewohnheit oder internalisierten
Regel der Kultur geworden ist. Denn "die gesellschaftlichen Gewohnheiten,
die am unmittelbarsten mit der Wahrnehmung von Gemälden zu tun haben,
sind visuelle Gewohnheiten" [Baxandall 1987/135]. Die semiotische Interpretation
der visuellen Gewohnheit oder des "kognitiven Stils", wie ihn
Baxandall nennt, bekräftigt Piaget, indem dieser sowohl die "Assimilation
als auch die Schemata, die ihre Ergebnisse darstellen, dem Allgemeinen zugewandt
[sieht], während jede Akkommodation, und insbesondere die Erinnerungsbilder,
die sich daraus ergeben können, dem Besonderen zugewandt sind ..."
[Piaget 1974/39]. Da Piaget die Akkommodation für den Ausgangspunkt
der figurativen Erkenntnis hält, kann dies mit dem Bemerken eines bildlichen
Sinzeichen, also eines Besonderen, verglichen werden. Wenn sich aber ein
Erkennungscode, und somit ein regelhaftes Erkennen von optischen Strukturen
bei Individuen einer Kultur auffinden läßt, dann müßte
dies ein Produkt der Assimilation diverser legizeichenhafter Strukturen
sein, wie z.B. die Perspektive. Solche Organisationstendenzen von assimilatorischer
Wahrnehmung finden sich dort, wo das Individuum versucht, "... möglichst
viele Einzelmeldungen unter möglichst wenigen Qualitäts-, Lage-,
Form- und Änderungsprinzipien zu subsumieren" [Plonner 1980/157],
also kulturelle Gesetzmäßigkeiten wiederzuerkennen und quasi
in Bilder hineinzusehen. Denn nach Piaget [vgl. 1974a/348] ist unter sozialen
Gesichtspunkten die Akkommodation nichts anderes als die Sozialisation des
Individuums, welches sich den Vorbildern und hier figurativen Imperativen
der Gruppe unterstellt. Infolge dieses soziokulturellen Einflusses wäre
es dem Individuum möglich, daß es seine Kognitionsspuren wieder
als assimilatorische Realität seines Ichs aufnehmen kann. Selbst das
durch Akkommodationen sozialisierte Gefühl von Schönheit oder
Häßlichkeit, also der sogenannte Geschmack, kann ein Produkt
assimilatorischer Wahrnehmung sein, sobald legizeichenhafte Strukturen in
die beobachtete Bilderwelt derart hineingesehen werden, daß diese
die innere Struktur zufriedenstellt, in ein inneres Gleichgewicht führt
oder, wie Boesch [vgl. 1983/308] mit kybernetischem Duktus schreibt, den
"inneren Sollwerten" nahekommt [vgl. Baxandall 1987/47].
Das Wechselspiel von Assimilation und Akkommodation zeigt, wie der Wahrnehmende
vergangenheitsabhängig eine strukturelle Kopplung mit den figural-qualitativen
Eigenschaften eines Bildgegenstandes eingeht, obwohl ihm dies nicht als
Lernprozeß bewußt werden muß. Wahrnehmung verändert
den Wahrnehmenden in seinen Fähigkeiten zur Wahrnehmung. Für diesen
"pragmatic turn" [Apel 1990/20] bleibt es aber fraglich, ob die
"... Wahrnehmung nicht die Welt verändert ..."
[Neisser 1979/49], da sie nämlich als Fähigkeit einer Wirklichkeitsbeobachtung
erst »etwas« zur Wirklichkeit erhebt. Was sollte die Welt sonst
verändern, wenn nicht neben Zeichencodes auch die Kontingenzen und
Pertubationen, die wir als empirische Wirklichkeit erfahren. Was ein Betrachter
wahrnimmt, sind Gegenstände und Bilder, die ihn umgeben und deren dynamische
Wirkungen er auch erfährt. Die akkommodierende Wirklichkeitskonstruktion
eines Individuums erhält durchaus eine gesellschaftliche Relevanz,
sobald sie die Kraft hat, legizeichenhafte Strukturen einer kulturellen
Realitätskonzeption zu durchbrechen. So wurde beispielsweise die Bedeutungsperspektive
von Bildern durch die Zentralperspektive abgelöst, weil diese etwas
über eine Dreidimensionalität kommunikativ kartographierte, an
der man sich auch alltäglicherweise wahrnehmungsmäßig orientierte.
Kulturelle Zeichencodierungen geben zwar den nichthintergehbaren Horizont
für visuelle Kommunikation vor, aber sie setzen nicht pausenlos durch,
was im Wahrnehmungsbewußtsein als perzeptive Evidenz gilt. Dies erklärt
sich dadurch, daß für das Wahrnehmungsbewußtsein der nichthintergehbare
Horizont keinesfalls davon abhängt, was kommuniziert werden kann, sondern
davon, welche kognitiven Möglichkeiten als Bedingung dafür gelten
können, was körperlich erfahren wird. Die Grenzen kultureller
Zeichen belaufen sich nicht auf die Grenzen der visuellen Wahrnehmung. Denn
im »pragmatic turn« lernt der Wahrnehmende die perzeptive Evidenz
von (Bild-) Gegenständen kennen, aber - sofern ihm möglich -
auch auf jeweils neue Weise wahrzunehmen bzw. manchmal sogar optisch darzustellen.
Zweifelsohne drängen Gegenstände, wie auch Bilder, im »pragmatic
turn« die Wahrnehmungsleistung des Individuums in akkommodable Bahnen.
Ein Individuum muß vorwiegend lernen, wie optische Strukturen des
Gegenstandes Bild adäquat zu differenzieren sind. Und diese einmal
ausgeführte Handlung wird sich vermutlich in kognitive Schemata einprägen.
Das Individuum behält naturgemäß nicht jedes Bild im Gedächtnis,
aber es akkommodiert und assimiliert, wie eine stimmige Wahrnehmung von
einer zweidimensionalen Bildfläche seiner Kultur erlangt werden kann,
um das Bildliche am Bild zu durchschauen. Diese Wahrnehmungsfähigkeit
charakterisiert das visuelle Vor-Bewußtsein, da das Individuum nicht
sehen kann, wie es visuell empfindet, sondern ausschließlich anerkennt,
daß es »etwas« erfolgreich auf der zweidimensionalen Fläche
wahrnimmt. Die Bildwahrnehmung unterliegt zwar den allgemeinen Wahrnehmungsmechanismen,
dennoch benötigen der Wahrnehmungsgegenstand Bild und dessen figural-qualitative
Merkmale eine Fähigkeit, die in speziell ausgebildeten Wahrnehmungsoperationen
die besonderen Eigenschaften einer deskriptiven Bildoberfläche (z.B.
einer künstlichen Perspektive) durchschauen kann. Ohne diese kulturelle
Wahrnehmungsprägung, die sich an Bildern selbst entwickelt, wird das
Erkennen von Bildern sicher von praktischen Komplikationen begleitet sein
[hierzu Holzkamp 1985/312; Hagen 1980a/22].
Wie die beschriebene Einflußnahme durch Zeichen und Gegenstände
auf die Wahrnehmungshandlung im weiteren gemeint ist, zeigen folgende Fälle.
Zum Beispiel kann ein Betrachter bei dem Enten-Hasenkopf (s.S. 90)
den Hasenkopf sehr wahrscheinlich spätestens dann erkennen, wenn er
sprachlich oder gestisch darauf hingewiesen wurde. Es ist aber fernerhin
möglich, von bildlichen, hauptsächlich ikonischen Objektbezügen,
instruktive Wahrnehmungshandlungen zu übernehmen. Anatomische Zeichnungen
in Biologielehrbüchern sind teilweise darauf angelegt, daß jemand
beim Mikroskopieren einer Zelle schon in etwa eine "ikonisch/bildliche"
Vorstellung von der optischen Struktur des Präparats hat, damit er
dann auch wirklich z.B. den Zellkern im Lichtmikroskop findet und von anderen
Zellorganellen unterscheiden kann. Nach rein sprachlicher Beschreibung,
oder ganz ohne zeichenhafte Hinweise, wäre es sehr viel schwerer bzw.
für den Laien nahezu aussichtslos, die angestrebte Wahrnehmungshandlung
auszuführen. Beispielsweise verließ sich Galilei nicht auf die
Zeichen seiner Kultur, denn er konnte die Unregelmäßigkeiten
der Mondoberfläche als erstes nahezu künstlerisch entdecken, obwohl
er bei weiteren Teleskop-Beobachtungen den "Ring" des Saturns
in den Jahren 1609-1619 aufgrund mangelnder Vorkenntnisse nicht als Ring
wahrnahm, sondern ihn als dreiteiliges Objekt sah. Heutzutage "... fällt
es ... selbst einem Hobby-Astronomen mit einem billigen Warenhausfernrohr
schwer, den Saturnring ... nicht als 'Ring' zu sehen" [Kanngießer
1983/91].
Sprache und andere Zeichen können auch in den erkenntnistheoretischen
Irrtum führen; wenn sie ewig gültige Vorstellungen darstellen
sollten, war dies vielfach der Fall. So hat Dürer seine Darstellung
eines Nashorns aus einer narrativen Realität heraus konstruiert, was
dazu führte, daß Dürers Nashorn für uns heutzutage,
die wir ein Nashorn oder ein zeitgenössisches Nashornfoto gesehen haben,
nicht mehr als realistische Veranschaulichung gilt. Ähnlich wie Dürers
Nashorn, wird es sehr wahrscheinlich auch Darstellungen des bisher ungesehenen
Atoms oder der Doppelhelix der Chromosomen gehen. Ein wenig spekulativer
meine ich, daß ebenso Fotografien in fernerer Zeit als unsachgemäße
Darstellung in Kulturen gelten werden, wenn sich z.B. Holographien, Lasersimulationen,
Cyberspace oder andere dreidimensional wirkende Darstellungen durchsetzen.
Ein weiteres, für Wahrnehmungs- nicht für Darstellungshandlungen
zu nennendes Beispiel, welches aufzeigt, wie wir tatsächlich vom Gegenstand
Bild unvermittelt Wahrnehmungshandlungen lernen, ist die Schnittgeschwindigkeit
von Filmsequenzen. Diese jüngste Wahrnehmungshandlung, die wir von
Bildern - also direkt vom Gegenstand als neues Legizeichen - gelernt
haben, besteht darin, daß wir drei Filmschnitte in der Sekunde wahrnehmen
und nicht nur empfinden können. Laut Schivelbusch [vgl. 1977/62] hatte
die Erfindung der Eisenbahn den Blick in ein Panorama gezwungen, in dem
sich die Existenz des bewegten Vordergrunds verflüchtigte. Die heutigen
Filmsequenzen vernachlässigen indessen den panoramierten Hintergrund
und zwingen den unbewegten Betrachterblick dazu, vor allem die im bildlichen
Vordergrund stehenden Zeichen trotz ihrer zeitweise rasenden Bewegung wahrzunehmen.
Nicht das Langsame, sondern das Rasende verdient heutzutage die gesteigerte
Aufmerksamkeit. Die mit laufenden Bildern erst erfundene Zeit-Lupe kehrt
sich somit um: laufende Bilder dehnen Zeiträume nicht mehr aus, sondern
reduzieren sie im Zeitraffer für die heutzutage beschleunigte Wahrnehmungshandlung.
Auf ähnliche Weise lernt es auch der untrainierte Computerbildschirmleser
erst nach einiger Zeit, die im Vordergrund eilig abrollende Schrift zu lesen.
Obwohl inzwischen fast jeder die Perspektive in Bildern wahrnehmen kann,
so war auch dies ein Lernprozeß einer Wahrnehmungshandlung, die wir
am Gegenstand Bild erlernt haben. Computeranimierte Bilder von Künstlern
erfordern inzwischen eine Wahrnehmung, die nicht mehr auf Perspektive und
die gewohnte Konstanz der Farbe/Form ausgerichtet ist, sondern die unaufhaltsame
Veränderung aller gewohnten Bildstrukturen mitmacht, so daß es
dem untrainierten Betrachter schwerfällt, irgend »etwas«
als ein bestimmbares (Sin-)Zeichen wahrzunehmen. Offensichtlich erfordern
moderne Hochgeschwindigkeitsbilder immer rasantere bzw. komplizierter auszuführende
Wahrnehmungshandlungen, währenddessen Körperbewegungen (50) für
Bildwahrnehmungen eine zunehmend geringere Rolle spielen und kontinuierlich
langsamer werden.
Alle aufgezeigten Beispiele deuten darauf hin, daß der Wahrnehmungszyklus
den Bereich der möglichen Beschreibung für einen Beobachter bindet
[vgl. Maturana 1991/105]. In diesem Sinne erzeugt das Individuum in der
Wahrnehmung eine oder genaugenommen seine Wirklichkeit, die innerhalb seines
durch Aufmerksamkeit gelenkten Wahrnehmungssystems erst entsteht. Daraus
geht ein ontologischer Sprung hervor, auf den Gerhard Roth verweist. Es
kann nämlich nicht die Materialität eines Gegenstandes oder Bildgegenstandes
dem Individuum kognitv zugänglich sein, sondern diesem können
einzig und allein die sensorischen Empfindungen (Reize) verfügbar sein,
aus denen es durch die Wahrnehmungshandlung eine materielle Wirklichkeit
des Gegenstandes kognitiv konstruiert. Ich denke, es kann Roth teilweise
zugestimmt werden, daß, wenn es um die Wahrnehmung von Gegenständen
geht, die kognitiv erreichbare Wirklichkeit, insofern "... die
für uns einzig existierende Welt ist" [Roth 1991a/275], wie wir
damit nicht unsere kommunizierten Weltkonstruktionen, sondern unser Erleben
einer kognitiv konstruierten Wirklichkeit meinen. Daß auch bei der
Bildbetrachtungssituation diese kognitive Wirklichkeit des psychischen Systems
von den mehr oder weniger gut ausgebildeten Fähigkeiten des Wahrnehmungssystems
abhängt, sollte der Wahrnehmungszyklus von Neisser aufzeigen. Mit dem
Wahrnehmungszyklus kann dann verstanden werden, daß wir als allererstes
die für das Medium Bild adäquaten Wahrnehmungshandlungen vom Bildgegenstand
und dessen syntaktischer Codierung von semantischen Ikons erlernt haben,
damit es mit dem Sehen von ikonischen Bezeichnungen zur Interpretation der
Bedeutungen kommt.
Im weiteren zeigt der Wahrnehmungszyklus und der Standpunkt von Roth bzw.
Maturana recht eindringlich, warum Bilder in ihrem visuellen Informationsgehalt
kontingent sind. Denn neben den Bedingungen, in denen die Bilder auftreten,
hängt die optische Information zu einem großen Teil davon ab,
mit welcher visuellen Erfahrung und kreativen "Intelligenz" das
Individuum visuelle Information in der Wahrnehmungshandlung konstruieren
kann. Die visuellen Informationen, die dem Bild zugeschrieben werden, sind
daher das Wahrnehmungskonstrukt vorbewußter Empfindungsqualitäten.
Ein Problem bleibt bestehen, welches hier angedeutet werden soll, um es
im Kapitel 2.8. zur Aufmerksamkeit [s.S. 229] näher zu erläutern.
Die oben angeführten Beispiele zur Wahrnehmung von Bildern und Gegenständen
weisen darauf hin, welchen kommunikativen und vom Gegenstand Bild herkommenden
möglichen Einflüssen die Aufmerksamkeit unterliegt. Wahrnehmungsmäßiges
Sehen wurde als eine Handlung innerhalb der kognitiven Aktivität beschrieben.
Dennoch möchte ich eine Trennung vornehmen, die darauf abzielt, ob
diese kognitive Aktivität des wahrnehmungsmäßigen Sehens
durch kommunikative und symbolisch-interaktionistische Einflüsse angeregt
oder von den Gegenständen direkt stimuliert wird. Die erste Frage,
die hinter dieser Trennung steht, ist, inwiefern die kommunikativ-gesellschaftlichen
Einflüsse oder die kulturellen Bildgegenstände selbst die Wahrnehmung
von Bildern verändern. Denn es kann davon ausgegangen werden, daß
das wahrnehmungsmäßige Sehen in unserer Kultur sich selbst verändert,
weil sich zum einen die zu sehenden Bilder verändern und sich zum anderen
die kulturellen Kommunikationsmedien wandeln. Letzteres greift auf, inwiefern
allgemein kommunikative Aspekte einer und auch unserer Kultur einen Einfluß
auf die bildliche Darstellung ausüben. Für diese beiden Fragen
möchte ich bereits hier zwei Formen der visuellen Wahrnehmung einführen,
die später nochmals auftauchen werden.
Beispielsweise kann die Sprache, als eine unter anderen Formen der höheren
geistigen Prozesse, die visuelle Erkenntnis beeinflussen. Ebenfalls sind
auch die nicht an Sprache gebundenen geistigen Prozesse der frühen
sensomotorischen und späteren praktischen Intelligenz in der Lage,
im nichtsprachlichen Verhalten, z.B. per Nachahmung, ein Handlungsziel der
Wahrnehmung festzulegen [vgl. Piaget 1974a/345ff.]. Die höheren geistigen
Prozesse definieren in diesem Zusammenhang den Bereich des in irgendeiner
Weise von einer Person motivierten Handelns, wie motorisches Handeln, praktisches
Handeln, Verhalten und letztendlich Denken mit abstrahierenden Vorstellungen
(Zeichen), im weitesten, nicht nur gesellschaftlichen, sondern auch individuellen
Sinne.
Mit den höheren geistigen Prozessen ist auch gleich das Feld unterschiedlicher
Beeinflußbarkeit des aktiven Sehens gekennzeichnet, welches von verschiedenen
Stufen der Gegenstands- und Zeichenbedeutung motiviert nach visuellen Informationen
sucht bzw. sie erkennt. Wenn im folgenden Text von aktiv-wahrnehmungsmäßigem
Sehen gesprochen wird, ist der angedeutete Zusammenhang der höheren
geistigen Prozesse gemeint, die die Voraussetzung dafür bieten, daß
die visuellen Schemata gezielt durch die Nachahmung von Sprache, Handlungen,
Interaktionen und Darstellungscodierungen kulturell beeinflußt werden
können, also gezielt auf eine optische Ordnung ausgerichtet werden.
Dies heißt jedoch nicht, worauf Joas mit Mead hingewiesen hat, daß
Nachahmung die Voraussetzung für vorsteuernde Bedeutungen wäre,
sondern umgekehrt, daß die Befähigung zu höheren geistigen
Prozessen und innerer "... Repräsentation ... uns sowohl
[Bedeutungs-]Verstehen wie bewußte Imitation ... [erlaubt]" [Joas
1989/99]. Insofern gehört zum aktiv-wahrnehmungsmäßigen
Sehen das spezielle Moment einer individuell ausgerichteten Aufmerksamkeit,
die besondere Strukturen in der optischen Ordnung b e w u ß t
und auch subjektiv kreativ verfolgt. Dieser, wenn man es unglücklich
ausdrückt, aktiven Aktivität möchte ich die passive Aktivität
der Wahrnehmung gegenüberstellen. Das passiv-wahrnehmungsmäßige
Sehen wäre dann dadurch definiert, daß es den ausgebildeten Schemata
des wahrnehmungsmäßigen Sehens verhaftet bleibt. Im passiv-wahrnehmungsmäßigen
Sehen werden zwar von vornherein aktiv Invarianten von Gegenständen,
Bildern und bildlichen Zeichen identifiziert, diese visuellen Gewohnheiten
erreichen jedoch einen Status, der nicht als w i r k l i c h
b e w u ß t bezeichnet werden
kann.
Bei visueller Kommunikation ist das Individuum in weiten Teilen auf passiv-wahrnehmungsmäßiges
Sehen angewiesen. Es muß optische Bildzeichen unbefragt in Anspruch
nehmen, wenn visuelle Kommunikation überhaupt in Gang kommen soll.
Es bleibt fast unmöglich, den optischen Bildaufbau bzw. die syntaktischen
Medienformen aktiv wahrzunehmen und gleichzeitig den kommunikativen Aspekt
des Bildes zu verstehen. Regisseure bieten hierfür ein gutes Beispiel;
sie gehen gelegentlich aus dem Kino und haben zwar die gute Kameraführung
und den Filmschnitt aktiv wahrgenommen, können aber nicht sagen, was
der Film eigentlich mitgeteilt hat. Ein wenig überzogen interpretiert,
könnte man vermuten, daß Regisseure manchmal mehr daran interessiert
sind, wie die filmischen Bilder aussehen und weniger auf den kommunizierten
Bedeutungsinhalt achten; ein Phänomen übrigens, welches sich auch
bei malenden Künstlern oder Werbeleuten findet, die aufgrund der aktiven
Wahrnehmung zu der Meinung neigen, daß die Form die Botschaft ist.
Denn man kann entweder beobachten, »was« das Bild beobachtet,
oder man beobachtet, »wie« das Bild beobachtet. Als einen Fall
der passiven Wahrnehmung betrachte man beispielsweise private Fotografien,
vielleicht sogar seine eigenen, und man wird feststellen, daß sie
lediglich zu einem sehr geringen Teil so wirken, wie Fotografien von professionellen
Fotografen. Dies liegt daran, daß wie es schon im Wort der Foto-graphie
liegt, die graphischen Normierungen des Bildaufbaus (goldener Schnitt usw.)
unserer Kultur nicht aktiv wahrgenommen wurden, sondern die natürliche,
dreidimensionale Raumperspektive auf die künstliche Perspektive der
Kamera ahnungslos übertragen wurde. Eine andere Form der passiven Wahrnehmung
fordern im besonderen Maße Musikvideos (z.B. MTV) aber auch andere
Sendungen und Zeitschriften, die durch ihre besondere Organisation der Zeichenmittel
ständig um Aufmerksamkeit ringen, ohne daß dem Betrachter der
Bildaufbau im besonderen bewußt werden würde.
----Fußnoten----
(40)
Der Begriff des Gedankenzeichens hätte eine Berechtigung, wenn man
wie Peirce annimmt, daß jeder Gedanke ein "Zeichen" sein
könnte, welches von einem anderen Gedanken wieder interpretiert wird,
usw. Unter dieser Annahme würde hier die Schwierigkeit auftauchen,
wo das Subjekt ist, welches die Zeichen generiert und interpretiert, da
Zeichen eines Subjekts, wie mit Ciompi (s.S. 74) gesagt, lediglich
das Symptom des Bewußtseins sind. Wenn ich Peirce zustimme, daß
wir uns mit zeichenhaft erscheinenden Konzeptualisierungen selbst beschreiben,
heißt dies dennoch nicht, unsere Hirnstruktur wäre wie Zeichencodes
aufgebaut, weil ja Zeichen lediglich nur Zeichen für das sind, was
wir mittels Zeichen beschreiben. Ausschließlich anhand von besonderen
semiotischen Rekonstruktionsleistungen der neurobiologischen Forschung wäre
zu spekulieren, in unserem Kopf würde ein intelligentes Zentrum die
Zeichen eines anderen interpretieren.
(41)
Das heißt nicht, daß die genetisch bedingten Sehfähigkeiten
keinem Lernprozeß unterliegen, denn sie sind optimierbar und gehören
aus diesem Grunde in den Bereich des visuellen Systems [vgl. Neisser 1979/145].
Nach Sutherland sind es die folgenden acht Fähigkeiten, die als Voraussetzung
der visuellen Erfahrung mitgebracht werden; Neisser [vgl. 1974/118] nennt
sie "präattentive Prozesse": "1) Die Einheitsbildung
und Gruppierung, 2) Die Figur-Grund-Beziehung, 3) Die anschauliche Fortdauer,
4) Die Bewegung, einschließlich der Gesetzmäßigkeiten der
induzierten Bewegung, 5) Das zweiäugige Tiefensehen, 6) Die einäugige
Sehtiefe durch laufende Bildverzerrung, 7) Den Zusammenhang zwischen Annäherung
unz?d Vergrößerung, 8) Die Wahrnehmung der Schallrichtung"
[Sutherland 1970 zit. n. Metzger 1975/658].
(42)
Sensibilität, und damit soll der Begriff im Unterschied zur Sensibilisierung
definiert sein, sagt etwas über die Möglichkeit der spezifisch
ausgerichteten Rezeptoren aus, die eine bestimmte Form von Reizenergie aufnehmen,
die am Rezeptor wirksam und vom Gehirn als Empfindung registriert wird.
Sensibilität "spricht" somit auf Beschaffenheiten der optischen
Welt an [vgl. Bayer 1982/45].
(43)
Die erste Form der Reizbarkeit dient der Voraussetzung des Stoffwechsels
[vgl. Leontjew 1964/30ff.].
(44)
Dieser Struktur-Begriff ist auf keinen Fall zu verwechseln mit visuellen
Strukturen. Ersterer kennzeichnet Vorgänge des Denkens mit abstrahierenden
Zeichen, wohingegen der zweite visuelle Strukturierung als Vorgang des Sehens
von Formen erfaßt.
(45)
Auffällig ist, daß häufig der Entenkopf zuerst gesehen wird,
was eventuell mit der kulturbedingten Schreibrichtung von links nach rechts
zusammenhängt oder eventuell auch nur mit den zu tiefen und zu schmalen
Ohren des Hasen. Man könnte sich auch der Meinung von Ernst Pöppel
[vgl. 1982/143ff.] anschließen, der eine Links-Bevorzugung bei Bildern
mit stark emotionalem Charakter auf die Aktivität der gefühlsmäßig
orientierten rechten Hemisphäre zurückführt, die bei einem
Blick nach links angesprochen wird.
(46)
Die chinesische Malerei versucht nach Untersuchungen von Goepper grundsätzlich
nicht eine "naturgetreue" Darstellung zu erreichen, was in folgenden
Zitat von Su Tung-p'o (1036-1101) zumz? Ausdruck kommt. "Wer über
Bilder urteilt nach der Ähnlichkeit der Formen, dessen Ansicht ist
der eines Kindes verwandt" [zitiert nach Goepper 1962/12].
(47)
Wahrnehmung und sinnliche Erkenntnis sind in gewissem Sinne synonym. Die
beiden Begriffe können leider nicht auf ein Nenner gebracht werden,
weil die Autoren in wichtigen Begriffen, wie z.B. Wahrnehmungssystem, das
Wort Wahrnehmung gebrauchen, obwohl es auch als System der sinnlichen Erkenntnis
benannt werden könnte.
(48)
Zu bemerken ist hier noch, daß sich Personen z.B. bei völliger
Farbenblindheit (Achromatopsie / Hirnläsion) keine Farben mehr vorstellen
oder aus der Zeit vor der Erkrankung in Erinnerung rufen können [vgl.
Zeki 1992/59].
(49)
Zu den präattentiven Prozessen [s.S. 87 Fußn. 41].
(50)
Den wohl ehrlichsten Anzeiger für Wahrnehmungs- und Ausdrucksphänomene
einer Kultur stellt die Jugend dar. In neuerer Mode hört sie in der
Schnelligkeit des Takts kaum noch zu überbietenden Techno-Pop und bewegt
sich dazu in stroboskopischer "Zeitlupe".
|
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In Anbetracht der großen Vielfalt an Theorien zur Kommunikation bleibt
es ein Versuch, die wichtigsten Sachverhalte im Zusammenhang mit Bildern
aufzugreifen. Das folgende Beispiel soll in erster Annäherung eine
scheinbar unkomplizierte Situation der visuellen Kommunikation beschreiben.
Angenommen, eine Person besucht mit Freunden die Räume eines Fremden;
in diesen Räumen nimmt die Person neben anderen Gegenständen auch
einen fast weißen, flächigen, annähernd zweidimensionalen
Gegenstand an der Wand wahr. Die Person hält diese helle Fläche
für die Tür eines modernen Einbauschranks und reagiert nicht darauf,
weil die Funktion und Bedeutung eines solchen Gegenstandes von anderen Schränken
her bekannt ist. Offenkundig ist die Person befähigt, in ihrer Wahrnehmungsroutine
aus den visuellen Empfindungen Informationen über "natürliche"
Gegenstände der Außenwelt adäquat zu strukturieren. Da sie
keine Gegenstände umwirft, ist davon auszugehen, daß sie den
räumlichen Kontext im Verhältnis zu ihrem Körper in erster
Orientierung wahrgenommen hat.
Plötzlich nimmt die Person in der unteren rechten Ecke des flächigen
Gegenstandes eine zerquetschte Schmetterlingsraupe wahr und geht los, um
sie zu entfernen. Dieser Reinigungsversuch scheitert. Die Schmetterlingsraupe
ist nicht als solche, sondern tatsächlich als aufgemaltes Zeichen vorhanden.
Solange, wie die Person davon ausging, daß es sich um eine reale Schmetterlingsraupe
handelte, kann nicht von einem Verstehen des Zeichens gesprochen werden
[s.S. 77]. Sie hatte zwar einen Begriff von Raupen, aber keinen vom
Bild; erst der gescheiterte Reinigungsversuch führt sie zu der Überzeugung,
daß eine aufgemalte, zerquetschte Schmetterlingsraupe vorliegt. Ohne
es sofort weiter auszuführen, möchte ich behaupten, daß
die Person schon vor dem Augenblick, in dem sie die Schmetterlingsraupe
als Zeichen interpretiert hatte, den visuellen Gehalt des gesamten Objekts
zur visuellen Information strukturiert hat. Erst der gescheiterte Reinigungsversuch
führte sie zu der Interpretation, daß die visuelle Information
als (Bild-)Zeichen zu verstehen ist.
Um den inhaltlichen Kontext der Raumsituation herzustellen, fragt die Person
einen Freund, warum auf der Schranktür ein Raupen-Zeichen ist. Daraufhin
entgegnet der Freund, daß es sich nicht um eine Schranktür handelt,
sondern der Gegenstand ein Bild ist. Diese Nachricht führt die Person
zu der Auffassung, daß der Gegenstand im Kontext des Raums als ein
Medium der visuellen Kommunikation zu verstehen ist, eben als ein Bild.
Mit der Identifikation des Mediums als Bild wird die erste semiotische Stufe
der visuellen Kommunikation erreicht. Obwohl zwar der visuelle Gehalt der
bildhaften Qualität als Zeichen strukturiert wurde, bleibt der Sachbezug
und die Bedeutung des Bildes in mancher Hinsicht unklar. Die Person beginnt
jedoch, die visuelle Information des Raupen-Zeichens auf weißem Flächenzeichen
zu deuten, woraufhin sie zu dem Ergebnis kommt, daß es sich um nichts
weiter als die Darstellung einer zerquetschten Schmetterlingsraupe auf annähernd
weißem Grund handelt. Insofern könnte die Bedeutung des Bildes
geklärt sein, womit auch die kommunikative Nachricht des Bildes verstanden
wäre. Wie es Bildern eigen ist, sind sie für Interpretationen
sehr offene Zeichen. Auch die Person bemerkt aufgrund des nicht alltäglichen,
optischen Aufbaus (Darstellungscode) des Bildes, daß es sich möglicherweise
um Kunst handelt. Motiviert von dieser Idee und aus Erfahrung mit ähnlichen
Raum- und Inhaltskontexten sucht die Person rechts unter dem Bild nach weiteren
Bedeutungshinweisen und liest: "Für Rémy Zaugg". Der
Fremde, dem das Bild gehört, kommt hinzu und erklärt: Der Künstler
Rémy Zaugg konzipiert seine fast weißen Bilder nicht selten
mit sich farblich kaum abhebenden Texten über das Sehen, und Sauerbier
hat dazu geschrieben: "Was ein Bild sei - die Frage stellt uns Zaugg
oft und oft" [Sauerbier 1991/36]. Aus diesem Anlaß, erläutert
der Fremde, malte er das beinah weiße Bild und fügte ein Raupen-Zeichen
hinzu, wodurch die Bedeutung des Zeichens und die Nachricht des Bildes erst
innerhalb des kommunikativen Kontextes der Kunst angemessen zu verstehen
sei.
Obwohl die Bedeutungen, die der Fremde mit seinem Bild anstrebt, hier nicht
weiter auszuführen sind, sollte ungefähr vorstellbar sein, wie
unterschiedliche Kontexte der Bedeutungsinterpretation auf Formen der visuellen
Kommunikation aufbauen. Bisher bleibt selbstverständlich ungeklärt,
wie die Begriffe Information, Nachricht, Wahrnehmung, visuelle Kommunikation,
Kommunikation, räumlicher und kommunikativer Kontext zueinander in
Verbindung stehen. Dies möchte ich im kommenden leisten.
Kommunikationsphänomene zwischen Menschen setzen Wahrnehmung voraus,
ansonsten wären psychische Systeme ohne Kontakt untereinander. Von
den Wahrnehmungsfähigkeiten eines Individuums hängt es ab, welche
visuellen Empfindungen zu Informationen über den Bildgegenstand verdichtet
werden. Ohne Wahrnehmung wäre Kommunikation nicht wirklich. Als Kommunikation
läßt sich die visuelle Informationsgewinnung eines Individuums
jedoch nicht beschreiben, weil dessen reine Wahrnehmung die kommunikative
Auffassung von Zeichen nicht versteht - das oben angeführte Beispiel
hat dies gezeigt. Die Betrachtung von Bildern baut in erster Linie auf einem
passiv-wahrnehmungsmäßigen Sehen auf, dem in einem zweiten, wenn
auch annähernd gleichzeitigen Schritt ein Denken hinzutritt, welches
das Gesehene normalerweise als Zeichen eines Kommunikationssystems versteht
und im aktiv-wahrnehmungsmäßigen Sehen die Suche nach weiteren
Informationen und Zeichen motiviert [s.S. 103 (passiv-aktiv)]. Und
dennoch, in Kulturen, die sich vom Animismus verabschiedet haben, kommuniziert
die Wirklichkeit und Weltgegenständlichkeit nicht mit wahrnehmenden
Betrachtern. Die gegenständliche Wahrnehmungswelt besitzt keine Sprache.
In der Lichtenergie ist kein kommunikativer Adressant verborgen, der uns
Sprachliches oder Zeichenhaftes mitteilt.
"Tiere und Menschen kommunizieren miteinander durch Schreie, Gesten,
Sprache, Bilder, Schrift und Fernsehen. Es ist hoffnungslos, Wahrnehmen
in der Terminologie dieser Kommunikationskanäle zu verstehen; es ist
genau umgekehrt. Worte und Bilder befördern Information; sie sind Träger
oder senden sie aus, doch die Information selbst liegt im Meer der Energie
um jeden von uns, in der Lichtenergie, der mechanischen oder chemischen
Energie, die aber selbst nicht befördert wird. Sie ist einfach da.
Die Ansicht, daß Information befördert und dann noch gespeichert
werden kann, ist der Kommunikationstheorie angemessen, nicht jedoch der
Wahrnehmungstheorie." [Gibson 1982/260]
Bilder verfügen daher über ein Potential von geordneten Informationen,
obwohl die Bilder nicht selbst die optischen Informationen beinhalten. Erst
unter den richtigen Bedingungen - z.B. im Lichtmedium - erlangt
ein Individuum visuelle Informationen, die es aus der vom Bild reflektierten
Energie strukturiert. In vorübergehender Dunkelheit wäre der Informationsträger
Bild zwar nicht außerhalb der Wirklichkeit, die optische Information
indessen schon. Deshalb ist Information in Hinblick auf die Wahrnehmung
eine aktuale, visuelle Konstruktion von Farbe und Form der Umwelt.
Man könnte meinen, es wäre möglich, sich die wahrgenommenen
Informationen zu merken, wenn das Licht bei der Bildbetrachtung verlöscht.
Was man sich aber allerhöchstens merken kann, ist erstens die Erfahrung,
wie es war, als man noch Informationen aus der Lichtenergie wahrgenommen
hat, d.h., man erinnert nicht die Information selbst, sondern eine Vorstellung
von dem, was sie bewirkte. (51) Und zweitens erinnert man sich beispielsweise
an die gemalte Raupe auf dem Bild. Diese Erinnerung an ein Zeichen mit Bedeutung
wäre aber bereits eine erinnerte Nachricht und darum nicht zurückblickende
Wahrnehmung, sondern erinnerte Kommunikation der Zeichen.
Um den Informationsbegriff der Wahrnehmungstheorie weiterhin verwenden zu
können, ist er von der Terminologie der Theorien zur Kommunikation
abzugrenzen. Die Trennung bezieht sich darauf, daß Informationen auf
das Prozessieren des psychischen Systems zurückzuführen sind.
Denn das Individuum ist außerstande, seine konstruierten Informationen
oder gar die Lichtenergie selbst kommunikativ vorzuweisen. Was es mitteilt,
sind zu Zeichen verdichtete Informationen. Deshalb ist Kommunikation mittels
Zeichen das Symptom von Bewußtsein und psychischer Information [s.S. 74].
Aus diesem Grund akzeptiere ich Luhmanns Formulierung: "Kein Bewußtsein
geht in Kommunikation auf und keine Kommunikation in einem Bewußtsein"
[Luhmann 1987/367]. Ähnlich betont Schütz: "Kommunikation
kann nur innerhalb der Wirklichkeit der Außenwelt stattfinden ..."
[Schütz 1971a/372]. Wenn allein die zu Zeichen verdichtete, psychische
Information mitteilbar ist, dann kann auch die Zeicheninterpretation des
Mitteilenden und Deutenden nie absolut identisch sein. Vielmehr prozessiert
jedes Bewußtsein seine aus Zeichen gewonnenen Nachrichten auf individuelle
Weise wieder als Information im Bewußtsein.
Als ein Symptom von Bewußtsein übermitteln Zeichen innerhalb
einer Kommunikationssituation eine »Nachricht«, welche sich
aus den interpretierten Bedeutungen der mitgeteilten Zeichen verstehen läßt.
Jede Kommunikation beruht darauf, daß eine Mitteilung zunächst
als Zeichen erkannt und nachfolgend so interpretiert wird, daß die
gemeinte Nachricht von einem weitgehenden Verstehen begleitet ist. Von Verstehen
zwischen Mitteilenden und Deutenden kann gesprochen werden, sobald für
beide ähnliche Annahmedifferenzierungen einer kommunikativen Encodierung
vorhanden sind. Verwenden sie stark divergierende Interpretationsschlüssel,
bleibt die Verstehenserwartung des Mitteilenden enttäuscht, wenn dieser
merkt, daß der Deutende nach Kriterien differenziert, die zu grob
abweichenden Interpretationen oder gar keinen Reaktionen führen. Verstehenserwartungen
des Mitteilenden können also auch erfüllt sein, obwohl der Deutende
der visuellen Kommunikation nur schwieg, weil er nichts wahrgenommen und
verstanden hat. Demnach impliziert Verstehen eine Rückmeldung, daß
der Adressat nicht nur visuelle Informationen differenziert wahrgenommen
hat, sondern auch erwartungsgemäß Nachricht interpretieren konnte.
Diesen sehr wichtigen Unterschied zwischen Information und Nachricht möchte
ich etwas genauer klären.
Unter Nachrichten verstehe ich Mitteilungen, die innerhalb der Kommunikation
als Zeichenbedeutung interpretiert werden. Aus der Wahrnehmungstheorie leitet
sich der Begriff »Information« ab, der sich auf vorzeichenhafte
Konstruktionen bezieht. Diese Abgrenzung geht auf einen Vorschlag von Georg
Klaus [vgl. 1968/276] zurück. Er bezeichnet den Austausch von Informationen
zwischen Menschen als Austausch von Nachrichten. Mit der Unterscheidung
zwischen Information und Nachricht läßt sich leicht erkennen,
warum Wahrnehmung keine Kommunikation sein kann. Denn infolge der Wahrnehmung
gewinnt ein Individuum Informationen aus energetischen Möglichkeiten
im Zusammenhang mit der Gegenstandsbedeutung; hingegen kommuniziert eine
Person, wenn sie Wahrnehmungen als mitgeteilte Zeichen interpretiert und
daraus Nachrichten erwirbt. Die Trennung konkretisiert die unterschiedliche
Ausrichtung des Wahrnehmungssystems und der an Nachrichten gebundenen kognitiven
Strukturen; ersteres zielt darauf ab, visuelle Information durch Prozesse
der fokalen Aufmerksamkeit im visuellen Feld zu erfassen. Zweiteres betrifft
die an Zeichen gebundenen, höheren geistigen Prozesse. In diesen Prozessen
werden einer Person die optischen Nachrichten auf der Grundlage von Zeichenbedeutungen
im sozialen Rahmen verständlich, indem sie sich ihnen gegenüber
kommunikativ verhalten kann. Die Trennung sieht wie folgt aus:
Nachrichten [Drittheit], im Sinne von »Danachrichten« oder »wonach
man sich richtet«, ereignen sich bei nicht-signifikanter und signifikanter
Kommunikation zwischen Menschen, wo sie auf der Basis von Zeichen mitgeteilt
bzw. ausgetauscht werden. Nachrichten sind also "... die im Prozeß
der zwischenmenschlichen Kommunikation auftretende Information" [Klaus
1968/437]. Mitgeteilte, bildliche Zeichen sind Träger von Nachrichten,
also die Träger von möglicher Zeichenbedeutung, nach der man sich
richtet. Die Bedeutungen von Nachrichten bestimmen sich aus Interpretationen
[Pragmatik] mitgeteilter Bilder und Zeichen in einer Kommunikationssituation
und einem Kommunikationskontext.
Informationen [Zweitheit] werden vom psychischen System aus den Sinnesdaten
der Außenwelt intern konstruiert. Aus Differenzerfahrungen konstruiert
das Individuum Informationen, die es im Bewußtsein vorkommunikativ
prozessiert und reduziert. Demnach repräsentieren Informationen nichts,
sondern sie werden visuell wahrgenommen oder eben nicht. Aufgrund der Wahrnehmung
von Bildgegenständen gewinnt das Individuum Informationen, die es -
zu Zeichen transformiert - als Mitteilung einer Nachricht versteht. In den
Peirceschen Kategorien heißt dies: das Individuum transformiert seine
informationelle Wirklichkeit [Zweitheit] in die Drittheit von Zeichen oder
- wenn man will - Begriffen.
Was diese Trennung für die Wahrnehmung von Bildern erbringt, erläutern
die folgenden sieben Punkte, die grundlegend für das nachfolgende Modell
zur visuellen Kommunikation sind.
1) Information ist von den Schemata im Wahrnehmungszyklus abhängig.
Visuelle Empfindungen können nicht dem Prozeß der Informationsaufnahme
zugeordnet werden, weil sie lediglich die Möglichkeit bieten, sich
Reizen der Umwelt mit dem Sinnesapparat auszuliefern [vgl. Gibson 1982/58].
Bilder befördern Informationen nur insofern, als sie unter entsprechenden
Verhältnissen Reize erzeugen, aus denen neurophysiologische Informationen
gewonnen werden. Die Informationen, die Menschen aus Bildern gewinnen, differieren
- einerseits, weil sie in individueller Abhängigkeit der Schemata im
Wahrnehmungszyklus [s.S. 95] stehen, und andererseits, weil die Wahrnehmungsverhältnisse
von Bildern selten absolut identisch sind.2) Informationen sind radikal
verschieden von Nachrichten.
Die unendliche Menge an Informationen, die für die Wahrnehmung von
Bildern zur Verfügung steht, bedingt eine hohe Komplexität der
Informationsaufnahme, die mittels der Kommunikation von Nachrichten uneinholbar
ist [hierzu Luhmann 1987/561; 1992/27]. Normalerweise umfaßt die visuelle
Information deshalb immer mehr, als für eine Disposition der Reaktionsfolge
oder differenzierten Kommunikation einer Nachricht notwendig wäre.
Die durch Bilder ermöglichten Informationen sind radikal verschieden
von Nachrichten, weil Wahrnehmung Informationen und Kommunikation Nachrichten
bietet [vgl. Gibson 1982/67].3) Informationen werden nicht mitgeteilt
Die Wahrnehmung ist nicht durch den Prozeß der Mitteilung von Informationen,
wie z.B. Nachrichten in der Kommunikation, gekennzeichnet. Bilder sind zwar
weiterhin Informationsträger, doch allein vermöge visueller Extraktion
aus dem Feld der Lichtenergie kann Information gewonnen werden. Die von
Bildern ausgehende optische Information bleibt von der einigermaßen
entsprechenden Wahrnehmung abhängig. In der Wahrnehmung werden Bilder
als Gegenstände erfahren, erst in der Kommunikationssituation werden
Bilder als Zeichen für Nachrichten verstanden.4) Informationsreichtum
übersteigt das Wahrnehmungsvermögen
Moles folgend, kann man annehmen, daß sich der Nachrichtengehalt eines
Bildes nach einiger Zeit erschöpft, während der Reichtum an möglichen
Informationen das Wahrnehmungsvermögen eines Betrachters übersteigt
[vgl. Moles 1971/217].5) Hohes Tempo der Informationsgewinnung
Die Wahrnehmung erreicht eine "annähernde Gleichzeitigkeit und
hohes Tempo des Prozessierens von Informationen ..." [Luhmann
1987/561]. Kommunikation von Nachrichten benötigt einen linearen oder
»sequentiellen Modus« der Verarbeitung.6) Schwach determinierter
Code von Informationen in BildernDie in Bildern wahrgenommenen Informationen
basieren auf einem schwach determinierten Code. Insofern sind Informationsprozesse
stochastisch, d.h., wie Max Bense schreibt, "Prozesse, in deren Ablauf
... Zufallsmomente eine Rolle spielen" [Bense 1971/100]. Daher ist
kaum vorherzusehen, welche Informationen ein Bildbetrachter wahrnehmen wird.
Kommunikation basiert auf einer stärker determinierten Anschlußfähigkeit
von Zeichen, die als unzufällige Nachrichten interpretiert werden.
Zufallsmomente - man könnte sie auch Innovationen nennen -
sind bei Nachrichten weniger grundlegend. Beispielsweise erkennt ein Betrachter
ein Bild als die indexikalische Nachricht »Bildzeichen«, wohingegen
er im Bild je nach Lichtverhältnissen unterschiedliche Informationen
wahrnimmt.7) Geringe Negierfähigkeit und Rechenschaftspflicht der Wahrnehmung
Im Vergleich zur Kommunikation verfügt Wahrnehmung über "... geringe
Negierfähigkeit und geringe Rechenschaftspflicht ...", da
ihre allein mutmaßlich "... hohe Sicherheit der Gemeinsamkeit
eines (wie immer diffusen) Informationsbesitzes" [Luhmann 1987/561]
eben nicht kommuniziert werden muß. Der "gemeinsame" Informationsbesitz
bleibt schemenhaft, weil intern konstruierte Informationen des psychischen
Systems nicht mitteilbar sind. Die unmitteilbare Wahrnehmungsinformation
ist gezwungen, privat zu bleiben. Es ist nämlich nicht das Unaussprechliche
dasjenige, was privat bleibt, sondern es bleibt nur dasjenige privat, was
anhand von Zeichen jeglicher Art nicht mitteilbar ist. Wenn man über
etwas nicht sprechen kann, muß man nicht schweigen, wie Wittgenstein
[vgl. 1990/Nr.7] schrieb, man kann oftmals ein schweigendes Bild davon zeigen,
obwohl die Bedeutung der Mitteilung vielfach ohne interpersonale Interpretation
bleibt. Moles [vgl. 1971/170] spricht in diesem Zusammenhang auch von Ȋsthetischer
Information«, die nicht in eine andere Codierung sprachlicher, logischer
(binärer) oder anderer Zeichen übersetzbar ist, weshalb sie als
persönliche Information andauert. Dieser siebte Punkt ist besonders
maßgebend für die Bilder der modernen Kunst und Musikvideos.
Sie erlauben dem Individuum ein freies Gefühl zur visuellen (ästhetischen)
Information, wodurch sich ihre Negierfähigkeit und Rechenschaftspflicht
stark verringert und sie sich kaum auf kommunikative Nachrichten reduzieren
lassen. Bildzeichen teilen zwar Nachrichten mit und treten somit im kulturellen
Sinne nie privat auf, aber sie verwirklichen in privater Weise vorkommunikativ
Wahrnehmbares.
Anhand der aufgezeigten Thesen ist leicht einzusehen, daß Kommunikation
nicht ohne Bewußtsein und Wahrnehmung in Gang kommen kann. Doch läßt
sich die rein wechselseitige Wahrnehmung von Individuen nicht in jedem Fall
als Kommunikation verstehen, sobald kraft ausschließlicher Wahrnehmung
Informationen und nicht Nachrichten gewonnen werden. Aus diesem Grund wäre
die bloße Wahrnehmung von Bildern keine Kommunikation, sondern eher
eine nicht zeichenhafte Interaktion, wenn man den Begriff der Interaktion
etwas dehnen mag. Damit ist gemeint, daß die Bildbetrachtungssituation
in Ausstellungen oder im Kino eine kulturintegrative Wirkungsbeziehung (52)
zwischen den Betrachtern und dem meist abwesenden Bildproduzenten stiftet.
Dieses Problem sei noch zurückgestellt, um sich vorerst der Kommunikation
zu widmen.
Die Antwort auf die Frage, warum Wahrnehmung keine Kommunikation ist, zeigt
die Struktur der Kommunikation. Kommunikation baut in zweiter Ordnung der
Zeichen auf der ersten Ordnung der visuellen Konstruktion in der Bildwahrnehmung
auf. Diese Trennung der Ordnungen bezieht sich auf den Begriff des vorkommunikativen
Bewußtseins [s.S. 66]. In Anlehnung an Bense’ [vgl. 1976/30]
Theorie entspringt die doppelte Ordnung aus dem Übergang von einer
Ontologie des wahrnehmenden Bewußtseins zur einer Semiotik des Bewußtsein,
dessen zeichengebrauchender Charakter hiermit angesprochen ist. Die erste
Ordnung konstituiert sich im wahrnehmenden Bewußtsein, welches vorkommunikativ
an sich bestehendes, als solches sinnvolles, abgeschlossenes Seiendes in
der Gegenstandsbedeutung erfaßt. Hier bildet ein Individuum das Wahrnehmungsmuster
aus, welches ihn beispielsweise eine gemalte Schmetterlingsraupe auf einem
Bild als flächigen Gegenstand wahrnehmen läßt. Um aber die
Raupe als Zeichen zu verstehen, ist für das Individuum die Informationsgewinnung
unzureichend. Das Individuum muß sich in die zweite Ordnung der zeichenvermittelten
Kommunikation begeben, damit es das Zeichen als Zeichen versteht und die
Bedeutung des Zeichens als Nachricht begreifen kann. Diese zweite Ordnung
hat Bense [vgl. 1976/30] die "zeichenthematische Auffassung des Bewußtseins"
genannt, die als ein Bewußtsein der Zeichen im Kommunikationsprozeß
zu betrachten ist.
Nachvollziehbar wird die Verbindung der ersten mit der zweiten Ordnung,
wenn man sich klar macht, daß ein Bild »etwas« ist und
dieses »Etwas« auf »etwas anderes« verweist. In
der ersten Ordnung wird das Zeichen vorkommunikativ als »etwas«
wahrgenommen oder, anders ausgedrückt, zu einer ersten informationellen
Ordnung im Wahrnehmungssystem strukturiert. In dieser Konstruktion der ersten
Ordnung verwirklichen wir visuelle Informationen ohne Kommunikation. Erst
in zweiter Ordnung oder doppelter Kontingenz (53),
also nachdem der Gegenstand als Zeichen erkannt wurde, versteht oder artikuliert
ein Individuum innerhalb der Kommunikationssituation ein Zeichen für
»etwas anderes«. Demnach bringt das Individuum eine doppelte
Kontingenz dadurch zum Ausdruck, daß es Farben und Formen als kommunikative
Zeichen, die sich auf »etwas anderes« beziehen, einsetzt und
versteht. Daß wahrgenommene Gegenstände mit Farben und Formen
als bildliche Zeichen aufzufassen sind, ist keine sinnliche, sondern eine
rationale Erkenntnis der Kommunikationssituation in zweiter Ordnung. Wenn
man sagt, "... man muß zuerst Wahrnehmen wahrnehmen, um
überhaupt von Wahrnehmung zu sprechen ..." [Förster
1989/31], dann hat man an sich selbst »etwas« wahrgenommen,
was mittels Zeichen artikuliert wurde. In der Kommunikationssituation passiert
Ähnliches. Denn nur Kommunikation hat die Möglichkeit zu artikulieren,
wie man Wahrnehmung wahrgenommen hat. Visuelle Kommunikation läßt
diesen Sprung in die zweite Ordnung dadurch erkennen, daß sie mittels
optischer Zeichen oder Bilder (in-)formiert, wie Wahrnehmung von »etwas«
wahrgenommen oder vorgestellt wurde. Um anzuzeigen, daß ein Bild nicht
einfach als irgendein Gegenstand aufzufassen ist, verwendet die visuelle
Kommunikation in zweiter Ordnung einen primären Darstellungscode, der
ankündigt, jetzt kommen kommunikative Bildzeichen und nicht etwa tapezierte
Gegenstände.
Bereits an dieser Stelle ist eine Problematik der fortgeschrittenen visuellen
Kommunikation anzumerken. Neuerdings konzeptualisieren nicht nur Menschen
Wahrnehmungen zu Zeichen zweiter Ordnung, sondern es formen auch Maschinen
optische Informationen zu Nachrichten. Dies hat Komplikationen zur Folge,
denn manchmal können wir in zweiter Ordnung nur schwer nachvollziehen,
wie die Maschine ihre Wahrnehmung erster Ordnung zu Zeichen zweiter Ordnung
encodiert. Wir kommunizieren nämlich nicht mehr nur noch darüber,
wie wir wahrgenommen haben, sondern wir kommunizieren oft mit Zeichen, die
ein Bildautomat aus Informationen geformt hat. Das Problem zeigt sich sehr
deutlich in der heutigen bildgebenden Diagnostik des medizinischen Bereichs.
Die medizinische Bilddiagnostik erzeugt offenbar eine Flut von bildlichen
Zeichen, die in ihrer Bedeutung nach Meinung eines Mediziners nur selten
vollständig verstanden werden kann [vgl. Geisler 1993/N4]. Dieses Beispiel
führt vor, daß, wenn bildliche Zeichen Symptome einer Maschine
anstatt Symptome eines Bewußtseins sind, und die Heilungsversuche
ausschließlich darin bestehen, die i n t e r p r e t i e r t e n
Krankheitszeichen vom Röntgenbild zu beseitigen, der Blick auf den
Menschen und den Körper verlorengeht. Die ehemals intime Beziehung
zum Menschen/Gegenstand übernimmt jetzt der Bildautomat. Der Vorteil
solcher Bilder liegt aber darin, deshalb verwendet man sie, daß etwas
zum Zeichen erhoben wird, was vorher keine Chance zum Zeichen (Symptom)
hatte, d.h., ein Tumor wird sichtbar, bevor er seine leibliche Referenz
im Schmerz bekommt. Mediziner, wie auch alle anderen Individuen variieren
ihr aus dem Denken motiviertes Handeln erst dann, wenn sie Zeichen für
die zu verändernde Sache kennen oder anerkennen, wodurch sich schließlich
auch ihr interpretiertes Weltverhältnis ändert. Daß aber
aus technisch erzeugten Bildern mehr unvollständig als vollständig
interpretierte Zeichen hervorgehen, scheint nicht nur ein Problem der Medizin
zu sein. Ebenfalls erstellt die Kulturindustrie visuelle Kommunikation maschinell,
ohne irgendein Bewußtsein maßgeblich daran zu beteiligen. Das
einzige, was bei solcher Zeichenproduktion sicher ist, bleibt die Feststellung,
daß es Zeichen sind, die aus dem Apparat kommen; was sie bedeuten
und wofür sie stehen bleibt dann eine andere, mitunter unbeantwortete
Frage für ein Individuum mit Begriffskonzepten.
Dieser kurze Exkurs zu einer speziellen Problematik erläutert noch
wenig davon, wie sich die Funktion visueller Kommunikation erfüllt.
Bildkommunikation übernimmt Funktionen, die keineswegs disfunktional
verfahren und nur aufgrund technischer Möglichkeiten stärker genutzt
und entwickelt werden als andere Kommunikationsmedien. Auch Bildkommunikation
repräsentiert eine zweite Ordnung der Zeichen, von denen Individuen
manchmal glauben, sie könnten aus realitätsgemäßen
Konzeptionen einer ersten Ordnung der Wahrnehmung resultieren. Um aber ein
Bild zu verstehen, müssen Betrachter notwendigerweise ihrerseits eine
erste Ordnung am Bild wahrnehmen und diese Wahrnehmung als Zeichen verstehen
("wahrnehmen"). Bisher unbenannt, doch für Kommunikationssituation
unentbehrlich, muß auch der Mitteilende beachtet werden. Der Mitteilende
oder Adressant nutzt nämlich in gleicher Weise die doppelte Ordnung,
aber anstatt eines primären Erkennungscodes der Zeichen, verwendet
er einen primären Darstellungscode, (54)
mittels dem er Informationen im Medium so encodiert, daß sie sich
gleich als zweite Ordnung der Zeichen zu erkennen geben und als Nachricht
interpretiert werden. Um sich visueller Kommunikation anzunähern, stelle
ich vorerst Kommunikation in allgemeiner Erscheinung dar.
Seitdem Watzlawick [vgl. 1969/50] und Luhmann [vgl. 1987/562] betonen, daß
man in interaktionistischen Situationen nicht nicht kommunizieren kann,
ist es trotzdem unübersichtlich geworden, was als Kommunikation gelten
kann. Um die Auffassung auszuschließen, daß die natürliche
Welt etwas kommunizieren würde, bezieht sich der erste Schnitt darauf,
daß wir die natürliche Welt in Begriffen und Zeichen interpretieren.
Interpretationen von Naturphänomenen sind für uns keine Kommunikation,
sofern in unserer säkularisierten Kultur der Mitteilende, also der
göttliche oder mythische Adressant, sein Dasein verloren hat. Himmel
und Erde schweigen ohne den vom Menschen in-augurierten Adressanten. In
einem weiteren Schnitt trennen sich Wahrnehmung und körperliches Handeln
von Kommunikation dadurch, daß wir erst in letzterer, also zweiter
Ordnung, Zeichen mitteilen und verstehen können. Wahrnehmungen und
körperliche Primärhandlungen ereignen sich auch ohne Kommunikation.
Jedes körperliche Handeln und Verhalten eines anderen kann zwar als
Kommunikation interpretiert werden, dies aber erst dann, wenn wir es als
Zeichen einer menschlichen Mitteilung auffassen. Im übertriebenen Sinne
wäre Kommunikation mit sich selbst zwar scheinbar möglich, z.B.
wenn ein Maler seine Bildsegmentierungen daraufhin untersucht, was sie ihm
mitteilen; die eigentliche Kommunikationssituation basiert jedoch darauf,
daß zwei menschliche Interaktionspartner ihre Reaktionen als wechselseitige
Mitteilungen von Zeichen verstehen. Demnach kann nur dann nicht nicht kommuniziert
werden, wenn zumindest ein Deutender das Auftreten eines Mitteilenden als
Zeichen interpretiert. Sobald irgend etwas zwar visuell wahrgenommen, aber
nicht als Zeichen für etwas anderes inauguriert wird, ist Kommunikation
abwesend. Deshalb beginnt Kommunikation dort, wo die Syntaktik so weit erlernt
wurde, daß zumindest ein Zeichen als Zeichen wiedererkannt wird, auch
wenn noch unbekannt ist, wie die kulturelle Semantik interpretiert und verstanden
werden soll.
Demnach basiert menschliche Kommunikation in sehr allgemeinem Sinne darauf,
daß sie als ein Prozeß des Austausches von Zeichen zwischen
einem Mitteilenden und einem Deutenden wechselseitig als Nachricht verstanden
wird. Weil der Gegenstand Bild in seiner realen Wirksamkeit auch ohne symbolisches
Verstehen auskommen kann, soll schon jetzt ein Kommunikationsbegriff eingeführt
werden, der auch den gegenständlichen Erfahrungsaspekt von Bildern
einbezieht. Denn im »Wie« der Darstellungsform, also in der
Syntaktik, präsentieren Bilder bereits einen Index, der den Deutenden
darauf hinweist, »wie« er ein Bild als ein solches zu verstehen
hat; das »Wie« der Darstellungsform indiziert hier, wie eine
visuell kommunikative Beobachtung beobachtet werden soll. In diesem »Wie«
der Darstellungsform wirken Bilder in zahlreichen Nuancen auf die Subjektivität
eines Betrachters ein; dieser erfährt eine Eigenkommunikation, ohne
das inhaltliche »Was« im Bild schon verstanden zu haben (gleichfalls
ist oft unklar und auch nebensächlich, was Musik bezeichnet). Das ikonische
»Was« präskribiert die Formen des »Wie« nur
mäßig, da diese vorab metakommunikative Botschaften transportieren.
Nach Watzlawick [vgl. 1969/53] lassen sich die beiden folgenden Verständigungsmechanismen
der Kommunikation unterscheiden: im »Wie« der Kommunikation
verständigt man sich im "Beziehungsaspekt", wohingegen man
sich im »Was« der Kommunikation über den "Inhaltsaspekt"
verständigt. Beide Aspekte kommunizieren zwar etwas, aber ersterer
kommuniziert eine indexikalische Ausdrucks-Beziehung (55)
innerhalb des Kommunikationskontextes von Darstellungsformen, während
letzterer Inhalte über etwas anderes im Interpretanten und Objektbezug
vermittelt.
Beispielsweise indiziert der syntaktische Darstellungscode von Comics im
Beziehungsaspekt Scherzhaftigkeit, obwohl der interpretierte Inhaltsaspekt
im ikonischen Objektbezug einen ernstzunehmenden Despoten zeigt. Manche
künstlerischen Kompositionen verzichten sogar auf einen ikonischen
Inhalt, um den Beziehungsaspekt der Formen stärker in den Vordergrund
treten zu lassen. Neuerdings, im Zuge nomineller Ästhetisierung und
Inhaltslosigkeit, lassen einzelne sogar den Inhalt einer Schrift nahezu
unbeachtet, indessen sie sich dem indizierten Beziehungsaspekt des Schriftbildes
mit größter Konzentration widmen. Ohne bereits jetzt die beiden
Auffassungsmodi auszudeuten, sind sie dennoch für visuelle Kommunikation
unverzichtbar. So wie der Ton in der Sprache die Musik macht, so teilen
die Formwahl und der Farbton einen Teil der form-semantischen Beziehungsaspekte
mit, über die die semantisch-pragmatische Kommunikation im Inhaltsaspekt
schweigt. Beide Blickwinkel der Kommunikation verdeutlichen:
"Unter Humankommunikation soll ... weder die Nachricht selbst noch
die Übersendung der Nachricht, sondern explizit die 'Verständigung',
die vollzogene Bedeutungsvermittlung, gemeint sein." [Reimann 1968/75]
"Kommunikation ist derjenige Aspekt einer Interaktion, der den gemeinten
Sinn [und die Bedeutung] einer sozialen Handlung verständlich macht."
[Reimann 1968/74]
Insbesondere die zweite Definition geht darauf ein, daß die Präsenz
von sozialen Handlungen und Bildern ihren Sinn keineswegs allein darin findet,
etwas Abwesendes zu repräsentieren. Jede Kommunikation ist mit einem
interaktiven Beziehungsaspekt ohne symbolischen Charakter [s.S. 205]
verbunden, was in diesem Kapitel vielfach unausgesprochen im Begriff der
Kommunikation mitläuft. Kommunikation erfordert neben der Aktion des
Adressanten auch eine Reaktion des Adressaten, die als Annahmebestätigung
eines Zeichens vorab gelten kann, obwohl das Symbolische des Zeichens möglicherweise
unverstanden ist. Bei hoher Bildvertrautheit kann die Annahmebestätigung
sogar weitgehend ausbleiben, wenn allein inhaltliche Merkmale/Sequenzen
eine Reaktion bewirken [vgl. Scherer 1979/15]. Momentan ist erforderlich,
eine übermittelte Mitteilung dann als gelungene Kommunikation zu betrachten,
wenn sie vom Deutenden als Zeichen für eine Nachricht wahrgenommen
und in Bedeutungen verstanden wurde. Kommunikation überträgt keine
Bedeutung, sie teilt Zeichen mit, die in Bedeutungen interpretiert werden,
um eine Nachricht zu verstehen. Welche Bedingungen für eine kommunikative
Vermittlung auf visuellem Wege erfüllt sein müssen, zeigen die
folgenden sieben Aspekte.
Erstens bedarf Wahrnehmung in erster Ordnung eines Mediums. Für Bildgegenstände
ist der energetische Zustand des Mediums lichtreflektierend und präsentiert
sich kulturgemäß als ein zweidimensional wirkender, flächiger
und farbiger Gegenstand. Das Medium wird allerdings erst durch die Form
und Farbe sichtbar, ohne Form oder wahrnehmbare Differenz ist jedes Medium
unsichtbar. Ebenfalls ist Form nicht ohne Farbe und Farbe nicht ohne Form
sichtbar. Jede Farbe hat demnach eine Ausdehnung und jede für uns sichtbare
Form eine Farbe.
Zweitens muß die dargebotene Encodierung von Informationen in Form
und Farbe ungefähr den Wahrnehmungsschemata des Deutenden entsprechen,
damit die vom Bild ausgehenden optischen Informationen schnell zu Zeichen
strukturiert werden können. Die Encodierung und die decodierende Wahrnehmung
stehen innerhalb der ersten Ordnung, denn einerseits werden encodierte Informationen
dargeboten, und andererseits werden diese encodierten Informationen wieder
durch die Wahrnehmungsschemata eines Individuums decodiert. Aller Bildkontakt
des Wahrnehmenden beinhaltet somit strukturierte Decodierung, wenn visuelle
Kommunikation zweiter Ordnung erfolgen soll.
Drittens setzt Kommunikation voraus, daß der Mitteilende und der Deutende
über Verwandtschaftsgrade in der Zeichenkompetenz verfügen, wenn
Zeichen als Nachricht verstanden werden sollen. So wie Licht das unsichtbare
Medium für Wahrnehmung ist, so stellen materielle Zeichenmittel das
vorkommunikative Medium für Kommunikation dar. Kommunikation benötigt
deshalb verwandte Interpretationen [Drittheit] des materiellen Zeichenmediums
[Zweitheit]. Denn in zweiter Ordnung der Kommunikationssituation sind die
individuellen Interpretationen "... bis ins einzelne durch die
biographische Situation und die ihr entspringenden Relevanzsysteme bestimmt"
[Schütz 1971a/373]. Sobald die Unterschiede zwischen den Relevanzsystemen,
für Bilder besser zwischen "Relevanzstrukturen" [Berger u.
Luckmann 1980/47], des Deutenden und Mitteilenden stark anwachsen, verringert
sich die Möglichkeit einer erfolgreichen Kommunikation von Nachrichten
deutlich. Eine vollständige Übereinstimmung der individuellen
Relevanzstrukturen existiert niemals. Beispielsweise zeigen die Bilder der
neueren Kunst beträchtliche Diskrepanzen zwischen den voneinander isolierten
Relevanzstrukturen des Künstlers und des Betrachters. Die angeführte
medizinische Bilddiagnostik kämpft mit ähnlichen Relevanzproblemen.
Viertens bestimmten sich kommunikative Beziehungen durch mindestens zwei
Partner, "... von denen jeweils mindestens einer über Sendeeinrichtungen
und der andere über Einrichtungen zum Empfang verfügt" [Hund
1974/19]. Der heutzutage (56)
größte Teil der visuellen Kommunikation geht von einer einseitigen
und nicht von einer wechselseitigen, dialogischen Beziehung aus, d.h., anders
als beispielsweise bei verbaler Kommunikation tauschen die Kommunikationspartner
bei visueller Kommunikation die optischen Zeichen vorwiegend monologisch
aus [hierzu Wersig 1985/45]. Bisher antwortete nur selten jemand auf ein
Bild mit einem Bild. Wenn auf ein solches kommunikative Reaktionen folgen,
dann wird in der Regel das Medium Sprache oder "stillschweigende"
Gestik genutzt. Die moderne Einseitigkeit der visuellen Kommunikation beinhaltet
außerdem, daß künstlerische und televisionäre Bildproduzenten
sich sozialer Ko-Orientierung am Bildrezipienten entziehen, was die Möglichkeit
von Fehlinterpretationen und Fehldecodierungen beträchtlich erhöht.
Die Analyse von Einschaltquoten behebt diesen Mangel und dieses Risiko sicher
nicht.
Der fünfte Punkt berührt ein Phänomen, welches in vielen
Kommunikationstheorien - vermutlich im Anschluß an das Kommunikationsmodell
von C.E. Shannon u. W. Weaver [vgl. Nöth 1985/129] - als Stör-
oder Rauschquelle beschrieben wird. Es ist nicht zu verleugnen, daß
die visuelle Kommunikation durch Störfaktoren, wie etwa Lichtmangel,
Bildverzerrungen oder sonstige Informationsnebel, beeinträchtigt werden
kann. Im Verhältnis zu den von außen hinzukommenden Störungen
der Kommunikation sind die im Umgang mit der visuellen Kommunikation einsetzenden,
zeitweilig störenden Innovationen wesentlich bedeutsamer. Innovation
meint in diesem Zusammenhang eine Information/Nachricht, die sich von allen
anderen unterscheidet [hierzu Reimann 1968/103]. Beispielsweise unterbrechen
sehr innovative Farb- und Formgestaltungen bei Bildern der Kunst die stimmige
Informationsgewinnung. Ebenfalls unterbinden ungewohnte Zeichen oder Zeichenkombinationen
aussichtsreiche Nachrichtenvermittlung. Aus diesen Gründen führt
eine Zunahme an Innovationen in erster oder zweiter Ordnung zu abnehmenden
Verknüpfungsmöglichkeiten mit den Wahrnehmungsschemata oder den
Zeicheninterpretationen eines Individuums. Extreme Innovationen verhindern
Kommunikation.
Innovationen bei visueller Kommunikation beinhalten manche Besonderheit.
In der Wahrnehmung tritt die Information nicht wiederkehrend als dieselbe
auf, d.h., im eigentlichen Sinne ist jede Wahrnehmung unentwegt schöpferisch.
Im weiteren fungiert die innovative oder kreative Originalität innerhalb
visueller Kommunikationsmedien geradezu als Voraussetzung, weil sie Aufmerksamkeit
erregt. Aus diesem Grund steht die optische Innovation in einem proportional
ansteigenden Verhältnis von erweckter Aufmerksamkeit und möglichem
Unverständnis. So trifft bei dem ungewöhnlichsten Bild vielfach
die größte Aufmerksamkeit mit dem größten Unverständnis
zusammen.
Sechstens ist der von der allgemeinen Kommunikationstheorie formulierte
Punkt der Redundanz zu nennen. Redundanz liegt nach Klaus dann vor, "... wenn
durch Verwendung eines geeigneten Codes eine Kürzung der Information
(z.B. einer Zeichenfolge) möglich ist, ohne daß Informationsverlust
eintritt ..." [Klaus 1968/515; vgl. Hund 1977/21]. Gombrich [vgl.
1984/139] hebt hervor, daß beispielsweise in einem Hundebild, welches
mittels der Mosaiktechnik dargestellt wurde, tatsächlich einzelne Steinchen
wegfallen könnten und der Hund trotzdem erkennbar wäre. Dies stimmt,
wenn einzelne Bildpunkte verhältnismäßig redundant oder
überflüssig für die Erkennung von Nachrichten sind. Bezüglich
der optischen Information ist dem jedoch zu entgegnen, daß bei Hundebildern
aus weniger Mosaiksteinchen der Abstraktionsgrad ansteigt, und demzufolge
das Bild informationell ein ganz anderes geworden ist. Diese Veränderung
der möglichen Information ist genauso Luhmann zu entgegnen, wenn er
"Kunstwerke ... als willkürliche Erzeugung ... hoher Redundanz"
[Luhmann 1992/437] versteht. In bezug auf ikonische Bildinformationen macht
es wenig Sinn, von Redundanz zu sprechen. Die zunehmende Abstraktheit eines
Bildes ist nicht als Unvollständigkeit oder Kürzung von Informationen
einzuschätzen, sondern kommt in erster Linie einem bewußten Stilmittel
gleich. Außerdem entspricht Mehrdeutigkeit von bildlichen Nachrichten
nicht abnehmender Redundanz, die infolge einer Eliminierung von Zeichen
eintritt. Im weiteren bleibt es für die visuelle Vorstellungskraft
und für das Wahrnehmungssystem, wenn es sich nicht um zu überbrückende
»Scheinlinien« oder »Scheinkanten« handelt, so gut
wie unmöglich, während der Wahrnehmung, "... die fehlenden
Einzelheiten [Zeichenmittel] selbst beizusteuern und dadurch das Bild realistisch
zu komplettieren" [Arnheim 1972/136, vgl. zu "Scheinkanten"
Braun 1993/109ff.].
Wie im vorherigen Punkt betont, tritt Redundanz nicht bei mehrfacher Betrachtung
des gleichen Bildes auf, weil wiederholte Wahrnehmung jeweils neue Aspekte
bietet. Was uninteressant und banal werden kann, ist die Redundanz der kommunizierten
Nachricht eines häufig betrachteten Bildes, besonders wenn es sich
um kein künstlerisches Bild handelt. Bei der bewußt massiven
Wiederholung von z.B. Werbebildern gehört die Redundanz der Nachricht
zur Zielvorstellung. Die starke Redundanz der Werbe-Nachricht schreibt sich
in das Gedächtnis der Zielgruppe ein, weil sich die Zielgruppe zeitweise
den eben nicht redundanten Wahrnehmungs- und Bilderlebnissen entziehen will,
gleichwohl sie das Bild schon tausendmal gesehen hat [hierzu Moles 1971/165ff.;
Nöth 1975/50]. Offenkundig funktioniert Kommunikation bei größter
Redundanz der Nachricht am geradlinigsten.
Der letzte, siebte Punkt greift eine Bedingung der visuellen Kommunikation
auf, die ich als »Handeln gegenüber einem kulturellen Gegenstand«
bezeichne. Das menschliche Verhalten gegenüber dem kulturellen Gegenstand
Bild soll als ein Handeln definiert sein, welches "... unabhängig
davon, ob es äußerliches oder innerliches Tun, Unterlassen oder
Dulden ist, von den Handelnden mit einem subjektiven Sinn verbunden ist"
[Reimann 1968/32]. Das einfache Wahrnehmungshandeln eines Menschen bezüglich
eines Bildes kann deshalb nicht als »soziales Handeln« beschrieben
werden, weil dieses nicht an zwischenmenschlichen Beziehungen oder an Sinnstrukturen
eines anderen orientiert und interessiert ist, sondern an dem Gegenstand
selbst. Als ein informativer Erfahrungsgegenstand ermöglicht der kulturelle
Gegenstand Bild eine Wahrnehmungshandlung, die nicht zwingend einen sozialen
oder kommunikativen Sachverhalt einbezieht.
Das Wahrnehmungshandeln gegenüber dem kulturellen Gegenstand Bild bildet
die Grundlage der Kommunikation. Mit ihm stellt sich ein "konsensueller
Bereich" (57)
her, den Individuen erlernen, indem sie im Wahrnehmungszyklus die Wahrnehmung
an kulturellen Bildgegenständen direkt ausbilden. Insofern die Individuen
einer sozialen Gruppe aufgrund ihrer Wahrnehmungserfahrungen kennengelernt
haben, wie ihr Kommunikationsmedium beschaffen ist, befinden sie sich im
kommunikativ bestätigbaren Konsens über die strukturelle Kopplung
ihrer Wahrnehmungssysteme mit dem Kommunikationsmedium Bild. "Einer
Kultur anzugehören heißt [auch im Fall der Bilder], eine bestimmte
Welt der Faktizität mit anderen zu teilen" [Berger 1988/12]. Ein
Bildproduzent kann daher darauf bauen, daß andere Mitglieder seiner
Gesellschaft aus Erfahrung mit Bildern vergleichbare visuelle Informationen
gewinnen wie er selbst. Ein wichtiger Anhaltspunkt besteht darin, daß
der Bildproduzent und der Bildrezipient durch Wahrnehmung einen Zustand
der Gemeinsamkeit verwirklichen, der zwar mit Hilfe von Kommunikation bestätigt
werden kann, jedoch durch diese nicht allein verursacht wird.
Nachdem die Bedingungen der visuellen Kommunikation grob umrissen sind,
möchte ich, noch bevor das gleich aufzuzeigende Modell [s.S. 120]
konkretisiert wird, kurz auf dessen idealisierte Annahmen eingehen. In der
massenmedialen Bildübermittlung erreicht die optische Information den
Bildbetrachter üblicherweise in Begleitung eines sprachlichen Kommentars.
Obwohl dieser Sachverhalt noch behandelt wird, ist darauf hinzuweisen, daß
Sprache die Encodierung und Decodierung von optischen Informationen stark
beeinflußt [hierzu Zimmer 1983/25]. In gewissem Sinne müßte
deshalb in dem folgenden Modell von dem Feld »Interpretationsschemata
des Deutenden« ein Pfeil zurück zum Wahrnehmungs- »Handeln
gegenüber dem kulturellen Gegenstand Bild« führen, da von
ersterem aus ein großer Teil der Suche nach Informationen sprachlich
motiviert wird. Dieser Sachverhalt wurde mit dem aktiv-wahrnehmungsmäßigen
Sehen angedeutet [s.S. 103]. Ebenfalls spielt der räumliche und
kommunikative Kontext, in dem eine Bildübermittlung realisiert wird,
eine erhebliche Rolle für die En- und Decodierung, wie auch für
die Interpretationen des Mitteilenden und Deutenden. Zum Zweck der Vereinfachung
werden die soeben genannten Einflüsse nicht in aller Konsequenz ausgeleuchtet,
weshalb sie im folgenden Modell zur visuellen Kommunikation unbeachtet bleiben.
Um das vereinfachte Modell zur visuellen Kommunikationtc \l5 "Modell
zur visuellen Kommunikation zu verdeutlichen, beginne ich dort, wo die Motivation
für eine Mitteilungshandlung aufkommt, d.h. beim Mitteilenden. Der
Mitteilende, sofern er feste Kommunikationsabsichten hat, bedient sich solcher
interpretierten Zeichen, von denen er erwartet, daß sie mit dem interpretierten
Zeichenrepertoire des Zeichenrezipienten ungefähr übereinstimmen,
damit die visuelle Kommunikation Erfolg verspricht. Was aber ist ein Zeichenrepertoire?
Die kulturelle Fundstätte der Zeichen, das Zeichenrepertoire, ist für
Bilder nicht so problemlos im Additionsverfahren zu konsolidieren, wie etwa
für die verbale Sprache, deren Zeichenschatz nach Lewandowski [vgl.
1975/819] z.B. für die deutsche Sprache auf drei- bis fünfhunderttausend
Zeichen kontingentiert ist. Bilder widersetzen sich eines summativen Vokabulars.
Sogar ein einziger Gegenstand läßt sich mit 400 000 unterschiedlichen
ikonischen Anschauungskonzepten kartographieren, wie es demnächst die
Raumsonde "Clementine", die den Mond fotografieren soll, vorführen
wird. Nach einem Vorschlag von Sauerbier [vgl. 1985/177] grenzt sich die
Zeichenmenge etwas ein, wenn auf die Definition des Codes zurückgegriffen
wird. Unter einem Code wurden relational invariante Informations- und Zeichenstrukturen
verstanden, die einer Klasse von Zeichen zugeschrieben werden, wenn sie
verhältnismäßig regelhafte Zuordnungsvorschriften erkennen
lassen [s.S. 14]. Das Zeichenrepertoire definiert somit die Menge von
bildlichen Zeichen, die einem konventionalisierten Code folgen. Durch jede,
wenn auch nur wenig innovative, Bildgestaltung vergrößert sich
das Zeichenrepertoire, der Darstellungscode verändert sich jedoch selten.
Das Zeichenrepertoire (58)
limitiert zwar die verfügbaren Zeichen und Codes eines Bildproduzenten,
aber es legt nicht die Realisation des Bildes eindeutig fest. Denn der Mitteilende
muß sein Zeichenrepertoire durch seine eigenen Interpretationsschemata
für Zeichenbedeutungen innerhalb einer Situation als Nachricht aktual
realisieren. Die »Interpretationsschemata des Mitteilenden«
basieren deshalb auf interpretierten Zeichen, die er aus dem ihm bekannten
Zeichenrepertoire schöpft. Trotz des Repertoires stützt sich die
Bildrealisation größtenteils auf Innovationen der Zeichen-Kombinationen
und -Gestaltungen, weil ein Bildproduzent vorwiegend den Code und weniger
das Repertoire umsetzt. Mit dem von Habermas verwendeten Begriff der »kommunikativen
Kompetenz«, der die pragmatische Zeichenaktualisierung impliziert,
sind Bilder wie folgt zu unterscheiden: die bildbezogene Zeichen-Kompetenz
besteht darin, die regelhaften Zuordnungs- und Gestaltungsinvarianten, also
die Codes zu erfassen; sobald jedoch die konkreten Zeichenexemplare in der
Kommunikationssituation vom Produzenten aktualisiert werden, betrifft dies
die Zeichen-Performanz [vgl. Habermas 1971/101ff.; Apel 1988/264ff.; Grewendorf
1989/31]. Beispielsweise gibt es tausenderlei Weisen, ein Strichmännchen
zu zeichnen und zu deuten. Das Strichmännchen-Repertoire in Bedeutung
und Gestaltungsvorschrift ist daher überaus umfangreich. Sobald daher
die Situation auftaucht, in der der Bildproduzent seine Zeichenperformanz
aufzeigen soll, wird er vorwiegend den optischen Darstellungscode eines
Strichmännchens und nicht ein Strichmännchen aus seinem Repertoire
aktualisieren, weil er es kaum schaffen wird, genau das gleiche Strichmännchen
zu verwirklichen. Aus diesem Grund ist das Zeichenrepertoire für den
Mitteilenden - in bezug auf Bilder - eine lose, aber als Code
verstandene Zeichenperformanz. Indem der Mitteilende seine Interpretation
des Repertoires als optische Nachricht mittels codierter Zeichenexemplare
umsetzt, tritt er in die visuelle Kommunikation ein. Die Aktualisierung
von optisch codierten Zeichen wird dadurch als konkrete Verarbeitung einer
motivierten Nachricht für jemanden wahrnehmbar und verstehbar. Um die
Erwartung des Verstehens anderer zu steigern, verwendet der Mitteilende
von ihm selbst interpretierte Zeichen eines kulturellen Zeichencodes bzw.
-repertoires zweiter Ordnung. Eine Sonderstellung nehmen künstlerische
oder sehr naive Bildproduzenten ein. Sie ahnen vielfach vor Abschluß
des Bildes nicht, wie sie ihre Zeichen interpretieren werden, da sie experimentelle
Codes kreieren.
Nachdem schließlich der Mitteilende eine zeichenhafte Vorstellung
[Drittheit] von dem entwickelt hat, was er durch ein optisches Medium mitteilen
möchte, wird er das Medium entsprechend der angestrebten Nachricht
und expressiven Wirkung von Farbe und Form gestalten. Die Encodierung betrifft
die erste Ordnung. In dieser wird ein primärer Darstellungscode von
Farbe und Form im materiellen Medium realisiert. Die Gestaltung bringt ein
körperliches »Handeln gegenüber dem Bildmedium« mit
sich, indem beispielsweise der Mitteilende mit einem Bleistift ein Blatt
Papier nach Vorschrift des Darstellungscodes bemalt oder mit einem Fotoapparat
nach Vorschrift des automatischen Darstellungscodes lichtempfindliches Fotomaterial
bearbeitet. Die Encodierung von Informationen in einem Medium ist mehr oder
weniger mit Innovationen verbunden, da selten optisch vollständig gleiche
Bilder erstellbar sind. Das Handeln an sich steht zwischen der ersten und
zweiten Ordnung, weil es dem Medium gegenüber nicht als Kommunikation
aufzufassen ist, anderen Personen gegenüber aber durchaus, wenn diese
die Handlung der Zeichenerzeugung eigenmächtig als (An-)Zeichen interpretieren.
Im günstigen Fall ist das Ergebnis des Handelns ein bearbeitetes Medium,
das aufgrund seines eingezeichneten Darstellungscodes wahrnehmbare Informationen
erkennen läßt. Bei eindeutig kommunikativer Absicht encodiert
der Mitteilende die Informationen derart, daß sie sich als menschliche
Zeichen zweiter Ordnung zu erkennen geben und als Nachricht kommunikativen
Anschluß finden. Dieses kommunikative Handeln hebt sich vom sonstigen
Handeln ab, indem sich hier "Aktion zu Interaktion [mausert]"
[Engler 1992/111].
Die reine Herstellung einer ersten Ordnung, z.B. Grundieren einer Leinwand,
ist keine visuelle Kommunikation, solange die weiße Farbe nicht als
konkretes (59)
Zeichen gemeint ist. Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn ein Interpret
die Grundierung als bildliches Zeichen oder als Zeichen des vollzogenen
Arbeitsprozesses deutet. (60)
Was aus dem Handeln in kommunikativer Absicht entsteht, sind spezifisch
geordnete Informationen, die von einem Medium getragen eine zweite Ordnung
der menschlichen Zeichen verwirklichen, z.B. Ölgemälde oder Fotografien
von »etwas«. Eine Ausnahmestellung nehmen die konkrete und die
informelle Malerei, ebenso wie das Rauschen des Fernsehbildes, ein. Diese
Bilder, die als Bilder Bedeutung erhalten, schweigen sich über weitere
Zeichenbedeutungen absichtlich aus. Schweigen unterschreitet hier die Kommunikation
in solcher Bilderfahrung, die sich selbst in kommunikativer Sendepause genügt,
wodurch jene Bilder als kommunikative Zeichen für Schweigen verstehbar,
aber vor allem erfahrbar bleiben. In wirklicher, vielleicht kontemplativer
oder meditativer Bilderfahrung fungiert Schweigen als Zeichen einer Kommunikationspraxis,
in der jedes weitere Zeichen und das Zeichen des Schweigens für den
Betrachter keine Zeichenbedeutung erreichen.
Das encodierte Medium, also der Gegenstand Bild als Zeichen, taucht nach
dem Prozeß der Herstellung in zahlreichen Kontexten des Raumes und
der Zeit als Mitteilung auf. Die mediale Bildübermittlung benötigt
Räumlichkeit. Im technischen Sinne, z.B. des Fernsehens, überträgt
die mediale Übermittlung elektromagnetische Wellen zwischen einem (Bild-)Sender
und einem (Bild-)Empfänger. Da Menschen elektromagnetische Wellen (d.h.
auch Licht) nicht als Kommunikation ausstrahlen und verstehen, sind sie
keine Sender oder Empfänger, sondern Mitteilende und Deutende (Rezipienten)
von Bildern.
Ohne Raum wäre die Körperlichkeit des Betrachters unmöglich.
Die massenmediale Bildübermittlung hat allerdings die Körperlichkeit
des Betrachters so stark reduziert, wie es ehemals nur von privat zu erfahrenden
Andachts- oder Meditationsbildern bekannt war. Aber selbst die reduzierte
Körperlichkeit verharrt im Raum. Eine echte Aufhebung der Dichotomisierung
von Körper/Raum und Bewußtsein erreichen nur virtuelle Welten,
weshalb Cyberspace [s.S. 78] keineswegs zur Bildkommunikation wird.
Sobald das Bild den Raum (61)
vollständig einnimmt, verschwindet das Bild.
Raum und Zeit bestimmen neben anderen Faktoren die situativen Kontexte,
in denen das Bild wahrgenommen und verstanden wird. In der Zeit schnell
wechselnde Bilder, wie im Kino, ermöglichen eine ganz andere Informationsgewinnung
als unbewegte Bilder. Ohne Zeitspannen (62)
wären Bilder nicht wahrnehmbar. Unter dem Zeitaspekt ist ebenso das
Überdauern von Bildern über Jahrhunderte zu bedenken. Diese Bilder
sind aufgrund der veränderten Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata
heutzutage nicht mehr genauso selbstverständlich wahrnehmbar und interpretierbar,
wie es zu jener Zeit intendiert war. Alte Fotografien und Filme wirken bereits
nach hundert Jahren aufgrund des optischen Darstellungscodes recht ungewöhnlich
und unrealistisch, für manche sogar lächerlich. Ebenso wie die
Sprache unterliegt auch die bildbezogene Wahrnehmung und Interpretation
einem ständigen kulturellen Wandel. Den wahrnehmungspsychologischen
Zeitaspekt betreffen zeichenwirksame Zeitspannen der Decodierung [erste
Ordnung], und den historischen Zeitaspekt berühren zeichenwirksame
Zeitspannen der Kommunikation (Interpretation) von bildlichen Zeichen [zweite
Ordnung].
Der Raum wirkt beispielsweise auf ein Ölgemälde ein, weil es unter
freiem Himmel, in einer Kirche oder im Wohnzimmer, aus der Nähe oder
aus der Ferne jeweils andere Informationen erlaubt. Je nach Ort verwenden
Betrachter auch andere Interpretationsschemata, die sich gerade bei emotional
gefärbten Interpretationen von künstlerischen Bildern außerordentlich
ortsveränderlich zeigen. So ruft ein Bild, das die Geburt eines Kindes
zeigt, im Krankenhaus andere Interpretationen hervor, als im Museum oder
auf einem U-Bahnhof. Diese genannten Faktoren fasse ich als "zeichenwirksamen
Umgebungsraum" [Bense 1992/9] auf, der die Decodierung erster Ordnung
und die Kommunikation (Interpretation) zweiter Ordnung mitbestimmt.
Welche Aufgabe hat der Deutende? Der Deutende findet das Bild in der räumlichen
Situation anfänglich als einen Gegenstand vor, dem er im Handeln gegenübertritt.
Aufgrund seiner Aufmerksamkeit nimmt der Deutende einen Bildgegenstand im
Raum wahr. Dieser Prozeß ist als die »Decodierung von Informationen
per Wahrnehmung« aufzufassen. Der Deutende bewirkt nichts anderes,
als die von der Fläche des Bildes empfundenen Reize per Wahrnehmung
in eine für ihn erste informationelle Ordnung zu transformieren. Pöppel
und Untersuchungen von Gestaltpsychologen folgend versucht unsere Wahrnehmung
immer "... eine möglichst gute, prägnante Gestalt ins
wahrnehmende Bewußtsein zu heben" [Pöppel 1982/169]. Von
den Tintenklecksen beim Rohrschach-Test ist diese Suche nach einer informationellen
ersten Ordnung der Reiz-Konfiguration bekannt. Deren subjektive Deutung
(63) ist
aber bereits als Kommunikation zweiter Ordnung einzuschätzen. Infolge
der kontinuierlichen Suche nach einem »Etwas« mit Bedeutung
realisiert der Deutende (annähernd) plötzlich eine erste informationelle
Ordnung. Die Herstellung dieser ersten Ordnung hängt vom ausgebildeten
Wahrnehmungszyklus oder der innovativen Wahrnehmungsaktivität des Individuums
ab. Jede Anschauung eines Bildes verlangt ein aktives und manchmal innovatives
Tun des Individuums, welches wahrnehmend in der "zweiten Bildproduktion"
der ersten nachspürt. Als visuelle Kommunikation kann die Decodierung
von Information nicht verstanden werden, weil bisher erst das Visuelle an
der Kommunikation decodiert ist und noch nicht das Kommunikative. Kommunikation
spielt sich erst dort ab, wo sie über die vorhergehende Wahrnehmung
der Gestalt zu Zeichen zweiter Ordnung abstrahiert wird. Diesen Zusammenhang
habe ich als vorkommunikatives Bewußtsein benannt, weil noch keine
kommunikative Zeichenbedeutung vermittelt oder erkannt wurde [s.S. 66].
Ähnlich wie die Encodierung bleibt die Decodierung auf körperliches
»Handeln gegenüber dem kulturellen Gegenstand Bild« angewiesen.
Erst körperliche Anwesenheit im Gegenüber eines Bildes ermöglicht
dem Deutenden die Decodierung von Informationen. Dadurch, daß er im
Handeln nach weiteren Informationen sucht, kann ein Vorgang ablaufen, der
ersteinmal mit (kontemplativer) Wahrnehmung und nicht mit begrifflicher
Interpretation beschäftigt ist. Natürlich beschreibt Wahrnehmung
eine erste Form der "Interpretation" von Empfindungen als »etwas«,
aber dieses »Etwas« erlaubt eben auch eine Wahrnehmung figural-qualitativer
Eigenschaften. Vorerst können Bilder wie Gegenstände in ihrer
impressiven Wirkung erfahren werden, um später ihre Zeichen zu interpretieren.
Beispielsweise lernt man von Strichmännchen, wie sie aussehen; aus
der Erfahrung mit Menschen lernt man, wie Strichmännchen zu deuten
sind. Ohne den konsensuellen Bereich, der durch Wahrnehmung eines optischen
Gegenstandes erst geschaffen wird, wäre visuelle Kommunikation undurchführbar.
Auch an dem Punkt, wo die visuelle Kommunikation bei den »Interpretationsschemata
des Deutenden« zum Abschluß kommt, ist dieser Vorgang mit der
Leistung des Mitteilenden vergleichbar. Der Deutende versucht nämlich
in seiner Zeichenkompetenz gleichermaßen einen passenden Code zweiter
Ordnung zu aktualisieren, mit dem er die jetzt als Zeichen verstandene erste
Ordnung optischer Strukturen in ihrem Nachrichtengehalt interpretiert. Hier
ist die Wirkung des Zeichens angesprochen, welche der Betrachter als eine
Darbietung von einem Objekt in einer Welt interpretiert. Das Dreieck auf
Seite 19 hatte gezeigt, wie das Zeichen im Blick des Geistes eines Interpreten
den Interpretanten evoziert. Mit der Interpretation des Zeichens kommt das
Kommunikative an der visuellen Kommunikation zu ihrem Abschluß, weil
mit der interpretativen Leistung des Deutenden eine kommunikative Bedeutung
des Zeichens nachvollzogen wurde.
Bis jetzt unausgesprochen ist, daß visuelle Kommunikation vorrangig
den rhematischen Interpretantenbezug verwendet, d.h., der Interpretationszusammenhang
bleibt offen, weshalb die aus visuellen Informationen gewonnene Nachricht
(64) für
den Mitteilenden nur zufällig mit der des Deutenden übereinstimmt.
Ein deutliches Beispiel führt die Werbung vor: der Cowboy aus der Marlboro-Reklame
wird zwar in den östlichen und westlichen Bundesländern von allen
Betrachtern decodiert und als rhematisches Cowboy-Zeichen erkannt, symbolisiert
aber im Osten nicht die Bedeutung von Abenteuer und Freiheit, sondern nach
Meinung von Werbeleuten noch harte, lohnabhängige Arbeit.
Der Fall der Zigarettenwerbung demonstriert, daß die Erfassung eines
Bildes in seinem Nachrichtengehalt von der vorherigen Kenntnis der Interpretationsschemata
abhängt oder durch entsprechende Innovation erreicht wird. Dies gilt
ebenfalls für die Decodierung der ersten Ordnung, obwohl die Decodierung
für gewöhnlich weniger stark von der Intention des Mitteilenden
abweicht, als die Interpretation. In vielen Fällen kann der Deutende
erkennen, was das Zeichen in anschaulicher Weise bezeichnet, daß z.B.
ein Cowboy zu sehen ist. Was das Zeichen bedeutet, erreicht diese Erkenntnis
allerdings nicht vollständig. Die interpretierte Bedeutung eines bildlichen
Zeichens leitet sich zuletzt nicht aus dem ab, was das Bild bezeichnet,
sondern aus dem, was der soziokulturelle Zusammenhang, in dem das Bild auftaucht,
an interpretativen Bedeutungen ermöglicht. "Nicht was ein Zeichen
als Mittel bezeichnet, macht seine Bedeutung aus, sondern wie die Bezeichnung
verstanden oder interpretiert werden kann" [Walther 1979/415]. Das
Bild des Marlboro-Mannes wird zwar auf fast allen Erdteilen in erster Ordnung
auf gleiche Art reproduziert, (65)
interpretiert wird das, was das Bild bedeutet, an diesen Orten gewiß
auf nicht verwandte Weise. Im Vergleich zum Bedeutungsinhalt, der stärker
gesellschaftsgebunden ausgelegt wird, behauptete sich die Bezeichnungsform
des ikonischen Marlboro-Bildes nahezu interkulturell. Der relativ stabilen
Bezeichnungsfunktion eines monoaspektischen Bildes [s.S. 90 (Enten-Hasenkopf)]
muß hier mit einer Begriffsveränderung begegnet werden, die die
ikonische Bezeichnungsform als annähernd »monosemantisch«
(66)
auffaßt. Auf der Bedeutungsseite werden ikonische Bilder indessen
als »polypragmatisch« verstanden. Bei monosemantischer Bezeichnungsfunktion
sind Bilder in vielen Fällen ikonische Polyseme, d.h., sie erlangen
kontextabhängig anhand einer gesellschaftsgebundenen "Theorie"
und diverser individueller Praktiken unerwartbar viele Deutungen.
Die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Bezeichnung deutet ein tiefgreifendes
Problem an, welches ich gleich im folgenden Unterkapitel anspreche. Bisher
sollte geklärt sein, daß visuelle Kommunikation, ähnlich
wie die an andere Zeichenformen gebundene Kommunikation, auf vollzogene
Bedeutungsvermittlung angewiesen ist. Wenn die vollzogene Bedeutungsvermittlung
im Sinne des Wortes ein echtes "Verstehen" sein sollte, kann sie
aufgrund der gering determinierten Bildinterpretation jedenfalls nicht mit
sprachlichem Verstehen vergleichbar sein. Was zweifelsohne das wechselseitige
Verstehen mittels visueller Kommunikation hemmt, sind die Zeit/Raum-Distanz
zum Mitteilenden, die einseitige Richtung der visuellen Kommunikation, die
Offenheit der Interpretation und starke Abweichungen (Innovationen) der
Codierungs- und Interpretationsschemata vom soziokulturellen Bezugsrahmen.
Diese Kommunikationsbarrieren deuten darüber hinaus auf die Veranlassung
und die wesentlichen Faktoren der weitschweifigen (Fehl-)Interpretationen
von Bildern im allgemeinen hin.
----Fußnoten----
(51)
Auch Husserl bemerkt: "Die Wahrnehmung? Seinen wir genauer. Wiederkehrend
ist sie unter keinen Umständen individuell dieselbe. Nur der Tisch
ist derselbe, als identischer bewußt im synthetischen Bewußtsein,
das die neue Wahrnehmung mit der Erinnerung verknüpft" [Husserl
1980/74].
(52)
Unter Interaktion soll ein aneinander orientiertes Verhalten von Individuen
verstanden werden. Der Begriff der "sozialen Wirkungsbeziehung"
greift bei Schütz eine Interaktion auf, bei der Individuen in größere
Zusammenhänge verflochten werden [vgl. Schütz 1971a/25; Sommerfeld
1980/221].
(53)
Es mutet ein wenig widersprüchlich an, "zweite Ordnung" und
"doppelte Kontingenz" in einem Atemzug gleichzusetzen. Dennoch
hat es seine Berechtigung, wenn man bedenkt, daß Kommunikation wie
auch Wahrnehmung ihre jeweils eigenen Wirklichkeitskonstruktionen aus einer
Möglichkeit heraus schöpfen. Kommunikation schafft eine zweite
Ordnung aus den Möglichkeiten wahrgenommener Wirklichkeit, und Wahrnehmung
errichtet eine erste Ordnung und damit Wirklichkeit aus den Möglichkeiten
der Empfindungen [s.S. 62 Fußn. 20 (Kontingenz)].
(54)
In Anlehnung an den Begriff "Darbietungscode" von Kanngießer/Kriz
[vgl. 1983/93].
(55)
Diese direkte Kommunikation im Ber?ziehungsaspekt formulieren Oeser u. Seitelberger
[vgl. 1988/163] als "'reine' Kommunikation", die ohne symbolische
Repräsentation Bewußtseinsleistung integriert. Denn durch "subtile
Beeinflussungen" [Watzlawick 1978/47] im Beziehungsaspekt "... wird
etwas möglich, was unabhängiw?g von der ursprünglichen Kommunikationsfunktion
zwischen Individuen ist, nämlich: das interne Manipulieren mit sprachlichen
Symbolen im Denken, was schon Platon als 'leises Sprechen' bezeichnet hat"
[Oeser u. Seitelberger 1988/163, vgl. Scherer 1979/25ff.]. Eine semiotisch
wie soziologisch unzureichende Auffassung vertreten Nöth [vgl. 1985/191],
Müller und Sottong [vgl. 1993/34f.]. Sie wollen die Interpretation
von Anzeichen (den Index z.B. einer roten Nase eines Alkoholikers) nicht
als ein kommunikatives und semiotisches Zeichen verstehen, weil ein "natürliches"
Anzeichen ohne willentlichen »Sender« und ohne Wahlmöglichkeit
bleibt. Für Bilder ist es jedoch erforderlich, Wahrnehmungs-Handeln
gegenüber Farben und Formen nicht als Kommunikation, jedoch die pragmatische
Interpretation irgendeiner Form als Zeichen insofern als Kommunikation aufzufassen,
wie diese vom Betrachter als solche interpretiert wird, obwohl der Adressant
möglicherweise manche seiner Ausdrucksformen und -möglichkeiten
nicht als Zeichen intendierte [s.S. 95, 125 (Handeln)].
(56)
Bisher sind beispielsweise Video-Konferenzen und Bildtelefone noch die Ausnahme
und dienen nur in untergeordneter Bedeutung dem primären Dialog mittels
Sprache.
(57)
Der Begriff des "konsensuellen Bereichs" benennt bei Maturana
[vgl. 1991/108; Roth 1991a/261, 274] in hier nutzbringender Deutung einen
Bereich der "strukturellen Kopplung" [s.S. 94] von Wahrnehmungsstrukturen
mehrerer Individuen mit ihrem Kommunikations-Medium.
(58)
Genaugenommen läßt sich unter gestaltpsychologischen und hirnphysiologischen
Gesichtspunkten nicht von einem Zeichenrepertoire w? sprechen. Vermutlich
dauern eher prägnante Strukturen als wirkliche Elemente im psychischen
Gedächtnis an. Dies schwingt im Begriff des "Repertoires"
mit.
(59)
Barnett Newman [vgl. Bockemühl 1985/50ff.] möchte seine »konkrete
Malerei« zwar nicht als Zeichen für »etwas« verstanden
wissen, als Bildgegenstand ist sie aber trotzdem ein Zeichen, welches schon
anzeigt, daß ein Bild zu sehen sein wird. Gerade weil aber nichts
begrifflich Faßbares repräsentiert ist, verweist die konkrete
Malerei auf die unbegriffliche Bilderfahrung, die allen Bildern gemeinsam
ist.
(60)
Kunsthistoriker, Archäologen und Ethnologen sind in diversen Fällen
damit beschäftigt, solche Dinge als (An-) Zeichen zu verstehen, die
von dem Hersteller des Gegenstandes nicht als Zeichen gedacht waren. Beispielsweise
wenn aus einzelnen Nägeln, Leinwänden und anderen Materialbeschaffenheiten
historische Datierungen oder Indizien sozialer Zusammenhänge abgeleitet
werden.
(61)
Aus diesem Grund wirken Träume oder Einbildungen manchmal sehr real.
Auch Bühnenbilder des Theaters bewahren den Unterschied zum Zuschauerraum,
solange wie sie die Besucher nicht selbst ins Spiel bringen.
(62)
Ernst Pöppel [vgl. 1982/164f.; 1985/51ff.] vertritt aufgrund seiner
Forschungen die Meinung, daß Musik, Gedichte oder Bildsequenzen
einem oberen Zeitintervall von 2-3 Sekunden unterliegen, um vom menschlichen
Gehirn noch als eine einzige Bedeutung verarbeitet zu werden. Sicherlich
unterliegt menschliche Kommunikation der Verarbeitungsgeschwindigkeit
des Gehirns in unteren und oberen Intervallen für eine einzige Bedeutung.
(63)
Wären die Tafeln mit Tintenklecksen beim Rohrschach-Test nicht stark
mehrdeutig, dann würde nichts über die subjektive Persönlichkeitsstruktur
des Betrachters herauskommen.
(64)
Peirce schreibt: "Vielleicht kann jedes Rheme [Rhema] etwas an Informationen
[Nachrichten] vermitteln, doch wird es nicht in dieser Weise interpretiert"
[Peirce 1983/125].
(65)
Um eine Interpretationsverschiebungen innerhalb der Kunst-"Welt"
zu erzeugen, spielen die Künstlerinnen Elaine Sturtevant und Cindy
Sherman mit Reproduktionen von sehr bekannten Kunstwerken.
(66)
Ich muß hier der Begriffsführung von Linguistr?en zuwiderhandeln,
die mit »monosemantisch« die Bedeutung eines Zeichens beschreiben
wollen. Wie Linguisten allerdings schlüssig begründen wollen,
daß beispielsweise das begriffliche Symbol »Auto« nur
eine Bedeutung hätte, scheint mir uneinsichtig. Der Bedeutung von
»Auto« ist allenfalls zuzugestehen, daß sie auf wenige
Bedeutungen in pragmatischen Kontexten zusammenschrumpft, obwohl ihre
symbolische Bezeichnung viele verschiedene Autos bezeichnen kann, also
polysemantisch ist.
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