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Teil II. Sehen und Erkennen |
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Die Frage, "wo das gesehene Bild entsteht" ist zwar nicht so alt
wie die Bildkommunikation, vor einigen Jahren meinten jedoch manche: Bilder
entstünden im Auge des Betrachters. Der Diskurs in der Kunst dokumentiert
vergleichbare Schwierigkeiten der Lokalisation, wie bzw. von wo aus Bilder
gesehen und verstanden werden. Programmatisch zeigt dies folgender Text
eines öffentlichen Plakats auf:
"Kunst-Betrachtung ist keine begriffliche Beurteilung des künstlerischen
Objekts (ob es denn noch Kunst sei),
sondern die ästhetische Selbst-Erfahrung des betrachtenden Subjektes
(wie es seine Phantasie entfaltet und proportioniert)." [Lingner 1986/72]
Dieses Statement meint, es käme weniger darauf an, was verstanden wird,
als darauf, welches Gefühl in der sinnlich wahrnehmbaren Selbsterfahrung
eigendynamisch aktualisiert wird. Nicht der begriffsorientierte Verstand
soll der Ort der Kunst sein, sondern das emotionalisierte "Auge",
in welchem sich die Bildperzeption dank intentionaler Bildproduktion autonomer
Individuen mobilisiert [hierzu Bockemühl 1985/91]. Oft zeichnen sich
Thematisierungen durch ihren dialektischen Charakter aus, so auch die der
Kunst. Beat Wyss fordert: "Kunst sei nicht Gegenstand des Sehens, sondern
des Denkens" (14) [Wyss 1992/9]. Wie die Beteiligten das Thema auch drehen
und wenden, die Ortsbestimmung, wo Kunst entsteht, behauptet gleich mit,
daß Kunst entsteht. Es scheint, daß die Betreffenden in der
Kunst zwar wissen, was getan wurde, aber kaum erinnern, wie sie es vollbrachten.
Ebenso unsicher sind sie sich darin, wie Bilder in der Kunst wahrgenommen
werden oder werden sollen. So bleiben im speziellen Fall der Kunst, aber
auch im allgemeinen Fall der Bilder insgesamt, die bildbezogenen Theorien
auf der Suche danach, ob Bilder im Sehen, in der Erfahrung oder im Denken
entstehen bzw. wahrgenommen werden. Semiotisch gesprochen lautet die zu
beantwortende Frage: Entstehen Bilder in der Erst-, Zweit- oder Drittheit,
also aus einer Möglichkeit, einer Wirklichkeit oder einer Notwendigkeit
heraus?
Nun ist weder jedes Kunstwerk ein Bild, noch ist jedes Bild ein Kunstwerk.
Gleichwohl verharrt die Frage, wo das Bild entsteht und vor allem wie. Der
äußere Anlaß einer Wahrnehmung ist bekannt, nur dem Auge
ist ermöglicht, visuelle Phänomene zu empfinden. Aber wie wird
das in Bildern Gesehene zum Erkannten und das Erkannte zum Gesehenen; sieht
der Bildbetrachter etwas, was er wußte, was er sich in seiner Phantasie
vorstellte oder auch etwas, was ihm unvorstellbar war und er nicht wußte?
Die Fragen, die in den folgenden Kapiteln das Problem zwischen Wissen und
Sehen aufgreifen, lauten: Wie werden Bilder gesehen? Was ist visuelle Wahrnehmung?
Entstehen Bilder in der Wahrnehmungserfahrung oder im Denken? Warum weisen
Bilder eine kulturgebundene Selbstähnlichkeit in der Darstellung auf?
Wie prägt die Kultur manche Sehgewohnheiten des Individuums?
Um diese Fragen zu beantworten, wird mit dem Einfachsten (sic!) begonnen
werden, dem Sehen von Bildern. Obwohl die anatomischen und psychischen Voraussetzungen
des Menschen innerhalb soziologischer Erklärungsmodelle rasch dem Verständnis
des Biologismus oder Psychologismus anheim fallen können, sind Bedingungen
des visuellen Wahrnehmungssystems doch zu beachten. Ließe man dies
aus, führe man mit den soziologischen Suppositionen fort, die gesellschaftliche
Einflüsse auf visuelle Wahrnehmung typisieren. Verkehrt wäre der
Reduktionismus, Soziologie unbegrenzt aus Psychologie herzuleiten. Trotzdem
ist für visuelle Wahrnehmung der Ansatz nicht zurückzuweisen,
"... daß mittels sozialpsychologischer Theorien die Probleme
des Sozialwissenschaftlers besser gelöst werden können als mit
ad hoc - meist aufgrund des Alltagsverständnisses - formulierter
Hypothesen oder mit bereits vorliegenden Aussagen der Soziologen."
[Opp u. Hummel 1971/85]
Vorwiegend läßt Psychologie zwar das Bewußtsein im soziologischem
Sinne aus, aber "... sie befaßt sich mit den Erfahrungen
des Einzelnen in ihrer Relation zu den Voraussetzungen, unter denen sie
auftreten. Um Sozialpsychologie handelt es sich dort, wo die Voraussetzungen
sozialer Natur [Wahrscheinlichkeit] sind" [Mead 1988/79].
Wenn auch viele Voraussetzungen der Bildwahrnehmung im sozialen Austausch
geschaffen werden, so werden doch auch manche von ihnen im psychischen System
des Individuums konstruiert. Gesellschaft und Kultur wären ohne Kommunikation
undenkbar; Wahrnehmung allerdings läßt sich vom Individuum vorkommunikativ
entfalten. Den einzigen, vorerst sozialen Sachverhalt, der visuelle Wahrnehmung
motiviert, eröffnet die Geborgenheit des Kindes. Ohne sie würde
sich das Kind in keiner Weise mit seiner Umwelt befassen [vgl. Metzger 1975/656].
Ansonsten betont Metzger, daß Kinder zuallererst unabhängig von
Gesellschaft und sozialen Voraussetzungen wahrnehmen.
"Wer behauptet, daß die gesellschaftlichen Umstände nicht
nur eine unter vielen Bedingungen, sondern die entscheidende Voraussetzung
des Wahrnehmens seien, muß auch behaupten, daß schon die ersten
Wahrnehmungen des kleinsten Kindes gesellschaftlich bedingt seien. Tut er
das, so hat er sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß beim
Kind die Fähigkeit, einfache Dinge, Formen und Vorgänge wahrzunehmen,
erwiesenermaßen lange vor der Fähigkeit zur Wahrnehmung sozialer
Sachverhalte ausgebildet ist." [Metzger 1975/656]
Im weiteren hebt Metzger hervor, daß der innovative Erkenntniswert
immer geringer würde, sobald Wahrnehmung unentwegt von gesellschaftlichen
Einflüssen gewährleistet sein sollte. Schlösse Wahrnehmung
die Kreativität aus, die sich in individuellen Eigenbeiträgen
als Möglichkeit für unterschiedliche Erfahrungen offen hält,
dann würden von vornherein gesellschaftlich konstruierte Schablonen
jede Wahrnehmung derart lenken, daß der Interpretierende eines Bildes
ausschließlich das sehen könnte, was er bereits vorher erfahren
oder gedacht hat, was sicherlich alltäglicherweise oft vorkommt. Was
Metzger trotzdem übersieht, ist, daß einfache Gegenstände,
Formen und Vorgänge selbst zur sozialen Weltkonstruktion gehören.
Das Gegenständliche und insbesondere das Kulturelle bilden eine offene
Umwelt, die mehr umfaßt, als lediglich die Sachverhalte, die über
sie mittels Interpretanten erdeutet werden.
Wenn fortwährend kommunizierte Zeichenbedeutungen das Sehen dirigieren
würden, wäre dies ungefähr so, als ob jemand angefüllt
mit sozialen Konstruktionen über Bilder spricht, aber diese niemals
mit eigenen Augen sah und subjektiv deutete. So erstaunlich es klingt, so
gehen dennoch manche Theoretiker davon aus, daß das Sehen kontinuierlich
von kommunizierten Bedeutungen gelenkt sei. Solche Positionen scheinen sich
aus den Realitätskonstruktionen der westlichen Welt herzuleiten, in
denen das erfaßt wird, was als erfahrene Existenz zur dicentischen
Behauptung genügt und als logisches Argument brauchbar scheint. Alles
das, was ohne Zeichenbedeutung verweilt, wird kaum benannt werden, weil
- systemtheoretisch gesprochen - Prozessieren ohne Differenzerlebnis
im System keine kommunizierbare Realität ausbildet. Trotzdem entsteht
im Sehen mehr, als sozial kommunizierte Bedeutungen zulassen. Daß
dieses "Mehr" sich in den Bedeutungen verflüchtigt, beschreibt
Chris Marker in seinem Film »Sans Soleil« als "die unerträgliche
Eitelkeit der westlichen Welt, die nicht aufgehört hat [mit Bildern
derzeit aber doch aufhört], das Sein gegenüber dem Nicht-Sein
und das Gesagte gegenüber dem Nicht-Gesagten zu privilegieren"
[Marker 1983/26]. Das Nicht-Gesagte, das Nicht-Bedeutete und doch Gezeigte
fällt mit dem Bild vorsprachlich und vorsozial in die Kultur ein. Denn
mit der Zweitheit der Wahrnehmung konstituiert sich kulturelle Wirklichkeit
[Zweitheit], ohne daß diese von Zeicheninterpretanten der Bedeutung
in die gesellschaftliche Pragmatik hineingeholt wären. Springt jedoch
dem Sehen ein finaler Interpretant bei, wird kaum mehr alles wahrgenommen.
Die Individualität der Wahrnehmung gehorcht dann der Zeichenbedeutung,
mit der dasjenige zur Anschauung kommt, was über soziale Relevanz verfügt.
Umgekehrt fällt es uns schwer, etwas zu sehen, was bisher noch keine
Zeichenbedeutung hatte. Daß diese Bedeutungen kulturabhängigen
Plausibilitätskriterien unterliegen, wird z.B. noch bei der Betrachtung
scheinbar "realistischer" Veranschaulichungen, d.h. Fotos oder
Television, präzisiert werden.
Aus jenem Beschriebenen folgt nicht der Schluß, daß nichts gesehen
wird, sobald Interpretanten hinzutreten. Vielmehr sollte darauf aufmerksam
gemacht werden, daß sich Sublimes in soziale Gefüge einschleicht,
was zwar visuell wahrgenommen wird, aber kaum notwendigerweise in kommunikative
Realitäten der Zeichenbedeutungen verwoben ist. Beispielsweise liest
der Nachrichtensprecher im Fernsehen neuerdings die neuesten Meldungen vom
Teleprompter ab. Die Bedeutung des Bildes vom Nachrichtensprecher bleibt
unverändert. Dennoch sitzen sich Sprecher und Betrachter nun Auge in
Auge gegenüber, was zwar die Bedeutung des Gesprochenen kaum berührt,
was jedoch die Eindringlichkeit des Gesprochenen verstärkt. Der intensivierte
Blickkontakt läßt sich auf die Funktion unbemerkter Bedeutung
ein, indem der Sprecher, ohne mit der Wimper zu zucken, das Gefühl
seiner eigenen Aufrichtigkeit erzeugt, wodurch sich die Glaubwürdigkeit
der Nachricht erhöhen soll.
Eine andere Erscheinungsweise des gleichen Phänomens zeigten Besucher
der Documenta 1992. Sie interessierten sich selten dafür, wie etwas
dargestellt ist, sondern wollten erkennen, was dargestellt ist. Oft waren
Feststellungen folgender Art zu hören: das ist ein Mensch, das sind
Exkremente, da ist ein Stuhl, das sind Ameisen usw. Die in diesen Worten
bekundeten Bedeutungen waren in der Lage, jedes ikonisch Sublime mit einem
Wort zu erledigen, woraufhin sich jene Betrachter beruhigt den nächsten
Vergegenständlichungen zuwendeten. Man kann sicher sein, daß,
wenn die Besucher gefragt würden, wie ein Bild aussah, sie nur wenige
Details des Bildes neben dem der singulären Namensnennung des veranschaulichten
Objekts angeben könnten. Um handlungsfähig zu bleiben, verkürzten
viele Ausstellungsbesucher die Bilder der Kunst auf be- und erkannte Zeichen
(Formen) und Bedeutungen, genauso wie sie es in der Alltagswelt praktizieren (15),
in der sie dem Wahnsinn unbeendbarer Bedeutungssuche entgehen müssen.
Noch drastischer verkürzt manchmal der Kunstkenner das Bild auf seine
Bedeutung im Kunstsystem, indem er es beispielsweise sofort dem Expressionismus
zuordnet und es demzufolge kaum noch betrachtet. Was dem Kunstkenner und
auch dem unverblendeten Betrachter selten als Bedeutung bewußt wurde,
ist die Tatsache, daß sie binnen sehr kurzer Zeit in der Lage waren,
die Bilder visuell zu erfassen und augenblicklich erkannten, wie sie einzuordnen
sind. Wie noch zu begründen ist, wurde es den Betrachtern zur visuellen
Gewohnheit, die Zeichenmittel ihrer Bildkultur (Quali-, Sin- und Legizeichen)
augenblicklich zu decodieren. Ebenso wie ein Bildbetrachter seine Nase (16) in
seinem Blickfeld nur problematisiert, wenn sie stört, ebenso verfolgt
er die optische Struktur eines Bildes bewußt, sobald sie ihm ungewohnt
scheint. Gewohnheiten erzeugen selten Differenzerlebnisse. Darum bleiben
sie auch unhinterfragt und stabilisieren sich.
In Bildern wird durchaus mehr wahrgenommen, als in sozial ko-orientierten
Bedeutungen aktualisiert wird. Die Betrachter von Bildern können Dinge
sehen, denen sie in subjektiver Bildbetrachtung eine für sie allein
gültige Bedeutung zugestehen, obwohl sich diese jeder gesellschaftlichen
Bedeutung entsagt. Eine solche Wahrnehmung wäre nicht notwendigerweise
an gesellschaftlichen Bedeutungen orientiert, sie wäre unvergesellschaftet.
In welchem Bewußtsein kann jedoch etwas gesehen werden, was nicht
auch schon in gesellschaftlichen Bedeutungscodierungen existiert, und wie
kann etwas wahrgenommen werden, ohne als Zeichenbedeutung bewußt zu
werden? Die Begriffe »Bedeutung« und »Bewußtsein«
kennzeichnen die ungeklärten Pole, um die sich die Theorien zur visuellen
Wahrnehmung drehen. Im folgenden wird zu klären sein, wie Bedeutung
und Bewußtsein zueinander stehen bzw. wo Voraussetzungen der visuellen
Wahrnehmung als Konstituens der Bedeutung übergangen werden. Wenn nämlich
allgemein Bilder und speziell Bilder der Kunst, wie eingangs formuliert,
im Auge des Betrachters oder aber im Denken entstehen, dann impliziert dies
vermutlich differierende Bedeutungsinhalte und Bewußtseinsstufen.
Notwendig ist diese Analyse, um zu begründen, in welchem Bewußtsein
die Bildbetrachtung ohne kommunikative Zeichen auskommt, d.h., wo sie unvergesellschaftet
ist. An dieser Frage interessiert mich vor dem Hintergrund der Wahrnehmungspsychologie,
die der visuellen Form (Gestalt) allein keine Bedeutung beimißt, warum
Bilder in Kulturen häufig ähnlich sind, also gleichartige Formen
darbieten. Im weiteren kann die Thematisierung der kulturellen Bedeutung
von Bildern ohne einen Begriff der Bedeutung nicht auskommen, obwohl die
kulturelle - und damit die kommunikative - Bedeutung erst im Teil
III ausführlich erörtert wird.
----Fußnoten----
(14)
G.R. Koch pointiert in der FAZ vom 28.9.1992 bezüglich der Documenta
9 eine aktuelle Entwicklung: "Wer Kunst erfahren wollte, muß
sich vieles dabei denken, am Ende sie selbst." Offenbar wird Kunst
vorrangig als finaler Interpretant in einem Zeichencode verstanden, in dem
Kunsterfahrung eher entfernt angestrebt wird. Wie der Künstler Ilya
Kabakov [vgl. 1993/22] meint, gilt das Interesse nicht mehr der Herstellung
eines Kunstwerks, sondern dem Diskurs, der erst das Kunstwerk erzeugt.
(15)
Ohne die Abstraktion von Umweltereignissen auf kognitiver Ebene ist eine
Steuerung sinnvollen Handelns unmöglich [vgl. Roth 1991a/247].
(16)
Man muß sich seine Nase nur farbig anmalen, und man wird sehen, wie
sehr sie eigentlich im Blickfeld stört bzw. wie sehr man sich an diese
Störung gewöhnt hat. Man sieht nun, daß man nicht gesehen
hat, was man schon immer gesehen hat.
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2.1. Bedeutung und Bewußtsein
in Differenz
zur Möglichkeit von Wahrnehmung |
Inhaltsverzeichnis Anfang |
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Die semiotische Einführung setzte Zeichen und Gesellschaft in eine
Beziehung, in der der kommunikative Austausch von Zeichen Gesellschaft stiftet,
und umgekehrt Gesellschaft Zeichen entwickelt [s.S. 13]. In dieser
Relation sind und tragen Bilder ebenfalls Zeichen. Soll nun die Bedeutung
von Bildern und das Wahrnehmungsbewußtsein von Rezipienten beschrieben
werden, muß die Bezugsordnung bestimmt werden. Denn es bleibt unmöglich,
wie Luhmann [vgl. 1990/54f.; 1992/63f.; s.S. 53] bemerkt, den Wissensbestand
einer Gesellschaft auf Bewußtseinsvorgänge psychischer Systeme
zu reduzieren und oder aus diesen zu rekonstruieren. Umgekehrt lassen sich
jedoch Bewußtseinsvorgänge von psychischen Systemen von gesellschaftlicher
Kommunikation (sozialen Systemen) beeinflussen, wie es in dem Meadschen
Begriff der Sozialpsychologie intendiert ist. Somit spitzt sich eine Hypothese
darauf zu, daß Voraussetzungen der Bildwahrnehmung und -produktion
kulturellen Merkmalen folgen, die pragmatische Bedeutungen sowohl in als
auch außerhalb sozialer Bezugsrahmen stabilisieren. Bilder fungieren
bereits innerhalb kultureller Konstellationen als kommunikative Zeichen,
wodurch sie zumindest potentiell auf Bewußtseinsvorgänge von
Individuen wirken. Wenn Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungsmechanismen des individuellen
Bewußtseins das Bezugssystem sein sollen, dem soziokulturelle Einflüsse
zurechenbar sind, dann verstehe ich dies als sozialpsychologische Problemstellung.
Eine rein soziologische Untersuchung betrachtet eher, für wen, wann
und aufgrund welcher Interessen Bilder zur Bedeutung und zu Bewußtsein
kommen. Was beiden Ausrichtungen zweifellos zugrunde liegt, ist die Frage
nach der Bedeutung, oder auch, was kommt als Bedeutung zu Bewußtsein,
und vor allem wie und wodurch kommt Bedeutung zu Bewußtsein. Zunächst
bedarf das sozialpsychologische Verhältnis zwischen Bedeutung, Bewußtsein
und Wahrnehmung weiterer Erörterung.
Auch wenn Bilder Zeichen tragen und sind, so haben sie ebenso eine Gegenstandswirklichkeit
inne, die zwar anzeigt, daß visuelle Zeichen oder Bilder zur Präsentation
kommen, die aber auch eine Wirkung erweckt, die kein Zeichen sein kann.
Gewiß ließe sich meinen, daß beispielsweise Brot selbst
als ein Zeichen für die Funktion von Brot verstanden wird, also der
Gegenstand und das ihn identifizierende Zeichen seiner Funktion zur bedeutungsgleichen
Orientierung führen. Diese Betrachtungsweise ist für den an Zeichen
gebundenen Verstehens- und Erkenntnisprozeß berechtigt, reicht aber
nicht aus, weil wir das Brot selten ausschließlich als Zeichen beanspruchen,
sondern auch essen. Zeichen verderben eventuell den Appetit, aber sie machen
nicht satt. Die Vielfalt sinnlicher Blickwinkel, die ein optischer Gegenstand
ermöglicht, wird auch deshalb nie mit seinem Zeichen identisch sein,
weil wir sonst ebenso viele Zeichen wie Wahrnehmungsaspekte nötig hätten,
wodurch Kommunikation und vor allem soziale Bedeutungsverwandtschaften beträchtlich
boykottiert wären. Genauso wie Brote, sind Bilder Dinge, die man nahezu
immer anfassen kann, die man real in ihrer Körperlichkeit erfahren
und visuell wahrnehmen kann. Bilder stellen aber auch Dinge dar, die sie
mittels visueller Zeichen re-präsentieren. Es kommen also zwei Objektbegriffe
vor. Erstens ist das Bild ein materielles Ding, welches wirklich vorhanden
als Gegenstand gegeben ist, und zweitens illustriert es Objekte, auf die
es mittels Zeichen hindeutet. Deshalb ist zu unterscheiden, ob ein Bewußtsein
vom Gegenstand Bild oder ein Bewußtsein der Zeichen auf einem Bild
infolge der Wahrnehmung entsteht. Bilder zeigen etwas, auf das sie hinweisen,
während sie es im Gegenstand wahrnehmbar "verkörpern"
[hierzu Zimmermann 1980/42]; sie repräsentieren also etwas konstant
gegenstandshaltig.
Das Bewußtsein des Gegenstandes erfordert, daß dessen Kontakt-Erfahrung
eine Wirkung eröffnet [s.S. 28]. In dieser direkten Wahrnehmungserfahrung
kommt dem Gegenstand Bild wirksame Existenz [Zweitheit] zu, in der sich
nicht das Kantsche Ding an sich, sondern die visuelle Wirklichkeit für
uns konstituiert [hierzu Pape 1989/133]. Mit Husserl konkretisiert ist das
Bild ein "... Raumding, das wir sehen ... [und] in seiner Leibhaftigkeit
bewußtseinsmäßig Gegebenes" (17) [Husserl 1980/79 §43].
Somit vergegenwärtigt Gegenstandswahrnehmung kein Abwesendes, wie es
vollständige Zeichen bewirken. Um diese vorzeichenhafte Präsenz
zu umfassen, möchte ich die Bedeutung des Bildgegenstandes in der direkten
Wahrnehmung mit dem Begriff der Gegenstandsbedeutung von Holzkamp bezeichnen.
Für die Gegenstandsbedeutung bleibt es unerläßlich, daß
sie im direkten Gegenüber des Gegenstandes "im Zusammenhang mit
der menschlichen Lebenstätigkeit" [Holzkamp 1973/25] wahrgenommen
und nicht etwa vorgestellt bzw. gedacht wird. Die Gegenstandsbedeutung erfaßt
die Gegenstände, die bei körperlich wirksamer Erfahrung in räumlichen
und zeitlichen Kontexten für das pragmatische Handeln individuell existieren.
Was dann in dieser Wirklichkeit [Zweitheit] für ein Individuum "... ein
Gegenstand bedeutet, besteht einfach in den Verhaltensweisen, die er involviert"
[Peirce 1967 I/337], und "... welche Gewohnheiten ... [er] in
sich [ein-] schließt" [Peirce 1985/66; vgl. 1960/5.400]. Insofern
involvieren pragmatische Gegenstandsbedeutungen e r f a h r e n e
Wirkungseinschätzungen [Zweitheit]. Diese entfliehen jedoch einem behavioristischen
Reduktionismus, indem sie in ihrer gegenstandsbezogenen Verhaltenspraxis
von gedanklichen und zeichenhaften Konzeptionen (Zeichenbedeutungen) begleitet
oder auch antizipiert sein können [vgl. Apel 1972/38; Oeser 1988/155;
Ogden/Richards 1974/217ff.]. Und dennoch: was etwas b e d e u t e t,
besteht darin, welche Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Interpretationen
es involviert.
Von der Wahrnehmungswirklichkeit einer Gegenstandsbedeutung spaltet sich
die Zeichenbedeutung ab. Die Zeichenbedeutung eines Bildes zeigt sich nicht
mit dessen wirksamer Gegenstandsbedeutung; sie demonstriert sich mit der
finalen Interpretation von Zeichen und deren repräsentierenden Objektbezügen.
In der konkreten Wahrnehmungssituation bieten bildlich konzeptualisierte
Gegenstände (Objekte) keine Wirklichkeit, die mit ihren Möglichkeiten
multiaspektischer Existenz identisch wäre; sie werden in ikonischen
Bildern von monoaspektischen Zeichen bezeichnet, d.h., bildliche Zeichen
deuten auf ikonisch erkannte Objekte meist in einem einzigen "Blickwinkel"
hin. Im Bild sind keine Gegenstände zu sehen, sondern Zeichen, die
dem Individuum optische Wirkungseinschätzungen von Objekten vorstellbar
werden lassen sollen. Diese mittels Zeichen vorgestellten Objekte bezeichnet
Peirce als das unmittelbare Objekt eines Zeichens, sofern es die (visualisierte)
Idee des Objekts in der Bildbetrachtungssituation ikonisch, indexikalisch
oder symbolisch hervorruft.
Der andere Fall einer Zeichenbedeutung besteht darin, daß der Bildgegenstand
als Zeichen für seine Funktion wirkt. Hier drängt der Gegenstand
auf seine Zeichenfunktion, indem er sich als wirklicher Gegenstand und als
kommunikationswirksamer Zeichenträger wiederzuerkennen gibt. Bei diesem
von Peirce als reales oder dynamisches Objekt benannten Faktor tritt hervor,
daß ein Bild-Gegenstand als Zeichen für die Präsentation
von Zeichen real wahrgenommen wurde, indem er zwar direkt wahrnehmbar die
Zeichenbildung vorantreibt, aber nicht als repräsentierendes Zeichen,
sondern im Wahrnehmungsbewußtsein als unabgeschlossenes Zeichen in
Anspruch genommen wird, nämlich als Quali- Sin- und Legizeichen mit
einer selbstindizierenden Funktion [vgl. Peirce 1960/8.183, 8.343, 5.473;
1985/151f.].
Das dynamische Objekt einer Semiose soll nach Peirce in letzter Analyse
das vorbewußte, z.B. qualizeichenhafte Perzept eines direkt empfundenen
Gegenstandes sein, der im Denken bestimmbar wird. Obwohl vermutlich kulturell
beeinflußte Plausibilitätskriterien für die Wahrnehmung
eines Gegenstandes vorliegen, wie Eco [vgl. 1991/222] betont, scheint es
doch problematisch, wenn die primordiale (18) Wahrnehmung eines unbekannten Gegenstandes
als eine Abfolge von zeichenhaften Perzepten der Erstheit betrachtet wird,
zumal die Peircesche Theorie Wahrnehmungen niemals als eine Wiederholung
derselben begreift und Perzepte innerhalb der Phänomenologie nicht
als Zeichen versteht [vgl. Peirce 1960/4.539, 8.300; Pape 1989/317; Bühler
1990/113f.]. Ebenfalls hebt Apel [vgl. 1975/208; Pape 1989/464] hervor,
daß für Peirce sowohl ästhetische Kontemplation, als auch
die Phänomenologie der Anschauung keine Erfahrung ist, die in den Geltungsbereich
der semiotischen Erkenntnistheorie zurückzubringen sei und in ihrer
Erstheit zur wahren Aussage über die Umwelt führen könnte.
Obwohl Peirce und andere universalistisch denkende Semiotiker das dynamische
Objekt und die Gegenstandsbedeutung eines Bildes als ein und dieselbe Sache
ansehen würden, sofern bei jedem in der Zweitheit "... reaktiv
bestimmten Wahrnehmungsurteil eine Zeichenstruktur vorliegt" [Pape
1989/193], möchte ich dennoch der Gegenstandsbedeutung einen phänomenologischen
Teil zuschreiben, der deshalb vollständige Zeichen unterschreitet,
weil er als Gegenstandserfahrung nicht in den Bereich der Drittheit, des
Denkens und der Kommunikation unbeschadet zu überführen ist. Das
dynamische Objekt in seiner Gegenstandshaftigkeit involviert die körperlichen
Erfahrungen, die das Existieren reflexionsunabhängiger Wirkungsrelationen
von Bildgegenständen verwirklicht [Zweitheit]. "Wäre [nämlich]
die Bestimmung des Objekts durch die Zeichen die einzige mögliche Richtung
der Semiose, so wäre innovierende [Non-Ego-]Erfahrung ausgeschlossen"
[Schönrich 1990/132]. Infolgedessen entzieht sich die Gegenstandsbedeutung
einem "Bezeichnungsimperialismus" [Lenk 1993/63], dem allein das
Bezeichnete real sei. Dynamische Materialwirkungen von Bildgegenständen
verflüchtigen sich nicht in den Bezeichnungen von ihnen, gegebenenfalls
provozieren sie sogar unbezeichnete Erfahrungen.
Für eine sozialpsychologische Untersuchung (Peirceianer mögen
es mir verzeihen) verdeutlicht die Unterscheidung zwischen Zeichen- und
Gegenstandsbedeutung unkomplizierter als die von »unmittelbarem«
und »dynamischem« Objekt, daß wir den Gegenstand Bild
wahrzunehmen lernen und erst infolgedessen Zeichen in ihrer kulturellen
Zeichenstruktur erkennen. Zeichen, die sich durch das Bildmaterial als dynamisches
Objekt oder Gegenstand präsentieren, benötigen Kontakt-Wahrnehmungen.
Demgegenüber bezeichnet der unmittelbare Objektbezug des Zeichens etwas,
das ohne wirkliche Kontakt-Wahrnehmung interpretiert, vorgestellt oder verstanden
wird. Im unmittelbaren Objektbezug beschreiben bildliche Zeichen ein Phänomen
der Drittheit, des Denkens und des Verstehens von Kommunikation, deren abstraktive
Explikationen sich vom Gegenstand lösen und somit oft anderes einschließen,
als die tatsächliche Wahrnehmung von ihm enthüllt [s.S. 28
(Drittheit)]. Im Alltagsfall nehmen wir zwar an, daß einfache Gegenstandsqualitäten
bei gleicher Bezeichnung auch gleich wahrgenommen werden, bei Bildern scheinen
jedoch Wahrnehmungswirklichkeiten im ästhetischen Sinne eher verwandte
als identische Gegenstandsbedeutungen zu provozieren. Somit stabilisieren
wir in zeichenvermittelten Zuschreibungen zwar Allgemeinplätze einer
kooperativ kommunizierten Realitätskonstruktion, aber für vorbegriffliche
Bilderfahrung heißt das dennoch nicht, wir hätten das Subjektive
einer individuellen Wahrnehmungswirklichkeit miterlebt. Denn was in der
Bilderfahrung außerhalb von interpersonalen Realitätsannahmen
bleibt, sind private Gefühle und dynamische Erfahrungen einer (kontemplativen)
Gegenstandswahrnehmung. Deshalb ist Holzkamp [vgl. 1973/181] insoweit zu
widersprechen, wie für die Gegenstandsbedeutung eines Bildes, gegenüber
welchem mögliche Wirkungseigenschaften und selten Notwendigkeiten gesellschaftlicher
Lebenserhaltung aktualisiert werden, keine vorgegebene Objektivität
behauptet werden kann, die sich aus "gesellschafts-historischen"
Resultaten vergegenständlichter Arbeit ergibt. Die Zugänglichkeit
zu gemeinsam entwickelten Zeichen bezeichnet keine Realität und erfordert
keine Wirklichkeit, die auf etwas Vorzeichenhaftem basieren würde,
dem gemeinsame oder "objektive" Gegenstandserfahrung in Sinne
eines Identischen nachzusagen wäre [vgl. Putnam 1995/31].
Die Unterscheidung des wirklichen Gegenstandes Bild vom visualisierten Objekt
bezieht im weiteren auch mit ein, daß Bilder eine höchst unwahrscheinliche
Wahrnehmungssituation von zeichenhaft dargestellten Objekten verwirklichen.
Neben der Dauer von unbewegten Bildzeichen, die an monoaspektischen Veranschaulichungen
oft unverrückbar festhalten, entspricht ebenso der erforderliche Tunnelblick
nicht der "natürlichen Welterfahrung" und "Weltsicht"
[vgl. Fellmann 1989/111; Gibson 1982/88f.]. Die alltägliche Wahrnehmung
von Farb- und Formpräsenz ist also deutlich wahrscheinlicher, das meint
man oft mit "natürlich", als die Wahrnehmung unwahrscheinlicher
Bildrepräsentation, deren zweidimensionale Formen oft Dreidimensionales
bezeichnen. Und trotzdem existiert der Gegenstand Bild in räumlicher
Umwelt, in der er eine direkte Wahrnehmungserfahrung aus der "natürlichen"
Lichtabstrahlung seiner selbst präsentiert, obwohl deren unwahrscheinlich
segmentierte Formen für Erfahrungen aus zweiter Hand stehen, indem
sie etwas anderes repräsentieren. In dieser Hinsicht stellt die Bildhauerei
eine bemerkenswerte Anwesenheit her. Ihre Skulpturen bestimmen sich stärker
kraft der Gegenstandsbedeutung als kraft der Zeichenbedeutung, sofern die
Skulptur im Erfahrungsmoment mehr sich selbst präsentiert, als daß
sie etwas anderes zeichenhaft darstellt. Gleichermaßen benötigen
aber Bilder für ihre Repräsentationen eine körperlich wahrnehmbare
Bildpräsenz, die besonders für ästhetische Sinnlichkeit relevant
ist.
Die Schwierigkeit, die Wahrnehmung zu konkretisieren, besteht in der Unwissenheit,
nach welchen Bedeutungen sie sich ausrichtet. Zum einen hat jedes Zeichen,
das vom Bewußtsein realisiert wird, wirkliche Existenz als gegenständliches
Zeichenexemplar und -träger von Bedeutung, und andererseits hat die
Außenwelt eine Gegenstandsbedeutung, die nicht schon gleich als Zeichenbedeutung
interpretierbar ist [vgl. Sauerbier 1985/29]. Unbeeinflußt kann die
Gegenstandsbedeutung im nicht-signifikanten Verhalten und Handeln der körperlichen
Situation vorkommen, sie befindet sich also nicht in zeichenhaften oder
verbalisierten Formulierungen. Der rein empirische Gegenstand der Erfahrung
wird überhaupt erst zur Sprache oder zum Zeichen infolge des "»jedesmaligen«
Gebrauchs" [Gerold Prauss 1990/108]. Zeichenbedeutungen verlaufen infolgedessen
im sozialen Rahmen eines Geflechts von Zeichen, wie es die verbale Sprache
und ebenfalls bildliche Zeichen durchsetzen. Dennoch konstituieren Zeichen-,
Sprach- und insbesondere Bildbedeutungen keine Welt, die vollständig
unabhängig von Gegenstandsbedeutungen zu erfassen wäre. Zeichenhafte
Kontexte basieren auf der ursprünglichen Fähigkeit einer Reaktion
auf nichtsprachliche Gegenstände, auch wenn für diese Kontexte
der gegenstandshafte Ausgangspunkt selten rekonstruiert werden kann, wie
es beispielsweise in Teilen der Sprache (19) und Bilder der Fall ist.
Wozu nun diese Unterscheidung der beiden Bedeutungskonstituierungen durch
ein Individuum? Die meisten Theoretiker, die zur Wahrnehmung auf soziologischer
Ebene einen Standpunkt einnehmen, gehen zutreffend davon aus, daß
wahrgenommene Objekte im Bewußtsein durch Bedeutung aktualisiert werden.
Problematischer wird es, sobald sie für jede Wahrnehmung annehmen,
diese würde in Abhängigkeit von sozial segmentierter Gegenstands-
oder von Zeichenbedeutung ein Bewußtsein erlangen. Im Grundtenor gehen
sie entweder davon aus, daß ein Wahrnehmungsbewußtsein vorherrscht,
welches sich größtenteils infolge verbaler Sprache und anderen
Zeichen strukturiert, oder sie gehen von einem Wahrnehmungsbewußtsein
aus, welches sich sehr an körperlicher Erfahrung der kulturellen Gegenstände
und deren Gegenstandsbedeutung orientiert. Die hier getroffene Unterscheidung
deutet auf Theorien, die sich um zwei Bedeutungskonzeptionen drehen: einerseits
verpflichtet die materialistische Auffassung die Bedeutung eines wahrgenommenen
Gegenstandes darauf, wie sie sich aus gesellschaftlichen Standorten des
Individuums im Zusammenhang mit dessen Tätigkeit konstituiert, und
andererseits soll in eher idealistischer Auffassung die wahrgenommene Wirklichkeit
ganz und gar von Zeichenbedeutung vorgesteuert sein, d.h. hauptsächlich
von verbaler Sprache und anderen vollständigen Zeichen [vgl. Sauerbier
1977/154]. Wie wird aber ein Wahrnehmungsaspekt mit Bedeutung belegt, wenn
schon vorgängig immer Bedeutung dafür sorgen soll, daß der
Gegenstand Bild oder das visuelle Zeichen im Bewußtsein präsent
wird? In sozialpsychologischer Fragestellung lösen die gleich zu benennenden
Theoretiker dieses Problem scheinbar, indem sie davon ausgehen, daß
sozial konstruierte Gegenstands- und Zeichenbedeutungen unablässig
individuelle Wahrnehmungsinhalte festlegen. Sobald aus dieser Fragestellung
jedoch die Prämisse des Sozialen gestrichen werden könnte, wäre
zumindest für Bilder eine visuelle Wahrnehmung möglich, bei der
keineswegs ausschließlich sozial vermittelte Bedeutungen relevant
werden. Für visuelle Wahrnehmung in ihren individuellen Möglichkeiten,
wie von Metzger [s.S. 53] betont, besteht keine Notwendigkeit, die
sie permanent mit sozialen Bedeutungen dirigieren würde. Kann sich
also die visuelle Bildwahrnehmung des Individuums zumindest partiell unabhängig
von gesellschaftlichen Bedeutungsmustern strukturieren?
Mit der Bedeutung greifen die beiden angesprochenen Theoriestandpunkte Wahrnehmung
als ein soziales Phänomen auf. Mit dem Begriff »Bedeutung«
wird Wahrnehmung nicht ausschließlich als psychische Informationsgewinnung
verstanden, sondern im Sinne Luhmanns als eine "Artikulation doppelter
Kontingenz", (20) indem in diesen Theorien wahrgenommen wird, daß
Bedeutung im Verhalten oder Denken des Individuums wahrgenommen wurde.
"In sozialen Situationen kann Ego sehen, daß Alter ["der
andere"] sieht; und kann in etwa auch sehen, was Alter sieht."
[Luhmann 1987/560]
Was also die materialistische und idealistische Auffassung beschreibt, findet
sich in der sozialen Situation der doppelten Kontingenz. Die Theorie sieht
in etwa, wie sich jemand während der Wahrnehmungssituation verhält
oder verbal mitteilt. Jedoch fehlt in diesen beiden Auffassungen die Einsicht,
daß Sprache, Reaktion oder Handlung nur als Indikator für das
Vorhandensein von Bewußtsein gewertet werden können [hierzu Ciompi
1992/144]. Am Beispiel der Documentabesucher [s.S. 55] ließ sich
erkennen, daß sie die Bilder mit verbalen Bedeutungsäußerungen
sofort in die soziale Situation der Kommunikation hineinholten, und genau
dies beschreiben folgerichtig auch die betreffenden Theoretiker; warum und
wie sollten sie sich auch für etwas engagieren, was in der sozialen
Situation scheinbar keine Relevanz hat, nämlich die psychische Informationsgewinnung
durch Wahrnehmung. Man muß jedoch präsent haben, daß die
visuelle Information, die für die Wahrnehmung zur Verfügung steht,
radikal verschieden ist von der, die wir weitergeben und über die wir
reflektieren [vgl. Gibson 1982/58; Rorty 1987/211].
Innerhalb der einfachen Kontingenz des Individuums, also einer vorsozialen
Situation, läßt sich die Wahrnehmung im Peirceschen Sinne der
Kategorie der Zweitheit bereits möglicher Verwirklichungen zuschreiben.
Denn geht man von konstanter Materialität eines optischen Gegenstandes
aus, so werden dessen optische Qualitäten (z.B. Formen, Farben) trotzdem
von jedem Individuum unterschiedlich in der psychischen Wirklichkeit [Zweitheit]
konstruiert bzw. die psychische Informationsgewinnung bleibt individuell
vielgestaltig. Und genau dies beschreibt Luhmann als eine Kontingenz, die
zwar nicht das absolut Mögliche einbezieht, sofern sie das Unmögliche
ausschließt, die aber das offen läßt, "... was
von der Realität [Drittheit] aus gesehen anders möglich ist"
[Luhmann 1987/152; s.S. 62 Fußn. 20]. Im auch anders Möglichen
behält sich das Individuum in Graden eine Situation vor, in der es
seine Wahrnehmung unabhängig von kommunikativen und interpersonalen
Bedeutungskontexten strukturiert. Beispielsweise legen es künstlerische
Bilder darauf an, etwas zu visualisieren, was, von der kommunizierten Realität
aus gesehen, eben auch anders möglich sein kann. An und mit künstlerischen
Bildern lassen sich Wahrnehmungsofferten kreieren, die sich in individuell
vielgestaltigen Realitätskonstruktionen von gesellschaftlichen Notwendigkeiten
emanzipieren. Trotzdem formulieren Individuen künstlerische und andere
Visualisierungen nach Merkmalen, die nicht ausnahmslos auf individuellen
Möglichkeiten der Verwirklichung (Freiheiten) beruhen, sondern auch
auf optischen (ikonischen) Darstellungscodes (Notwendigkeiten). In diesen
Darstellungscodes sind Bilder so angelegt, daß sie die Möglichkeit
von Bedeutungskonstruktion nicht grundsätzlich verhindern, sondern
in manchen Zeichenmitteln eine kulturgebundene Codierung (Form/Gestaltung)
aufweisen, die mögliche Ähnlichkeiten bedeutungsoffen wiedererkennen
läßt [s.S. 34 (Zeichenmittel), 38 (Ikon)].
Das Bisherige soll nicht verschweigen, daß Individuen ihre visuelle
Wahrnehmung nicht auch oft nach sozial beeinflußten Bedeutungsmustern
ausrichten. Es ist sicherlich zutreffend, wenn in idealistischer Anschauung,
die im wesentlichen auf Benjamin Lee Whorf [vgl. 1963/100ff.] zurückgeht,
dem individuellen Wahrnehmungsfeld eine Abhängigkeit vom sprachlich
strukturierten Bewußtsein zugeschrieben wird. Auch die wahrnehmungstheoretischen
Aussagen in der Denkweise des historischen Materialismus von Rubinstein
und Holzkamp treffen mit dem Begriff der Gegenstandsbedeutung einen Teil
sozial geprägter Bedeutungsmuster. Die berechtigte Kritik von Holzkamp
an Whorf drängt darauf, daß das sprachlich strukturierte Bewußtsein
nicht so verstanden werden darf, "... als ob das Bewußtsein
mit der Sprache erst »entstünde«, wobei »Bewußtsein«
generell keineswegs als selbständige Entität aufzufassen ist:
»bewußt« ist vielmehr eine Qualität menschlicher
Tätigkeit" [Holzkamp 1973/155]. Holzkamp [vgl. 1973/25ff.] und
Rubinstein [vgl. 1966/90ff.] versuchen die Sprache als eine ideologische
Einflußgröße zu betrachten, die in ihrer Ausrichtung auf
die historische Entwicklung der Wahrnehmungsgegenstände bezogen bleibt;
Wahrnehmung ist bei ihnen eine Frage des gesellschaftlichen Bewußtseins
der Gegenstandsbedeutung, welche von ideologischer Symbol- (21) (Sprach-) Bedeutung
beeinflußt wird. Mead [vgl. 1988/114ff.] und Morris [vgl. 1973/94ff.]
hingegen meinen einen pragmatischen Berührungspunkt zu erkennen, indem
sie die Wahrnehmung der Dinge an eine pragmatische Zeichen- (Sprach-) und
Gegenstandsbedeutung gebunden sehen. Die Wahrnehmung hängt bei ihrer
Theorie von ungleichen Bedeutungskonstruktionen im Verhalten und Denken
ab.
Diese allerdings weder willkürlich noch repräsentativ ausgewählten
Standpunkte lassen vordergründig vermuten, daß das Sehen von
Gegenständen und Bildern seinen universellen Modus im präsenten
Wissen der individuellen Zeichen- und Gegenstandsbedeutung findet. Was jedoch
in diesem nach Bedeutung ausgerichteten Bewußtsein fehlt, ist die
visuelle Informationsaufnahme selbst, die einer Information überhaupt
erst die Möglichkeit einer Bedeutung bietet. Denn wie sollte ein des
Sehens unbefähigter Mensch der Bedeutung eines Bildes, einer Farbe
oder eines Gegenstandes bewußt werden und sich daraufhin verhalten
oder verbal mitteilen. Auch wenn ihm die Bedeutungen der Farben kommunikativ
mitgeteilt würden, so bliebe es für ihn dennoch dunkel. Deshalb
kommt Luhmann zu dem treffenden Schluß,
"... daß das Bewußtsein im Wahrnehmen bzw. in der
anschaulichen Imagination eine für Kommunikation unerreichbare Eigenart
besitzt. Die Wahrnehmung selbst ist nicht kommunizierbar, denn nur Kommunikation
ist kommunizierbar. Sicher kann sich Kommunikation wie auf alles so auch
auf Wahrnehmung beziehen; aber dies nur, weil diese Möglichkeit durch
vorherige Kommunikation schon entwickelt worden ist, also nur im rekursiven
Netz der durch Kommunikation ermöglichten Kommunikation." [Luhmann
1992/20]
Um sich in diesem theoretischen Sinn eines Bildes bewußt zu werden,
bedarf es neben den aus der Kommunikation hergeleiteten Bedeutungen auch
der visuellen Wahrnehmung optischer Bildstruktur. Als Bewußtseinsereignis
geht die visuelle Informationsaufnahme nicht in kommunizierbaren Mitteilungen
auf. Sie verläuft in individuellen Bereichen der einfachen Kontingenz
(Möglichkeit) bei hoher Komplexität, d.h., man sieht im Rahmen
seiner visuellen Möglichkeiten mehr, als man in Mitteilungen kommunizieren
kann. In dieser Wahrnehmungssituation entpflichtet sich das Bewußtsein
von Kommunikation oder ist möglicherweise auch außerstande etwas
mitzuteilen. Das bewußte Individuum ist somit durchaus befähigt,
sich vorkommunikativ seiner Wahrnehmung hinzugeben. Wenn aber das individuelles
Wahrnehmungsbewußtsein als solches mittels Zeichen unkommunizierbar
ist, dann fällt es aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang (sozialen
System) heraus, es wäre unvergesellschaftet. Und genau dies ist der
Sachverhalt: die visuelle Kommunikation (22) mittels von Bildern arbeitet mit
optischen Informationen, die nicht ausschließlich auf der Ebene von
Zeichenbedeutungen (Mitteilungen) sichtbar werden, sondern auch auf der
Ebene der Wahrnehmung von Bildern selbst, und hier auch noch höchst
abhängig von kulturgeprägten Fähigkeiten des Individuums.
Aus diesem Grund kann die visuelle Informationsgewinnung als unvergesellschaftet
betrachtet werden, obwohl Individuen und Bilder für gewöhnlich
nicht unvergesellschaftet sind. Wie ist dies zu verstehen?
Beispielsweise würde ein unbekanntes Objekt auf einem Bild noch eine
Zeichenbedeutung erreichen, wenn es durch Unbekanntheitsbekundungen eingegrenzt
wird. Probleme gäbe es, sobald die visuelle Informationsgewinnung im
Mittelbezug (Farbe, Form) chaotisch oder natürlich wäre, dann
nämlich könnten auch keine Zeichen kommuniziert werden, obwohl
etwas gesehen wird, nämlich nichts von einer Zeichenbedeutung. Dieser
Fall zeigt: aus dem Sehen selbst entspringt als Fähigkeit der Informationsaufnahme
keine kommunizierbare Bedeutung; das Sehen stellt lediglich die Möglichkeit
bereit, Bedeutungen der visuellen Kommunikation zu interpretieren, es ist
der »vorobjektive Bereich« der visuellen Empfindung, wie Merleau-Ponty
[vgl. 1966/31] schreibt. Daß Bilder in Kulturen diese kommunikative
Möglichkeit fast fast immer anbieten, verweist einerseits auf die kulturelle
Abhängigkeit der Bildproduktion und andererseits auf die visuelle Vertrautheit
des Betrachters mit den Möglichkeiten der optischen Darstellung, konkret
beispielsweise auf die perspektivische Anschaulichkeit des uns so vertrauten
ikonischen Zeichens (scheinbare Ähnlichkeit des Fotos mit dem Objekt)
[vgl. Wollheim 1982/117; s.S. 40]. Diese kulturellen Möglichkeiten
der Form und Farbe sind es, die uns die Wirklichkeit des Bildes wahrnehmen
lassen.
Vor dem bisher unbegründeten Hintergrund, daß sowohl die Wahrnehmung
als auch die Produktion von Bildern partiell in kultureller Dependenz steht,
kann die visuelle Informationsgewinnung insofern nicht als unvergesellschaftet
beschrieben werden, als Kultur und Gesellschaft jedes individuelle Bewußtsein
mit ihrem unzertrennlichen Band umgarnen. Als unvergesellschaftet lassen
sich Wahrnehmungen aber dort charakterisieren, wo sie sich - wie Luhmann
[vgl. 1992/63, 38, 21] hervorhebt - ausschließlich innerhalb
des psychischen Systems ereignen, dessen visuelle Informationsgewinnung
kaum an kommunikative Zeichenbedeutungen und soziale Systemen orientiert
ist. Wenn aber kulturelle Bildformen (scheinbar oder unbewußt) ausschließlich
ohne Zeichenbedeutung wahrgenommen werden würden, dann wäre diese
visuelle Informationsgewinnung außerhalb sozialer Bedeutungskontexte
einem vorkommunikativen Bewußtsein zuzurechnen. Das vorkommunikative
Bewußtsein zeichnet sich dann dadurch aus, daß es als Wahrnehmungsbewußtsein
die Wirklichkeit für Gegenstandsbedeutungen bereitstellt, ohne als
solches in kommunikativen Zeichenbedeutungen aufzugehen. Damit die Kommunikation
der Zeichenbedeutungen in Gang kommen kann, muß uns nämlich der
optische Aufbau des kulturellen Bildmediums, also eine erste Ordnung, vorkommunikativ
vertraut werden. Insofern steht das vorkommunikative Bewußtsein in
der Kategorie Zweitheit (Wirklichkeit in der Drittheit) (23). Ohne diese Wahrnehmung
bildlicher Codierungen wäre visuelle Kommunikation, die Zeichenbedeutung
interpretierbar macht, aussichtslos. "... Jedes Wahrnehmungssystem
[muß] für sich die Raum- und Objektwelt, die Körperwelt
usw. konstituieren ..." [Roth 1991/363], bevor es in die Kommunikation
der Zeichenbedeutungen eintritt. Trotzdem sind Bedeutungen (Bewertungen)
und psychische Informationsgewinnung des visuellen Systems auf neuronaler
Ebene untrennbar verbunden, wie Roth [vgl. 1991/366] betont. Ein vorkommunikatives
Bewußtsein kommt demnach nicht ganz und gar ohne Bedeutungen aus.
Nachdem Implikationen von Bedeutung und Wahrnehmung in groben Zügen
umrissen sind, kann dies vom Bewußtsein nicht gesagt werden. Wenn
im folgenden das Wahrnehmungsbewußtsein im vorkommunikativen Sinne
beschrieben wird, dann muß der von Merleau-Ponty erwähnte »experience
error« vermieden werden, "... indem man, was wir von den
Dingen wissen, unserem unmittelbaren Bewußtsein von den Dingen zuschreibt"
[Merleau-Ponty 1966/23]. Das, was von den Dingen gewußt wird, wird
häufig als das beschrieben, was in finalen Interpretanten registriert
wurde, aber nicht als das, was nach der Empfindung von Qualitäten [Erstheit]
wahrgenommen wurde; d.h., der finale Interpretant geht an dem vorbei, was
wir in der visuellen Strukturierung wahrgenommen haben. Auch hier tritt
nochmals die Luhmannsche Trennung zwischen Bewußtsein (psychischem
System) und Kommunikation (sozialem System) auf. Die Qualitäten (Farbe,
Form s.S. 23) werden nämlich nicht selbst als Bedeutung kommuniziert.
Um das Wahrnehmungsbewußtsein von Qualitäten zu erläutern,
müssen hier phänomenologische Begründungen herangezogen werden. (24)
Wenn man ein Bild betrachtet, sieht man meistens auch »etwas«
auf dem Bild; dieses »Etwas« ist normalerweise ein Zeichen,
das »etwas« anderes darstellt, z.B. ein Ding oder eine Vorstellung.
Das Zeichen erscheint selbst als »etwas«, was für »etwas«
anderes steht. Die Frage bleibt jedoch, wie es dazu kommt, daß das
Zeichen als etwas gesehen wird, was wir bewußt wahrnehmen. Denn bevor
das Zeichen als Zeichen bewußt wird, muß es schon etwas sein,
weil es erst dann zu etwas wird, was etwas anderes bezeichnet, wenn es bereits
gesehen wurde. Dieses Problem spricht die Phänomenologie von Merleau-Ponty
[vgl. 1966] und Husserl [vgl. 1980] an. Bei ihnen ist Bewußtsein immer
ein »Bewußtsein von etwas«, von einer Sache, einem Ding,
einem Gegenstand, einem Bezug und auch von einem Bild. Zum »Bewußtsein
von etwas« gehört, daß es das Fürwahrhalten der gegenständlichen
Anwesenheit impliziert, insofern es auf einen Gegenstand gerichtet ist,
also auch Bedeutung konstituiert. (25) Demnach tritt auch die Gegenstandsbedeutung
als eine Kategorie des Bewußtseins auf. Da aber der Gegenstand Bild
in erster Wahrnehmungserfahrung »etwas« ist, was nicht notwendig
als Zeichen wahrgenommen werden muß, kann das »Etwas«
ein Zeichenmittel oder aber auch ein Gegenstand sein. Der Begriff »etwas«
kennzeichnet somit eine erste Unterscheidungsleistung, die das Wahrnehmungsbewußtsein
als Zweitheit einer bewußten Seherfahrung herbeiführt.
Worauf es außerdem ankommt, ist die Ebene des Bewußtseins, die
vor dem »Bewußtsein von etwas« liegt. Auf dieser vorbewußten
Ebene basiert das Moment, welches in der Phänomenologie Merleau-Pontys,
der Wahrnehmungstheorie Gibsons bzw. Holzkamps und der Theorie des radikalen
Konstruktivismus, grob vereinheitlichend gesagt, als eine kognitive Organisation/Konstruktion
von Wahrnehmung erfaßt wird. Sofern wir die kognitive Organisation
von Wahrnehmung nicht selbst wahrnehmen können, gehört sie zur
Erstheit. Über sie und ihre Möglichkeiten kann nur Spekulatives
gesagt werden.
Unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit [Erstheit] für eine Wirklichkeit
[Zweitheit] kommt die kognitive Organisation des Sehens vermutlich einer
visuellen Konstruktion gleich, in der sich ein »Etwas« bewußt
vergegenwärtigt. Und auch Husserl macht hier eine ähnliche Unterscheidung.
Er geht davon aus, daß die sinnlichen Stoffe oder Empfindungsinhalte
(von Qualitäten) die primären Inhalte dafür sind, ein Erlebnis
im intentionalen »Bewußtsein von etwas« zu haben [vgl.
Husserl 1980/172 §85].
"»Alle Erlebnisse sind bewußt«, das sagt also speziell
hinsichtlich der intentionalen [von Repräsentation begleiteten] Erlebnisse,
sie sind nicht nur Bewußtsein von etwas und als das nicht nur vorhanden,
wenn sie selbst Objekte eines reflektierenden Bewußtseins sind, sondern
sie sind schon unreflektiert als »Hintergrund« da und somit
prinzipiell w a h r n e h m u n g s
b e r e i t in einem zunächst analogen
Sinne, wie unbeachtete Dinge in unserem äußeren Blickfelde."
[Husserl 1980/83f. §45]
Mit der von Rorty [vgl. 1987/35ff.] bemerkten Einschränkung, daß
Intentionalität an Repräsentation gebunden ist, deutet Husserl
darauf hin, wie in jenem (kognitiven) Hintergrund phänomenale (Bild-)Wahrnehmungen
vorliegen, die zumindest ohne Zeichenbedeutung potentiell in ein erlebendes
»Bewußtsein von etwas« hinüberschwappen, also zumindest
noch ein Erlebnis von Gegenstandsbedeutung und gegebener Anwesenheit erwecken.
Merleau-Ponty macht einen Vorschlag zum Wahrnehmungsbewußtsein der
Dinge. Er schreibt:
"Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen. ... Doch
wenn es auch das Wesen des Bewußtseins ist, seine Phänomene zu
vergessen, um dadurch die Konstitution der 'Dinge' zu ermöglichen,
so ist doch diese Vergessenheit nicht eine einfache Abwesenheit, vielmehr
die Abwesenheit von etwas, das das Bewußtsein sich zu vergegenwärtigen
vermag. M. a. W.: das Bewußtsein kann die Phänomene nur vergessen,
weil es sie auch zu erinnern vermag, es geht über sie nur hinweg zugunsten
der Dinge, weil sie die Wiege der Dinge sind." [Merleau-Ponty 1966/82]
Merleau-Ponty beschreibt gewissermaßen das Beispiel der Documentabesucher,
die die veranschaulichten Dinge sehen und ihnen Bedeutungen zuschreiben,
aber nicht mehr wissen, wie es dazu kommt, daß sie das Dargestellte
im Bild sehen können. Die "Wiege der Dinge", also der Prozeß
der psychischen Konstruktion von Wahrnehmungen, ist durch die Dinge und
deren Bedeutung verschüttet. Hier findet sich der blinde Fleck, den
wir nicht sehen, weil wir nicht sehen, wie wir sehen, sondern nur, daß
wir »etwas« sehen. Augenfälliger gesagt: wir sehen nicht,
was wir nicht sehen, da wir den perspektivischen Ausgangspunkt, von wo aus
wir sehen, nicht ins Blickfeld bekommen. Was also nicht gesehen werden kann,
sind die unsichtbaren, vor dem Bewußtsein liegenden kognitiven Strukturen (26)
der Konstruktion von visueller Wahrnehmung und die Kriterien, nach den zwei
Empfindungen in Differenz zueinander wahrgenommen werden. Denn erst die
Differenz oder Unterscheidung von visuellen Empfindungen (Farben/Formen)
ermöglicht die Realität/Wirklichkeit von »etwas« Gesehenem
[s.S. 28 (Zweitheit), 28 Fußn. 8 (Zitat Luhmanns)]. Zum
Beispiel wird man bei einem monochrom schwarzen Bild nicht vermuten, daß
dort schwarz gekleidete Personen bei Nacht illustriert sind. Erst wenn sie
vom Hintergrund farblich unterscheidbar sind, können sie tatsächlich
als »etwas«, als undefinierbare Einheiten oder Personen erkannt
werden. Die Einheit von »etwas« bleibt mit der Fähigkeit
des Unterscheidens selbst verbunden.
Daß diese Fähigkeit der Unterscheidung von Einheiten kulturell
und lebensweltbezogen differiert, weiß man z.B. von den viel zitierten
Eskimos, die vielleicht noch immer viele verschiedene Schneesorten aufgrund
ihrer vielen Worte für Schnee unterscheiden. Entgegengesetzt dazu erreichen
senegalesische Wolof-Kinder lebenspraktisch eine stärkere Differenzierung
von Farben, als ihre Sprache (27) eigentlich hergibt [vgl. Greenfield 1971/336],
aber auch Künstler (z.B. Ad Reinhardt) nehmen Farben häufig differenzierter
wahr als Nicht-Künstler. Nicht nur die Bedeutungsstrukturen hängen
vom Standort und Gesichtspunkten ab, sondern auch die Herausbildung spezifischer
Wahrnehmungsfähigkeiten. Und insofern diese Wahrnehmungsfunktion nicht
selbst bewußt wird, ist sie dennoch ein vorbewußtes »Ereignis«
mit phänomenalen Eigenschaften. Um Bilder und visuelle Kommunikation
zu verstehen, darf die Frage nach dem Phänomen des Sehens nicht fortfallen,
da wir nur schwer nachvollziehen können, wie wir es gelernt haben,
Bilder und Unterschiede/Differenzen wahrzunehmen. Sehen soll deshalb zunächst
nicht als Zeichenkonzeptualisierung, sondern als vorkommunikative Sinnesschöpfung,
d.h. vom visuellen Sinn her, betrachtet werden. Für diese Untersuchung
des Sehens muß man präsent haben, daß die Wahrnehmung für
das Individuum selbst im Zeitverlauf nicht dieselbe bleibt, und überdies
jedes Individuum (psychisches System) unterschiedliche Wahrnehmungsfähigkeiten
erreicht, obwohl kommunizierte, hauptsächlich verbale Zeichen repetitiv
gleichartig geäußert werden.
Das Bisherige rekapitulierend, wurden Theorien angesprochen, die die soziale
und kommunikative Dimension des Sehens unter der Prämisse des bewußten
Wissens um Bedeutung thematisieren. Sehen unter dieser Prämisse ist
vermutlich - wie sich zeigen wird - partiell von Kultur inspiriert.
In der Weise nämlich, wie die betreffenden Theorien sich zur Wahrnehmung
stellen, kann die vergesellschaftete Kultur durchaus die vom Bewußtsein
abhängige Wahrnehmung durch Bedeutungen dort beeinflussen, wo sie dem
individuellen Bewußtsein Gegenstands- und Zeichenbedeutungen (28) präsentiert,
ohne daß das Individuum unbedingt realisiert, welche Wirkung diese
Bedeutungen auf seine Wahrnehmung ausüben. Wie sich jedoch gezeigt
hat, bleibt in diesen Theorien unbefragt, ob nicht eine visuelle Konstruktion
für das Individuum vorherrscht, die sich der Frage einer Gegenstands-
oder Zeichenbedeutung aufgrund der Unsichtbarkeit entzieht. Mit anderen
Worten, unbefragt bleibt, wie die Wahrnehmung strukturiert sein muß,
damit ein »Bewußtsein von etwas« möglich wird, um
Bedeutungen und Kommunikation zu interpretieren. Zu diesem Zweck soll das
Sehen von Bildern zunächst auf der Ebene der visuellen Wahrnehmung
des Individuums untersucht werden. Diese Ebene möchte ich als Erstheit
eines visuellen Vor-Bewußtseins kennzeichnen, damit ein Bereich der
Möglichkeiten in Betracht gezogen wird, wie und in welcher Weise eine
Wahrnehmungspraxis des »Bewußtseins von etwas« [Zweitheit]
sich über die Bedeutung eines Gegenstandes oder Zeichens informieren
kann.
Gibson vermutet:
"Bedeutung und räumliche Charakteristika sind nicht völlig
voneinander zu trennen; Bedeutung ist von Farbe, Form und Textur nicht ganz
und gar ablösbar. Symbolische [Zeichen-]Bedeutungen aber scheinen von
ihren Gegenständen ablösbar zu sein und sind vermutlich gelernt."[
Gibson 1973/311]
Diese Vermutung verweist darauf, daß das visuelle Vor-Bewußtsein
wahrscheinlich über Strukturen verfügt, die nicht nur in der Bedeutung
repräsentiert sind, sondern auch im Vor-Bewußtsein von Farbe
und Form, also vor dem »Etwas« liegen.
Im Grunde genommen beschäftigen sich die folgenden Kapitel damit, ob,
und wenn wie, ein kulturell geprägtes Unbewußtes in der visuellen
Wahrnehmung zum Tragen kommt. Sozusagen ist der Stil oder die Struktur gemeint,
wie Merleau-Ponty [vgl. 1966/517] es nennt, die mit der Existenz zu existieren
beginnt und dem Individuum die »Mittel« und Möglichkeiten
gibt, in die Kommunikation bzw. visuelle Kommunikation einzutreten. Ein
Indiz für eine kulturgeprägte Struktur findet sich in den wiederkehrenden
Formen und Farben von Bildern verschiedener Kulturen und kultureller Epochen.
Für eine solche Untersuchung muß jedoch analysiert werden, welchen
Abhängigkeiten und Beeinflussungen das visuelle Bewußtsein des
Betrachters und des Produzenten von Bildern ausgesetzt ist, um Bedingungen
für eine kulturelle Homogenität der bildlichen Gestaltung aufzuspüren.
Für Aussagen über die Struktur eines visuellen Bewußtseins
ist bisher offen geblieben: 1) inwiefern das visuelle Bewußtsein in
der Bildbetrachtung von sprachlich strukturierter Bedeutung in seiner Ordnung
bestimmt ist; 2) ob es kraft der Gegenstandsbedeutung des Bildes in seine
Struktur gedrängt ist; 3) wie die optische Segmentierung von Bildern
es in seiner Struktur bestimmt hat; 4) oder in welcher Weise ein Bewußtsein
vorhanden ist, das sich in selbstreferentieller Strukturierung seine Voraussetzungen
geschaffen hat. Diese vier Aspekte werden den weiteren Fortgang der Untersuchung
bestimmen. Ersichtlich sollte sein, daß die beiden letzten Ungewißheiten
bezüglich des Bewußtseins, entgegen der beiden ersteren, nicht
die Strukturierung allein durch Bedeutung betreffen, sondern die psychische
Eigenstrukturierung der visuellen Wahrnehmung. Wenn diese Punkte geklärt
sind, dann zeigt sich auch die soziologische Relevanz, dann nämlich
läßt sich ersehen, wie und wann Regeln und "Wahrheiten"
im speziellen Fall von Bildern an Kultur, Gesellschaft, Wahrnehmung oder
an Lebenstätigkeit des Individuums gebunden sind; und im weiteren wird
sich auch verdeutlichen, wie und wann individuelle Bewußtseinskonstruktionen
auf soziale Lebenskonzeptualisierungen bezogen bleiben. Daß diese
zwei letzten Sätze der Husserlschen Phänomenologie ähneln,
ist nicht zufällig, sondern beruht auf den Ausführungen von Brauner
[vgl. 1978/96f.].
---Fußnoten----
(17)
"Es ist nicht statt seiner ein Bild oder ein Zeichen gegeben. Man unterschiebe
nicht dem Wahrnehmen ein Zeichen- oder Bildbewußtsein." [Husserl
1980/79]
(18)
Hier ist die uranfängliche Wahrnehmung gemeint, die nicht das Ergebnis
kritischer Einstellung oder vorgängiger Synthese ist [vgl. Merleau-Ponty
1966/282].
(19)
Luhmann, Morris [vgl. 1934/18] Ciompi [vgl. 1992/146ff., 173] und die These
von Willard van Orman Quine [vgl. 1980/37ff.] gaben bereits den Hinweis,
"... daß Sprachlernen ohne nichtsprachlichen Hinweis auf
Dinge der Außenwelt nicht möglich ist und die Sprache deshalb
auch nie ganz aus sich selbst heraus Realität konstruieren kann"
[Luhmann 1990/56]. Ebenfalls trifft für Bilder zu, daß sie einem
Individuum ohne Wirklichkeitserfahrung und deiktische/indizierende Zeichen
[Zweitheit] keine Realitätsvorstellungen [Drittheit] skizzieren werden.
(20) "Kontingent
ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so,
wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.
Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes,
Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet
Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene
Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern
das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. In diesem
Sinne spricht man neuerdings auch von »possible world« der einen
realen Lebenswelt. Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff
als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt."
[Luhmann 1987/152] "Zum
Unterbau, der im Theorem der doppelten Kontingenz vorausgesetzt ist, gehören
hochkomplexe sinnbenutzende Systeme, die für einander nicht durchsichtig
und nicht kalkulierbar sind. Dies können psychische oder soziale Systeme
sein. Wir müssen von deren Unterschied einstweilen absehen und sprechen
deshalb von »black boxes«. Die Grundsituation der doppelten
Kontingenz ist dann einfach: Zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher
Zufälle immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten
durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen.
Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt
das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung
und bei allem Zeitaufwand (sie selbst sind immer schneller!) füreinander
undurchsichtig." [Luhmann 1987/156]
(21)
Symbol- (Sprach-) Bedeutung bei Holzkamp erreicht nicht die begriffliche
Weite der bisher genannten Zeichenbedeutung, weil das Symbol und das ikonische
Symbol nicht alle Formen des Objektbezugs kennzeichnen [vgl. Holzkamp 1973/25
u. 148].
(22)
Hier muß ich dem Kap. 2.4. "Warum ist Wahrnehmung keine
Kommunikation ...?" vorgreifen, indem hier schon Information als
sensuelles Ereignis (psychischer Informationsgewinnung) im Unterschied zur
Nachricht als kommunikatives Ereignis aufgegriffen wird [s.S. 108].
(23)
S.S. 31 Bewußtsein ist selbst eine Drittheit, da der Mensch im
Sinne der Erst-, Zweit- und Drittheit auf Gegenstände reagiert.
(24)
Selbst Luhmann versucht Phänomenologie mit Systemtheorie zusammenzuführen
[vgl. Luhmann 1987/153ff.]
(25)
Vgl. die sprachanalytische Untersuchung von Ernst Tugendhat [vgl. 1976/102f.],
in der er sprachanalytisch zeigt, daß "Bewußtsein-von-etwas"
immer in dem Fürwahrhalten eines Existenzsatzes fundiert ist. Dennoch
räumt Tugendhat ein, daß dies für vorzeichenhafte Bewußtseinsweisen
nicht gilt. "Aber das Bewußtsein kann sich desselben Gegenstandes,
das ihm durch das Zeichen vergegenwärtigt wird auch ohne das Zeichen
bewußt sein" [Tugendhat 1976/180].
(26)
Als eine »kognitive Struktur« des psychischen Systems verstehe
ich ein unspezifisches, aber organisiertes System von Transformationen früherer
Wahrnehmungen und Erfahrungen [vgl. Neisser 1974/358ff.].
(27)
Vgl. auch H. und B. Bayer, die in materialistischer Perspektive davon ausgehen,
"... daß alle Arten der Sensibilität von der praktischen
Tätigkeit abhängen, bei der sie entstanden sind ..."
[Bayer 1980/262f.]. Dementgegen verweist Barbara B. Lloyd [vgl. 1972/42]
darauf, daß in der Sprache der Zuni die Farben Gelb und Orange in
einer Kategorie erfaßt werden, und demzufolge keine Differenz wahrgenommen
wird, weil die Sprache diese Realitätskonstruktion nicht bietet.
(28)
"Wahrscheinlich gibt es eine 'embryonale Bedeutung', die mit einer
'embryonalen Wahrnehmung' einhergeht" [Gibson 1973/305]. Folglich kommen
vermutlich ungelernte Bedeutungen vor, dennoch ist jene "embryonale
Bedeutung" keiner kommunikativen Zeichenbedeutung gleichzusetzen.
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2.2. Kann Sehen Sprache sein, und
warum figurieren Bilder nicht ausschließlich wie Zeichen? |
Inhaltsverzeichnis Anfang |
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Gewiß ist einsehbar, daß dem jetzt folgenden Kapitel die sprachphilosophische
Untersuchungen, die die Verflechtungen von Sprache, Zeichen, Denken und
Sehen ermitteln, im Zusammenhang mit Bildern zu fern liegen, als daß
sie hier gründlich erörtert werden könnten. Die verhältnismäßig
mühelose Bildbetrachtung macht zumindest deshalb von sich reden, weil
ihre patrouillierende Erkundung des Bildes niemals vollständig durch
Worte ersetzt oder gar übersetzt werden kann. Nicht zu jedem Bild gibt
es verbale und andere Ausdrücke, und nicht zu jedem Ausdruck gibt es
ein Bild. Beispielsweise ringen Nachrichtenredaktionen des Fernsehens täglich
darum, passende Bilder zu Worten zu finden, um die rabiate Ambition audiovisueller
Technik einzulösen. So halten Redakteure manche verbalisierten Nachrichten
zurück, wenn ihnen deren ikonische Illustration des Zeitgeschehens
fehlt oder zu unspektakulär scheint. Auf der anderen Seite bleiben
Bilder sozusagen postlagernd zurück, weil sie von Sprache nicht abgeholt
werden können. Wo diese sprachliche Abholung der Botschaft am unübersichtlichsten
scheint, stehen Bilder oft in Kunstkontexten. Denn künstlerische Bilder
halten dem Ersatz durch Worte stand, weil jedes Wort zwar die Bilderfahrung
zum Verschwinden bringt, aber nicht das Bild. Andererseits geht die Motivation,
ein Bild für die bildende Kunst oder für Televisionsanstalten
zu produzieren, oft aus der Sachkenntnis hervor, daß für Bilder
adäquate Worte unauffindbar sind, die das gleiche zeigen und als Erlebnis
erzeugen. Bilder zeigen in den häufigsten Fällen etwas, wofür
es an adäquaten Worten mangelt und selten etwas, wofür auch Worte
stehen könnten.
Jene vagen Verwendungsbeziehungen von Sprache und Bildern beschreiben bisher
wenig. Wie unterscheiden sich diese beiden zunächst formal voneinander?
Für den Begriff der »Sprache« definierte Morris [vgl. 1973/113f.]
fünf Kriterien, die für Bilder hier im Widerspruch aufgenommen
werden. Erstens setzen sich bildliche Zeichen nicht aus einer Vielzahl von
Zeichen im ikonischen Sinne zusammen; ein Bild, d.h. die visuell wahrnehmbare
Bildfläche, bietet sich oftmals in einteiliger Singularität dar,
obwohl es in der syntaktischen Form in variierter Replikation zu anderen
Bildern steht. Dagegen inszenieren Individuen Sprache, indem sie auf eine
Sammlung von symbolischen Zeichen zurückgreifen. Zweitens verfügen
ikonische Objektbezüge selten über interpersonale Bedeutungen,
die von Mitgliedern einer Interpretengruppe relational übereinstimmend
nachvollzogen werden. Bilder bezeichnen etwas o h n e jegliche
Bedeutungsstabilität. Verbale Symbole führen zumindest in gewissem
Grad zu übereinstimmendem Bedeutungsverstehen. Drittens sind Bilder
und Sprache von Mitgliedern der Interpretengruppe in der Syntaktik interpersonal
herstellbar, obwohl selten g l e i c h e Signifikationen
semantischer Objektbezüge anzutreffen sind, wie in der symbolischen
Sprache. Viertens können Bilder zwar plurisituationale Zeichen sein,
oft - eigens in Massenmedien - signifizieren sie aber unisituational,
weshalb dasselbe Bild in anderer Konstellation selten nochmals anderes bezeichnen
kann. Sprache bezeichnet mit relativer Signifikationskonstanz unterschiedliche
(Wahrnehmungs-)Situationen. Fünftens verlaufen Bildzeichen in keiner
restriktiven Codierung, die sich aus wechselseitig verbundenen Zeichen konstituiert
und vordefinierte Ausdruckskombinationen vorgibt. Außerhalb poetischer
Kunstformen geben Sprachcodierungen alltäglicherweise Einschränkungen
vor, die die Sprachgemeinschaft bei Mißachtung sanktioniert. Eine
ikonische Bildgemeinschaft ist in puncto Bildvariationen und -kombinationen
oft aufgeschlossen, doch existieren z.B. syntaktische Restriktionen für
bildlichen Realismus. Wenn Sprache dadurch zu ihrer Bestimmung gelangt,
daß sie über interpersonale Signifikationen (Symbole) verfügt,
die in einer Interpretengruppe zu halbwegs signifikanten Bedeutungen gelangt,
dann grenzen sich Bilder davon ab. Bilder stellen meist personalisierende
Signifikationen (Ikons) dar, die ohne sprachliche Unterstützung kaum
zu interpersonalen Bedeutungen gelangen. Sprache und Bilder haben formal
nur eins gemeinsam: beide basieren auf einer kulturellen Darstellungsregel
oder Syntaktik. Alle diese Behauptungen klären sich eingehender im
weiteren Verlauf.
Diese formalen Überlegungen lassen zumindest Unterschiede zwischen
Worten und Bildern in den jeweiligen Verwendungsweisen bemerken. Die per
Bild vermittelte Informationsmenge ist in kurzer Zeit nicht nur wesentlich
komplexer als die von Worten, sondern sie ist tatsächlich eine gänzlich
andere, worin sicherlich ein Impuls des Überlebens dieser unersetzbaren
Kommunikationsweise liegt. Im weiteren übermittelt die an Worte gebundene
Sprache Nachrichten, die vom Hier und Jetzt des sinnlich Gegebenen oft gelöst
und im operationalen Denken, d.h. in verallgemeinerter Struktur eines kognitiven
Plans, vergegenwärtigt werden. Die aus Bildern gewonnenen Informationen
werden indessen in ihrer Eigensinnlichkeit direkt vom Auge verfolgt, also
kraft des Wahrnehmungssystems vergegenwärtigt, gerade weil Bilder etwas
mitteilen, was vom sinnlich Gegebenen unablösbar ist. Um es auf den
Punkt zu bringen, der Unterschied ist folgender: bei Worten ist die geforderte
Fähigkeit mehr das operationale Denken; bei Bildern ist es mehr das
Wahrnehmungssystem. Unabhängig von interpretierten Bedeutungen ihrer
Bezeichnungen ermöglichen Bilder bereits ein sensuelles Erlebnis ihrer
Objektbezüge [hierzu Wersig 1986/57]. Sprache vermag ihren symbolischen
Objektbezug, ihr Signifikat nahezu nie sensuell erfaßbar vorzubringen.
Daher finden sich Bilder niemals vollständig im Gehege der Sprache
ein. Ihre ikonische Informations- "... Dichte ist das (von der
verbalen Sprache aus gesehen) Leerste am Bilde ..." [Boehm 1978/463].
Aufgrund der Leere ikonischer Fülle könnten diejenigen, die in
Spracherwartungen meinen, man sollte Bilder von linguistischen Sprachtürmen
aus zur »sprachlosen Sprache« paradoxieren, schon jetzt dorthin
mitkommen, wo Bilder sich in ihrer »sprachlosen Nichtsprache«
entparadoxieren.
Unwidersprochen folgen der Anschauung von Bildern häufig Gedanken,
die von einer verbalsymbolischen Sprachlichkeit inspiriert sind und die
sich in Wortkonzepten artikulieren. Das Sehen von Bildern bleibt somit nicht
gedankenlos; der Betrachter von Bildern, insbesondere von Gemälden,
gibt sich bei fixierten Ansichten der Suche nach Deutung oder Reflexion
hin, die beide nach Fellmann seitenzahl (29) die einzigen Möglichkeiten sein sollen,
dem Anblick des unbewegten Bildes standzuhalten. Aber auch diese sicherlich
oft zutreffende Behauptung täuscht nicht darüber hinweg, daß
das Sehen nicht allein aus seinen Prämissen im Denken erzeugt ist.
Merleau-Ponty verdeutlicht den Sprache werdenden Blick:
"Das Denken des Sehens vollzieht sich nach einem Programm und einem
Gesetz, das es sich nicht selbst gegeben hat, es ist nicht im Besitz seiner
eigenen Prämissen, es ist kein ganz gegenwärtiges, ganz aktuelles
Denken, es trägt das Geheimnis einer Passivität in sich. Die Situation
ist demnach folgende: Alles, was man über das Sehen sagt und denkt,
macht aus ihm ein Denken." [Merleau-Ponty 1967/28]
Ebenfalls stützt Ciompi diesen unbedachten Wahrnehmungsraum, indem
er Sprache und operationales Denken als ein S y m p t o m
des Bewußtseins in der kognitiven Entwicklung begreift. "Die
präverbale »Logik des Tuns« [und »die konkrete Aktion«]
geht ihrem Ausdruck in irgendeiner Zeichensprache lange voraus" [Ciompi
1992/142f.]. Die Unterscheidung zwischen Gegenstands- und Zeichenbedeutung
hatte gezeigt, daß sich an beiden Bedeutungskonstituierungen ein »Bewußtsein
von etwas« beteiligt [s.S. 58, 67]. Bedeutung von etwas ist jedesmalig
ein wirksames Bewußtseinsphänomen. Die Vollendung der Zeichentriade
- Ciompi nennt sie ähnlich wie Piaget Semiotik - seitenzahl (30) geht jedoch
über das ursprüngliche Bewußtseinserlebnis des wahrgenommenen
Gegenstandes hinaus. Denn die finale Semiotisierung von Gegenständen
kommt erst dann zur Geltung, wenn "... der Zusammenhang von [visueller]
Information über diachron in Raum und Zeit ablaufende Geschehnisse
(bzw. Aktionen und Erlebnisse) einen so hohen Grad an Kompaktheit erreicht
hat, daß sie in eine einzige »Vorstellung«, und damit
auch in ein knappes »Zeichen« komprimiert zu werden vermag"
[Ciompi 1992/157]. Deutlicher formuliert: vollständige Zeichen entstehen
als ein Symptom des Bewußtseins. Erst solche konzeptualisierten Zeichen
ermöglichen ein operationales Denken, Sprechen, Veranschaulichen und
Kommunizieren von etwas Abwesendem. Wenn man nicht meint, die Zeichen würden
der Erfahrung entsprechen, läßt sich hier Schütz [vgl. 1974/170]
dahingehend interpretieren, daß jede Zeichencodierung einen Rahmen
bietet, unsere Erfahrungen einzugliedern, also die Symptome des Bewußtseins
für verbal oder visuell kommunikative Zwecke zu ordnen.
Individuen konzeptualisieren Zeichen auch unabhängig von soziokulturellen
Verwendungsweisen. Dies untermauern beispielsweise Furths [vgl. 1972/41f.]
Beobachtungen von gehörlosen Kindern. Diese, so schreibt Furth, entwickeln
einen kognitiven Plan von individuell motivierten Zeichen, die interpersonal
verständlicher Sprache enthoben sind. Darum bindet sich das in Zeichen
operationalisierte Denken keinesfalls notwendig an die verbale Sprache einer
Kommunikationsgemeinschaft. "Intelligentes Denken ist nach innen gerichtet,
wenn es symbolisches Verhalten zur Folge hat, das durch subjektiv motivierte
Zustände gelenkt wird" [Furth 1972/230]. Zeichen, Furth nennt
sie Begriffe, verraten, daß der Mensch eine Vorstellung von einer
Bedeutung entwickelt hat. So kann der Mensch Vorstellungen von Bedeutungsebenen
besitzen, ohne daß diese Zeichen in der Spur einer kulturellen Sprachcodierung
laufen. Insbesondere ikonische Objektbezüge verweisen auf eine individuell
motivierte Bezeichnungsform, die zwar partiell einem symbolisch-begrifflichen
Schematismus folgt, die aber dennoch nicht der kulturell gesprochenen Sprache
vergleichbar ist [vgl. Piaget 1978/483, 502; Furth 1976]. Symbolisch-begrifflich
heißt hier lediglich, daß ein Individuum ein individuelles Bezeichnungskonzept
konstruiert hat, dem eine individuell motivierte und auch emotionale Bedeutung
beigeordnet ist, wie z.B. ein Porträt der geliebten Mutter. Ikonische
Objektbezüge folgen in einer Reihe von Merkmalen jenen individuell
motivierten Bezeichnungskonzepten mit interpretativ offenen und emotionalen
Bedeutungsbildungen; dazu jedoch später.
Auch in bezug auf die Wahrnehmung zeigt die beobachtbare Alltagserfahrung
von Kindern, daß sie ein ehemals visuell wahrgenommenes Objekt wiedererkennen,
also eine Gegenstands- oder Zeichenbedeutung erkennen, obwohl sie noch kaum
über Mittel verfügen, um symbolische Objekte kommunikativ zu artikulieren.
Dieser Vorgang liefert nach Neissers [vgl. 1974/178] Meinung den Beweis
dafür, daß visuelle Information unabhängig von Einflüssen
der verbalen Sprache gespeichert wird. Die kindliche Alltagserfahrung stützt
demnach die Annahme eines vorsprachlichen Bewußtseins und "nichtverbalen
Speichermediums". Sprache ist daher für visuelle Wahrnehmung keine
unausweichliche Voraussetzung. Vielmehr werden Strukturen der visuellen
Welt in antizipierten Schemata konstruiert, "... die den Wahrnehmenden
darauf vorbereiten, bestimmte Arten von Information eher anzunehmen als
andere, und die so das Sehen steuern" [Neisser 1979/26]. Zeichen und
kommunikative Konzepte der figurativen Darstellung von etwas folgen erst
einer erfolgreichen Gegenstandswahrnehmung.
Sofern Zeichen zumindest anfangs auf Wahrnehmungserfahrungen aufbauen, bestätigt
auch dies die grundsätzliche Differenz zwischen Zeichen- und Gegenstandsbedeutung.
Die menschliche Wahrnehmungserfahrung wäre verkannt, wenn man wie Faltin
[vgl. 1985/3f.] meinen würde, der Mensch könnte ohne Begriffe
und Zeichen keine erfahrenen Bedeutungen entwickeln oder bemerken. Trotz
dieser Behauptung räumt Faltin selbst eine Ausnahmestellung ein. Ähnlich
wie Sauerbier entdeckt er bei der Wahrnehmung von ästhetischen Zeichen/Gegenständen
eine schöpferische Bedeutungskonstituierung, die die Gegenstandserfahrung
erst durch einen schöpferischen Vorgang in eine Zeichenbedeutung überführt,
wie z.B. "... bei der Semiotisierung von Dingen oder Vorgängen
in Arte Povera, Fluxus-Events und -Objekten, Ereignissen und Objekten des
Nouveau Réalisme" [Sauerbier 1989/345; vgl. Faltin 1985/62].
Offenbar, sofern man sich entsprechende Theoretiker herbeizitiert, ist es
vom wahrnehmungspsychologischen, als auch vom kunsttheoretischen Standpunkt
her zutreffend, die Bildbetrachtung als eine aufzufassen, die tatsächlich
unabhängig von abstrahierendem Denken, Sprache und Zeichenbedeutung
temporär aktualisierbar sein kann. Dinge und Bilder ermöglichen
ihre optische Wirksamkeit zwar nicht unabhängig von individuellen Voraussetzungen,
aber sie ermöglichen Wahrnehmungen unabhängig von konzeptualisierten
Zeichen einer Kommunikationsgemeinschaft. Bilder lassen sich als ein Gegenstand
wahrnehmen, der zwar etwas zeigt, was er nicht selbst ist, der aber nicht
etwas zeigt, was ausschließlich kraft Sprache zu verstehen wäre.
Gegenstandserfahrung bzw. Wahrnehmung disponiert die Wirklichkeitsbedingung
von Bildern, in denen sich etwas vorsprachlich und zeigen kann [hierzu,
trotz knapper Begründung: Berghaus 1986]. Wie begründet sich diese
Schlußfolgerung?
Eine empirische Begründung eines vorsprachlichen Bilderkennens bieten
Maturana u. Varela [vgl. 1987/243ff.] mit dem Hinweis auf Patienten, deren
Epilepsie mit einer Durchtrennung des Balkens (Corpus callosum) zwischen
rechter und linker Hirnhälfte eingeschränkt wurde. Solchen Personen
ist es nach Maturana völlig unmöglich, mit der rechten Hemisphäre
gesprochene und geschriebene Sprache zu verstehen. Sie verstehen Sprache
ausschließlich in der linken Hemisphäre. seitenzahl (31) Unter einer speziellen
Versuchsanordnung, die nur die rechte Hemisphäre anspricht, wurde den
Patienten - ich nehme an, sie waren männlich - die bildliche
Darstellung einer nackten Frau vorgeführt. Infolge dieses Bildes erröteten
Versuchspersonen oder reagierten verlegen, ohne eine für den Beobachter
adäquate Erklärung ihrer Reaktion zu haben.
"So sagt sie [die Person] vielleicht nur (wie tatsächlich geschehen):
«He Doktor, da haben Sie aber einen schlimmen Apparat!» Hier
ist folgendes geschehen: Das erotische Bild wurde der rechten Hemisphäre
präsentiert, der Patient antwortet auf unsere Fragen aber über
die linke Hemisphäre, die als einzige Sprache erzeugen kann und die
das Bild nicht «gesehen» hat. Alles, was die linke Gehirnhälfte
tun kann, ist auf eine Weise zu antworten, die sich aus ihrer Verbindung
mit dem Rest des Nervensystems und des Körpers ergibt. Dort finden
die Aktivitäten von Erröten und Verlegenheit statt, die durch
die rechte Gehirnhälfte erzeugt wurden." [Maturana u. Varela 1987/247]
In diesem Beispiel ist es jenem Menschen erstens möglich, auch unabhängig
von sprachlichen Formulierungen auf ikonisch Gezeigtes zu reagieren. Und
zweitens bekräftigt jenes Experiment, daß abstrahierendes Denken
ohne verbale Sprache von einem Individuum als Bedeutung realisierbar ist,
denn das Bild konnte im ikonischen Objektbezug emotional interpretiert,
also gefühlsmäßig gedeutet werden [vgl. Maturana 1972/30;
Pöppel 1985/157]. Eine Besonderheit bleibt: das Bild war ein Zeichen,
obwohl es nicht als Zeichen interpretiert wurde, sondern als ein Gegenstand
(schlimmer Apparat). Den Unterschied zwischen Zeichen und Gegenstand übersah
jener getäuschte Betrachter. Er hatte das Bild nicht als Zeichen für
etwas anderes betrachtet, sondern direkt auf das in der Wahrnehmung Interpretierte
reagiert. In diesem Sinne ist Wahrnehmung bereits selbst die erste Stufe
der Interpretation eines Bildgegenstandes. Visuelles Wahrnehmen und visuelles
Erkennen sind ein und dieselbe Handlung [hierzu Zeki 1992/63]. Ohne adäquate
Wahrnehmung oder sinnliche Erkenntnis der optischen Struktur hätte
der betreffende Betrachter nicht mit Verlegenheit reagieren können.
Ähnliches wie in dem angeführten Beispiel von Maturana kann genauso
jedem anderen passieren, falls er ein Bild nicht als Zeichen versteht, sondern
infolge einer Augentäuschung das Bild mit der möglichen Wirklichkeit
verwechselt. Solange, wie jemand auf solch ein Trompe-l’œil hereinfällt,
hat er das Bild nicht als Zeichen verstanden, gleichwohl er es als Gegenstand
direkt wahrgenommen hat, wenn auch nur als virtuellen Gegenstand, den der
ikonische Objektbezug des Zeichens simulierte. Um dennoch dem modischen
Simulationsgedanken seitenzahl (32) vorzubeugen, versteht gewiß trotz allem jeder
Bilder spätestens dann als Zeichen, sobald er aufsteht und seine Wirklichkeit
verändert oder die Frau (den Apparat) in dem Beispiel von Maturana
zu küssen versucht. Selbst in einem Panoramabild oder Film finden wir
uns mit einem Realitätsprinzip ein, das uns zumindest erinnern läßt,
daß vertraute Kommunikationsmedien, die uns mögliche Wirklichkeiten
simulieren, vollkommen Ungefährliches für Leib und Leben darstellen.
Echte Simulation simuliert keine zeichenhafte Realität [Drittheit],
sie simuliert Wirklichkeit [Zweitheit]. Deshalb muß man schmunzeln,
wenn Bolz [vgl. 1993/149, 105] meint, die alte, bildliche Gegenständlichkeit
kann der neuen virtuellen Realität nur störend dazwischenfunken,
weil deren phantasierte Bilder nicht mehr Wirkliches (Reales) repräsentieren
wollen. Doch befreien sich auch virtuelle Realitätsdarstellungen nicht
schon dann von ihrer zeichenmöglichen Lüge, wenn sie Wirkliches
(Reales) in desillusionierter Täuschung der Zeichen lügen, sie
bleiben darstellende Zeichen. Virtuelle, simulierte oder bildliche Realitätsdarstellungen
sind allesamt Zeichen, die praktische oder unpraktische Karten für
(soziale) Orientierung liefern. Das alltägliche, wissenschaftliche
und pragmatische Realitätsprinzip, dem apodiktische »Wahrheit«
über Reales fehlt, läßt sich von virtuellen Realitäten
kaum plausibel in seiner semiotischen Konstruktion unterscheiden, obwohl
das letztere Orientierungsinteresse, das unsere Weltkonstruktion vermeintlich
zu verlassen meint, vermutlich irritierendere Karten für die Koordinierung
in einer irdischen Wirklichkeit bietet. Mit der Erörterung von Entpragmatisierung
komme ich darauf zurück [s.S. 225].
Zum Realitätsverlust führen virtuelle Realitäten nur in Ausnahmesituationen.
Einen solchen Verlust erfährt ein Individuum dann, wenn diesem erstens
Wirklichkeiten mit deren Bezeichnungen permanent zusammenrücken, und
ihm zweitens die Erinnerung an Wirklichkeiten ehemalig erfahrener Gegenstände
verlorengeht. Zumindest den ersten, also unvollständigen Fall, erträumen
sich manche für die Zukunft. Wenn es irgendwann möglich sein sollte,
virtuelle Realitäten im Cyberspace so perfekt zu simulieren, daß
absolut kein Unterschied zwischen alltäglich wahrnehmbarer und virtueller
Umwelt bemerkbar wäre, dann würde diese simulierte Umwelt auf
keinen Fall ein Bild von einer Wirklichkeit vorführen, sondern sie
würde den Beobachter in eine fiktive Wirklichkeit entführen. Die
unsachgemäße Anwendung von Cyberspace wäre dann imstande,
einer technischen "Droge" gleichzukommen, die wie LSD oder Heroin
einem Individuum als sogenannte »Cybernauten« eine Realitätsbewältigung
fiktiv vorgaukelt bzw. überhaupt erst ermöglicht. In diesem Zusammenhang
ist es schon ein wenig auffällig, wenn eine Gesellschaft die vom Individuum
täglich wahrzunehmende Zeichendosis deshalb erhöht, weil mit den
beständig weiterentwickelten Zeichen- bzw. Bildcodierungen die Wirklichkeit
besser zu bewältigen sein soll, obwohl sich gerade infolge steigender
Dosis die gesellschaftlichen Überlebensrisiken mit gleicher Wucht steigern.
So denkt der journalistische "Cyber-Punk" Howard Rheingold, daß
bei einer Bevölkerung von 10 Milliarden Menschen virtueller Techno-Sex
"... vielleicht kein schlechter Ort [ist], um dem größten
Teil der Bevölkerung den größten Teil der Zeit über
relatives Glück zu ermöglichen" [Rheingold 1992/539]. Ein
solch körperloser Mensch, der sein intimes Glück in die Platinen
computerisierter Schaltmomente einschreiben darf, wird sowohl um eine soziale
Realität gebracht als auch um die Erfahrung einer mit seinem Gegenüber
teilbaren Wirklichkeit. Zweifellos erkennen wir mit unserem Körper
auch nur eine unter anderen Wirklichkeiten, aber der Vorteil dieser interpersonal
verwandt bleibenden Wirklichkeitskonstruktion ist, daß sie zwischenmenschliche
Kommunikation zu tragen vermag. Und dennoch verdeutlicht die Idee der Cyberspace-Technik
eine Tendenz heutiger naturwissenschaftlicher Forschung. Denn als verstanden
will all das gelten, wie z.B. in der Gentechnik, Medizin oder Chemie, was
in synthetischen Wirklichkeiten hergestellt werden kann. Es bleibt selbstverständlich
mehr als fraglich, ob wir Wirklichkeiten von uns selbst und Gegenständen
verstanden haben, wenn wir sie im Cyberspace simulieren können.
Auch wenn es für Gesellschaften unmöglich wäre, so würden
doch Individuen in einer absolut seitenzahl (33) perfekt simulierten Umwelt Zeichen nicht
mehr als Zeichen wahrnehmen, sondern als Gegenstände einer ganz anderen
Umwelt erfahren und bewältigen. Mit einem Satz von Mihai Nadin: "Wenn
alles Zeichen ist, dann ist nichts mehr Zeichen." seitenzahl (34) Demnach läßt
sich keiner von virtueller Umwelt täuschen, solange sie weiterhin als
bildliches Zeichen verstanden oder erinnert werden kann, da es Zeichen inhärent
ist, daß sie Wirklichkeiten überschreiten. Perfekt simulierte
Virtualität kann kein Bild sein, unperfekte indessen schon. Jedes bildliche
Zeichen erinnert daran, daß es ein Bild von »etwas« und
nicht dieses »Etwas« selbst ist. Allein infolge dieser Unterscheidung,
die ein unterrichteter Betrachter macht, ermöglicht ihm das Bild Verhaltensweisen,
die ihn in der Alltagswirklichkeit oder in perfekt simulierter Virtualität
in die Bredouille führen würden. Beispielsweise erwecken pornographische
Fotografien bei ihrem Betrachter gerade deshalb ungeniert sexuelle Bedürfnisse,
weil das zeichenhaft dargestellte Lustobjekt keine auf den Betrachter bezogene
Interaktionsdynamik entwickelt, wie es sich nämlich in Wirklichkeit
und auch in virtueller Wirklichkeit ereignen würde [hierzu Buddemeier
1981/152f.]. Gerade aufgrund dieser gewollten Abwehr von tatsächlicher
Nähe, vor der der "Bildschirm" schützt, ist es unglaubwürdig,
daß perfekt simulierte Wirklichkeiten (z.B. Flugsimulationen) eine
ähnliche Wirkung wie Bilder erlangen. Denn körperlich erfahrene
Wirklichkeit, sei sie tatsächlich oder simuliert wirksam, wird weder
als Zeichen noch als Bild erfahren, solange sie als die einzig erfahrene
Tatsächlichkeit wahrgenommen wird. Daher sind perfekte Simulationen,
die ihren Zeichencharakter restlos verbergen, völlig ungeeignet für
visuelle Kommunikation. Die virtuelle Verdoppelung der Wirklichkeit enthält
sich jeglichen kommunikativen Werts. Sie teilt Wirklichkeiten unreduziert
mit. Allerdings besteht die Wahrscheinlichkeit, daß virtuelle Wirklichkeiten
als ein Aktionsraum verstanden werden, wo jemand mit dem Wissen einsteigt,
daß jetzt die Verletzung kultureller Werte und Normen unsanktioniert
ermöglicht ist, wie z.B. in Kriegssituationen, in denen sich an Frauen
ohne moralische Gewissenshürden vergangen wird. Optische Computerspiele
deuten darauf hin, daß unterdrückte Angst, verdrängte Sexualität
und Autoritätsfurcht am leichtesten in Ausnahmezuständen und Phantasieräumen
Entlastung finden.
Sofern man sich selten von einem Trompe-l’œil und perfekt simulierten
Virtualitäten täuschen läßt, könnte man meinen,
daß Bilder immer wie Zeichen erfahren werden. Diese Auffassung läßt
sich aber nur solange aufrecht erhalten, wie man verleugnet, daß Bilder
ausnahmslos mittels Gegenständen vorkommen oder zumindest Gegenstandscharakter
haben. Wenn das Bild selbst »etwas« ist, dann ist es dies als
dinglicher Gegenstand im Raum. Bilder, die nicht auf irgendeine Art und
Weise materiell vorlägen, wären nicht sichtbar, weil visuelle
Reizungen mit Lichtenergie keine Wahrnehmung verwirklicht. Ausschließlich
Licht, das "ungeformt" ist, ist kein Wahrnehmungsmedium; erst
die vom unsichtbaren Medium Licht erleuchtete, materielle Form ist sichtbar
[vgl. Gibson 1982/56f.]. Insofern erzielen auch vom Laserlicht erzeugte
Luftbilder aufgrund der Schwebeteilchen Sichtbarkeit. Deshalb gehe ich davon
aus, daß Bilder selbst konkrete Gegenstände sind. In diesem gegenständlichen
Sinne sind Träume, gedankliche Vorstellungen, Einbildungen, Halluzinationen,
Hirngespinste und die Sternchen, die die Faust aufs Auge flimmern läßt,
keine Bilder, sondern Metaphern für bildhafte Bewußtseinskonstruktionen,
an denen niemand aufgrund ihrer externen Immaterialität visuell kommunikativ
Anteil nehmen kann. Und ebenfalls sind bildhafte Übertragungen symbolisch
gemeinter Ähnlichkeiten, also sprachliche Metaphern keine Bilder, weil
ihr symbolischer Objektbezug für optische Erfahrungsweisen und damit
für visuelle Kommunikation unsichtbar ist.
Wenn Bilder keine wahrnehmbaren Gegenstände wären, lösten
sich die Diskussion über Bildwahrnehmung in nichts bzw. in sprachliche
Zeichen auf. Im körperlichen Umweltkontakt kommt das zeichentragende
Bild als ein Gegenstand vor, der in der Wahrnehmung erfahren wird, ganz
egal ob die veranschaulichten Objekte - z.B. Einhörner oder Atome -
existieren oder nicht. Das Bild ist tatsächlich immer direkt wahrgenommene
Wirklichkeit. Wenn ich ein rotes Bild sehe, reagiere ich nicht, weil Rot
in der referierten Wirklichkeit erfahrbar sein könnte, sondern weil
das Rot des Bildes als solches für mich in der Wahrnehmung als Rot
existiert und wirksam ist. Das Rot des Bildes bezeichnet nicht nur Rotes,
sondern ist in seiner Röte präsent. Hinsichtlich dieser Ursache
des Rötlichen ist es nicht einerlei, ob ich sich gleichende ikonische
Zeichen im Medium des Fernsehens, der Kinematographie, der Fotografie, der
Holographie oder der Ölfarbe sehe. Die Wahrnehmungserfahrung von Bildgegenständen
kann deshalb nicht sinnlos sein. Sinnlosigkeit erreicht schlimmstenfalls
das, was vor oder nach der Erfahrung gedacht wird; "Sinnlosigkeit ist
[deshalb] ein Spezialphänomen ... der Zeichen und besteht in der Verwirrung
von Zeichen" [Luhmann 1987/96]. Erfahrungen werden erst dann sinnlos,
wenn nichts wahrgenommen wird, und selbst das wird fraglich, wenn jemand
Meditation betreibt. Erfahrung erreicht somit selbst einen Sinn, der sich
nicht in gedachten Vorstellungen oder in der Codierung schön/häßlich
erfüllt. Die offene Wahrnehmung beinhaltet selbst keine intentional
wertende Entscheidungsinstanz, sie nimmt keine Sinnlosigkeit wahr und konstruiert
kontinuierlich unnegierte Wirklichkeit. Welchen Sinn Wahrnehmung konstruiert,
wird sich klären.
Wenn Bildgegenstände eine direkte Wahrnehmungserfahrung verursachen,
was ist dann mit dem, was die Zeichen zum Ausdruck bringen? Werden Zeichen
mit Gegenständen verwechselt, so zeigte das Trompe-l’œil,
sind Bilder als Zeichen unverstanden. Wie Josef Simon bemerkt, machen wir
den Unterschied zwischen Gegenstand und Zeichen, insofern wir etwas nicht
"unmittelbar" verstehen [vgl. Simon 1989/76]. Was wir an einem
Bild nicht "unmittelbar" oder besser direkt verstehen können,
sind die Zeichen; denn die Zeichen sind Mittel, die vermitteln, was verstanden
werden soll. Anhand von Zeichen vermitteln Bilder - ein wenig allgemeiner
formuliert -, wie etwas repräsentiert oder bezeichnet wird, was
ein Mensch wahrgenommen, sich vorgestellt, erfahren oder erdacht hat. Oft
verstehen wir die ikonischen Zeichen auf Bildern scheinbar unvermittelt;
selten heißt dies aber, wir hätten den zeichenhaften Charakter
von Bildern vergessen und würden nunmehr denken, sie wären mit
der Wirklichkeit identisch. Das scheinbar unvermittelte Verstehen von Fotografien,
in denen wir beispielsweise sofort den Stuhl in einem Stuhlbild erkennen,
rührt aus dem Umstand, daß die visuelle Information ohne Irritationen
in der optischen Struktur des Bildes wahrgenommen, ohne nach-zudenken erfahren
und auch verstanden wurde. Die Frage, wie oder als was diese "realistische"
Fotografie verstanden werden soll, ist schon lange beantwortet. Die Interpretationsregeln
für solche Fotografien laufen so sehr gewohnheitsmäßig ab,
daß sie überaus selten bedacht werden. Deshalb interpretiert
sich der Bilderfluß eines Kinofilms so leicht per Wahrnehmung. Es
ist daher scheinbar möglich, bildliche Zeichen unvermittelt zu verstehen,
ohne sie als Zeichen ständig zu überdenken. In der Bildbetrachtungssituation
sind deshalb zwei Konstruktionen seitenzahl (35) vorhanden: erstens ermöglicht der
Bildgegenstand eine Wahrnehmungserfahrung, die im Bewußtsein der Gegenstandsbedeutung
aktualisiert wird; direkte Wahrnehmung ist hier eine »Konstruktion
der Wirklichkeit«. Und zweitens führen die Zeichen zu einer Vorstellung,
die im Bewußtsein interpretierter Zeichen verwirklicht wird; Vorstellungen,
Zeicheninterpretationen sind eine »Wirklichkeit der Konstruktion«
zeichenhafter Realität [hierzu Karger 1991/71]. In der ersten Konstruktion
erfahren wir den Bildgegenstand in direkter Wahrnehmung, und in der zweiten
Konstruktion verwirklichen wir Zeichen und Interpretationen über ihn,
indem uns das Zeichen zu einer Vorstellung bewegt, die z.B. durch eine wahrgenommene
Emotion, einen Begriff oder Satz interpretiert wurde. Wir sagen ja auch,
die Realität, die das Bild repräsentiert, gefällt mir, oder
die direkte Wirklichkeit (Wirkung) des Bildes selbst gefällt mir.
Man sollte trotz allem nicht glauben, Bilder seien wie eine Wirklichkeit
aufgebaut und wären keine Zeichen. Zeichen sind immer mehr als ihre
bare Materialität. Bilder sind Zeichenmittel, die als Quali- Sin- oder
Legizeichen den Aufbau der Bildoberfläche bestimmen und - insofern
sie wahrgenommen wurden - einen Objekt- und Interpretantenbezug vorantreiben.
Worum es mir geht, findet sich in der Bemerkung Gibsons wieder: "Das
Bild verlangt zwei Arten von Auffassung: eine direkte (unmittelbare) Wahrnehmung
der Bildoberfläche [Zeichenmittel] und zugleich eine mittelbare Wahrnehmung
von dem, was das Bild darstellt [Objekt- und Interpretantenbezug]"
[Gibson 1982/313]. Gibsons Formulierung unterstreicht nochmals die Unterscheidung
zwischen mitgeteilter Realitätsvorstellung, die auf optischen Repräsentationen
(Bezeichnungen) aufbaut, und gegenständlicher Wirklichkeit, die direkt
wahrnehmbare, weil selbst materielle, bildliche Zeichenmittel präsentiert.
Eine Komplikation bleibt bestehen: auch wenn die visuelle Wahrnehmung nicht
notwendig an Zeichenbedeutung und sprachliches Denken gebunden ist, so ist
zumindest die Gegenstandsbedeutung im Handeln und Verhalten an visueller
Wahrnehmung beteiligt. Wir können Bilder nämlich nur sehen, wenn
wir wenigstens auf den Gegenstand aufmerksam werden. Aufmerksamkeit und
visuelle Informationsgewinnung, die das vorkommunikative Bewußtsein
erlangt, ist nie unabhängig von Bedeutung ausgerichtet [s.S. 67].
Allerdings bleibt bei der visuellen Wahrnehmung zu bemerken, daß nicht
nur Bedeutungen mit den Augen seitenzahl (36) verfolgt werden, sondern ebenso Farben, Umrisse,
Kanten und Formen. Die optische Form! seitenzahl (37) fällt nicht mit der Bedeutung
in eins. "Die Form hat keinen eigenständigen Wert. Sie ist in
der Regel nur wichtig als Merkmal für die Erkenntnis des Gegenstandes
in seiner Bedeutung ..." [Rubinstein 1959/317]. Wahrnehmung bindet
sich an das Für-wahr-halten von Formmerkmalen eines Gegenstandes. Wie
jedoch die Wahrnehmung Qualitäten von Formen zu Tatsachen strukturiert,
läßt die Bedeutung offen. Mit Bedeutung ist erkannt, aber nicht
beschrieben, wie ein Gegenstand im genauen aussieht bzw. welche exakte Form
und Farbe er hat. Denn Wahrnehmung von Formqualitäten gehört zu
einem Bereich der kognitiven Beschreibung, den ein Beobachter in seiner
menschlichen Struktur konfiguriert [vgl. Maturana u. Varela 1987/31]. Vor
diesem Hintergrund der menschlichen Wahrnehmung von Farben und Formen und
der materiellen Umsetzung von sichtbaren Zeichenbeschreibungen muß
davon ausgegangen werden, daß ein Wahrnehmender Perzeptionsmodelle
für Formmerkmale seiner Bildkultur lernend strukturiert. Wäre
dies unmöglich, so würde es uns beispielsweise schwerfallen, einen
Kinofilm oder Dreidimensionalität durch eine stereoskopische Linsenbrille
visuell zu erkennen.
Ich hoffe, daß sich bisher verdeutlichte, wann Bilder als Zeichen
oder Gegenstand interpretiert werden und wie sich ihre Gegenstandshaftigkeit
und Zeichenhaftigkeit von Sprache und Schrift unterscheidet. Im übernächsten
Kapitel 2.3. (Wie entsteht visuelle Wahrnehmung?) werde ich den Boden für
eine Begründung vorbereiten, die später klärt, wie es zu
einer kulturgeprägten Perzeptionen oder zu visuellen Interpretationsmodellen
von Formen kommt. Wenn dies gelungen ist, dann läßt sich auch
ein vorkommunikatives Bewußtsein in der Bildwahrnehmung und -produktion
begründen, welches nicht in den (kommunikativen) Bedeutungen einer
Kultur aufgeht, sondern auf einen ikonischen Darstellungscode von Bildformen
und -merkmalen anspricht. Ein solch ikonischer Darstellungscode ist in seinen
Formmerkmalen einer Sprache vollständig unvergleichlich, weil er, wie
mehrfach gesagt wurde, im ikonischen Objektbezug visuell kommunikative Informationen
freigibt, die sogar vorkommunikativ wie Gegenstände wahrgenommen werden
können.
Wäre ein ikonischer Darstellungscode in Kulturen vorhanden, dann müßte
er der Anforderung genügen, daß seine Zeichenmittel (Quali-,
Sin-, Legizeichen) in ihrer optischen Struktur so geordnet sind, daß
ein Betrachter in einer bestimmten Kultur diese Codierung als ein Merkmal
bezeichnender Formen eines visuell kommunikativen Ikons wahrnimmt. Dieses
Ikon zeichnet sich dadurch aus, daß der Betrachter im bildlichen Zeichen
eine "graduelle Ähnlichkeit" seitenzahl (38) zum Gegenstand wiedererkennt,
oder zumindest, wenn das Objekt inexistent ist, daß der Betrachter
wiedererkennt, welches fiktive Objekt optisch bezeichnet wird. Ich denke,
es ist ausreichend begründet worden, daß solche Objektbezüge
auch ohne Sprache wiedererkannt werden. Um vor der weiteren Begründung
eines ikonischen Darstellungscodes ein Beispiel zu nennen, sei hier auf
Fotografien verwiesen, die sich dadurch auszeichnen, daß sie häufig
für realistische Veranschaulichungen eines Objekts gehalten werden.
Dies liegt daran, daß wir es in unserer Kultur erlernt haben, Perzeptionsschemata seitenzahl (39)
für die Zeichenmittel in Fotografien auszubilden. Aufgrund dieser Perzeptionsschemata
fällt es uns in der Regel sehr leicht, den ikonischen Objektbezug der
Zeichen auf Fotografien zu erkennen. Dies ist in anderen Kulturen, wo Fotografien
unbekannt sind, nicht immer gegeben. "Im Extremfall sehen solche Neulinge
nur einfach ein flaches Ding ..." [Arnheim 1972/ 291]. Mir geht
es daher um die Begründung, warum wir es zum Teil von den Bildern selbst
gelernt haben, Bilder zu sehen. In Untersuchungen zur Sprache wundert sich
heutzutage fast niemand mehr, daß wir es auch - d.h. nicht nur -
von der Sprache selbst gelernt haben, deren symbolische Kartographien sowohl
akustisch als auch inhaltlich zu verstehen und nachzusprechen. Warum sollten
kulturelle Bildformen nicht Bildformen erst ermöglichen?
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a) Semiotischer Exkurs zur Wahrnehmung
von Zeichen |
Inhaltsverzeichnis Anfang |
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Die bisherigen Ausführungen semiotisch gewendet, deuten darauf hin,
daß unwahrscheinliche Bildzeichen eine Wahrnehmung erfordern, die
der Wahrnehmung natürlicher, dreidimensionaler oder wahrscheinlicher
Gegenstände nur in Ausnahmefällen gleicht. Die Wahrnehmung der
Zentralperspektive folgt beispielsweise einer Codierung, die in der Natur
unwahrscheinlich ist. Daher weisen künstlich hergestellte Zeichen eine
optische Struktur auf, die im Fall von Bildern kulturspezifischen Quali-
Sin- und Legizeichen folgt. Will ein Betrachter diese unwahrscheinlichen
Bildzeichen visuell decodieren, dann muß er sie visuell komprimieren,
um sie zu erkennen; er muß sie mit den Augen "durchschauen",
um ihren ikonischen Objektbezug zu erkennen.
Die pointillistische Malweise bietet ein Beispiel für den gemeinten
Vorgang. Sie führt vor, wie ungemischte Farbpunkte nur in der visuellen
Konstruktion des Betrachters zum gewünschten Hauptton, zur Form, und
somit zum gewünschten Zeichen verschmelzen bzw. komprimiert werden.
Semiotisch interpretiert heißt dies, die Farbpunkte, also die Qualizeichen,
werden vom Auge im Zusammenhang mit der kognitiven Funktion des Gehirns
als Farbe und Form konstruiert. Das Qualizeichen muß in der Wahrnehmung
als (Sin-)Zeichen erkannt werden, bevor es als ikonische Repräsentation
eines Stuhlbildes im Interpretantenbezug bestimmt wird. Demnach läuft
die Zeichenbildung bei der Wahrnehmung genau nach der Stufenfolge ab, die
mit den semiotischen Kategorien (Erst- Zweit- Drittheit) von Peirce aufgezeigt
wurden. Wenn dies zutrifft, dann müßte beispielsweise ein Ikon
[Zweitheit] die Repräsentation eines vorab kognitiv interpretierten
Inhalts im Qualizeichen [Erstheit] sein, weil ein Betrachter nur die präsenten
Farben und Formen (Quali- Sin- Legizeichen) sieht, die in der Möglichkeit
seiner visuellen Kognition liegen. Der ikonische Objektbezug des Bildes
kann daher vom Betrachter erst erkannt werden, wenn er Sinnesdaten als Farbe
und Form differenziert hat. Das Qualizeichen muß erst zum Zeichen
gemacht werden, wie Gerhard Schönrich [vgl. 1990/144] bemerkt. Das
heißt, ein Qualizeichen hat tatsächlich immer an sich eine Qualität,
die seine potentielle Sichtbarkeit "garantiert", obwohl das Qualizeichen
selbst ein Zeichen für Qualitäten in der materiellen Umwelt ist.
Beispielsweise repräsentiert das Qualizeichen »Gelb« im
Bild das Gelb eines gelben Regenschirms. Dennoch ist das bildliche Qualizeichen
Gelb selbst als eine materielle Qualität in der gelben Farbe präsent,
die vom Betrachter wahrgenommen werden muß, damit er es wirklich sieht.
Ein solches Qualizeichen wird jedoch erst dann wahrgenommen, wenn der Betrachter
über die kognitive Möglichkeit einer Zeichenwahrnehmung verfügt.
Es muß aber nicht nur das Qualizeichen als bildliches Zeichen, sondern
jedes optische Quali- Sin- Legizeichen in seinem Mittelbezug per Wahrnehmung
interpretiert werden. Erst Wahrnehmung [Zweitheit] und nicht die sinnliche
Empfindung reicht für die Feststellung eines Gegenstandes aus. Idealisiert
man unser konstruiertes Wissen über Licht, dann ermöglicht ein
Bild in identischen Situationen, vorausgesetzt alle Augäpfel wären
gleich, vermutlich allen Menschen annährend ähnliche Reizungen
(Empfindungen), in denen Informationen wahrgenommen oder nicht wahrgenommen
werden können. Ein Legizeichen, wie beispielsweise die künstliche
Perspektive, wird daher erst dann ad hoc wahrgenommen, wenn dies in der
erlernten Möglichkeit der visuellen Kognition eines Individuums liegt;
das Individuum muß die optische Zeichenstruktur im visuellen Vor-Bewußtsein
schon erlernt haben. Daß dieses Legizeichen ein Zeichen ist, kennzeichnet
dann lediglich die visuelle Gewohnheit, die sich von der faktischen Gegebenheit
des Zeichens abgelöst hat, indem in informationellen Formmerkmalen
sofort ikonische Objekte wahrgenommen werden.
----Fußnoten----
(29)
Fellmann [vgl. 1989/111] behauptet, daß die Reflexion bei der Betrachtung
von fixierten Bildern in einer Notwendigkeit erfolgt. Diesem vermeintlichen
Zwang widersprechen zumindest indische Meditationsbilder, die, korrekt verwendet,
gerade nicht zur Reflexion führen sollen. Ebenfalls erläuterte
Walter Benjamin [vgl. 1963/38] die Erfahrung einer kontemplativen Bildbetrachtung
ohne Reflexion. Als einen Augenblick der ästhetischen Kontemplation
beschreibt Seel recht treffend die rücksichtslose "... Aufmerksamkeit
für etwas, das durch die Art seiner Wahrnehmung aus jeder denkbaren
praktischen und intellektuellen Kontinuität herausgerissen wird"
[Seel 1993/36].
(30)
Im Peirceschen Sinne wäre dies eine unrichtige Verwendung des Begriffs
"Semiotik", weil Peirce Empfindung und Aktion/Reaktion als Semiose
beschreibt [s.S. 42].
(31)
Die Zuordnung von Sprach- und Bildverstehen zwischen linker und rechter
Hirnhälfte ist vermutlich zu grob. Sprache und Anschauung können
hirnphysiologisch auch in anderer Verteilung organisiert sein. Trotzdem
geht die Hirnforschung bisher davon aus, daß Bilder und Sprache in
unterschiedlichen Modi bzw. Zentren verarbeitet werden, worauf es mir in
jenem Beispiel ankommt.
(32)
So neu ist der Simulationsgedanke nicht. Selbst Michelangelo versuchte in
der sixtinischen Kapelle schon um 1510, die Architektur an der Decke zu
simulieren. Ein noch stärker beeindruckenden Simulationsversuch der
Aufhebung zwischen Zeichen und Raumarchitektur zeigt das um 1685 gemalte
Deckenfresko von Andrea Pozzo in der römischen "Sant'Ignazio di
Loyola" Kirche.
(33)
Die heutige Cyberspacs?etechnik scheint noch weit davon entfernt zu sein,
Druck, Wärme, Gerüche, Geschmack, also alle sensorischen Felder
des gesamten Körpers wirklichkeitsgetreu zu stimulieren [vgl. Waffender
1991].
(34)
Mündlich auf dem Symposium "Interface II" am 7.3.93 in Hamburg
auf die Frage, wo der Unterschied zwischen Erfahrung und Zeichen liegt.
(35)
Auch Sartre [vgl. 1971/68-71] beschreibt diese Möglichkeit der direkten
Wahrnehmung, in der Trennung von Vorstellungs- und Wahrnehmungsbewußtsein.
Für den Augenblick des Trompe-l’œil begründet Sartre
ein Wahrnehmungsbewußtsein, bei dem sich ein Betrachter einer solchen
Wahrnehmung bewußt wird, wie sie auch bei der Wahrnehmung eines realen
Menschen entstehen würde. Im Wahrnehmungsbewußtsein spricht das
Bild den Betrachter direkt an. Sobald das Bild aber als Zeichen erkannt
ist, spricht Sartre von einem Vorstellungsbewußtsein, in dem das Gemälde
aufhört, Objekt zu sein, da es dann als Materie eines "image"
[("Eben-", "Spiegel-") Bilds, Vorstellung] fungiert.
Ich denke, daß Sartres Begriffe von Wahrnehmungs- und Vorstellungsbewußtsein
große Ähnlichkeit zu der von mir verwendeten Unterscheidung zwischen
dem Bewußtsein der Gegenstands- und Zeichenbedeutung haben, obwohl
ich das Wahrnehmungsbewußtsein hauptsächlich dem Gegenstand Bild
zurechne und nicht der Augentäuschung.
(36)
Etymologisch bezeichnet »Sehen« "mit den Augen verfolgen"
[Duden Etymologie 1989 Mannheim].
(37)
Ich möchte bei den Begriffen der Form und Farbe bleiben, da ich denke,
daß sie leics?hter zu kommunizieren sind. Obwohl Gibson zutreffenderweise
eindringlich darauf insistiert, daß wir keine Punkt-zu-Punkt-Korrespondenz
der Form auf unserer Netzhaut empfangen, also kein Abbild. "Die Information,
die in der optischen Anordnung von einem Bild zum Beobachtungsort kommt,
besteht aus Invarianten, nicht aus Formen oder Farben" [Gibson 1982/313].
Demnach sehen wir Invarianten [s.S. 93], die wir als Formen und Farben
bezeichnen, was im weiteren bedacht werden sollte.
(38)
Der Begriff der Ähnlichkeit wird noch problematisiert [s.S. 316,
Kap. 2.11. "Wie wirkt ... Ähnlichkeit?]. Vorausgeschickt sei,
daß Ähnlichkeit zwischen Bild und referiertem Gegenstand für
visuelle Kommunikation völlig unnötig ist. Außerdem ähneln
Bilder nie vollständig einem referierten Gegenstand, sonst wären
sie keine Bilder mehr. Bilder ähneln ihrem kulturellen Code [vgl. Schönrich
1990/138; Scholz 1991/43ff.].
(39)
Der Begriff "Schemata" folgt der Theorie Neissers [vgl. 1979/48ff.]
und wird noch näher erläutert [s.S. 93].
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